Die Insel Mellonta

Lazar von Hellenbach

Mit “Der Insel Mellonta” legt Dieter von Reeken eine von Dr. Ulrich Bach kommentierte Neuausgabe der 1883 veröffentlichten Utopie des österreichischen Schriftstellers und Politikers Lazar Freiherr von Hellenbach vor. Von Hellenbach galt als einer der einflussreicheren philosophisch sozialkritischen Schriftsteller Österreichs des 19. Jahrhunderts, der seine in erster Linie dem frühen sozialistisch kommunistischen Gedankengut zugehörigen Thesen auch als Abgeordneter des kroatischen Landtags vertreten hat. Im Gegensatz zu den späteren Exzessen der kommunistischen Partei trat er für einen veredelten, aber auch realitätsfernen Sozialismus mit einem Kollektiveigentum ein, das der Staat direkt oder indirekt wieder an seine Bürger zurückgeben sollte.
In der vorliegenden Utopie nutzt von Hellenbach als Rahmen aber eine deutlich ältere Erzählform. Er greift vordergründig und in den letzten Kapiteln eher in spiritueller Hinsicht relativierend nicht nur die Idee der Robinsonade mit einem an die Ufer einer fernen Insel gespülten Mannes auf, sondern folgt Jonathan Swift und seinen phantastischen Reisen in ein sozialpolitisches Ideal. Mit dem gestrandeten Seemann verfügt der Autor über einen idealen aussenstehenden Beobachter, der allerdings durch das “Vermächtniss einer entschwundenen Generation” schon im zweiten Kapitel dieser erweiterten und teilweise vom Autoren überarbeiteten Neuausgabe aus dieser Rolle wieder herausgerissen wird. Die letzten drei Gründerväter dieser Kolonie legen mittels zweier Schriftstücke das zukünftige Schicksal der Insel Mellonta und ihrer Bevölkerung in die Hände des Fremden. Vorher weihen sie ihn ein, dass vor mehr als einhundert Jahren aufgrund der innerpolitischen Unruhen fünfzig eher vermögende bis adlige Franzosen ihre Heimat verlassen und ein neues Zuhause gesucht haben. In den Tiefen des Stillen Ozeans haben sie sich auf dieser abgeschiedenen, aber idyllischen Insel niedergelassen und eine gleichberechtigte Gesellschaft ohne Hass und Missgunst, Sklaverei und Unterdrückung gegründet. Der ihnen unbekannte Fremde soll entscheiden, ob er die Position der Insel und ihrer Bewohner seinen Behörden meldet oder unter den ihm freundlich gesonnenen Nachkommen der ersten Siedler weiterleben möchte. Wie es sich für derartige Geschichte gehört, ist der “Held” weise genug, erst einmal vor einer Entscheidung die Insel und ihre Bewohner sowie deren Kultur kennen zu lernen. Ihm wird ein Führer zur Seite gestellt, der ihm stellvertretend für den Leser nicht nur die Insel selbst, sondern die wie schon angesprochen von Hellenbachs politischen Ansichten entsprechende Gesellschaftsordnung vorstellt. Im Gegenzug bringt der Gestrandete die Menschen auf der Insel sowohl auf den politischen, wirtschaftlichen als auch schließlich kulturellen neuesten Stand, wobei er kulturtechnisch nur Fragmente moderner Musik anbieten kann. Der Abgleich wirtschaftlich und politischer Vorstellungen und Entwicklungen auf der Insel Mellonta wie auch in Europa ermöglichen es dem Autoren, Fiktion und Realität gegeneinander zu stellen sowie das Für und Wider gegenwärtiger europäischer Politik durch den Spiegel einer Utopie weniger zu loben als zu kritisieren.
Freiherr von Hellenbach arbeitet sich im Grunde vom Kleinen ins Große vor. Es beginnt mit der Kindererziehung, die trotz der liebevollen Obhut der Eltern inzwischen die Aufgabe des Staates geworden ist. Die Kinder werden mit einfachen Aufgaben wie dem Aufräumen betreut, die sie neben der Schule für die Allgemeinheit erledigen müssen. Der Autor vertritt die These, dass durch die Erweiterung der Bezugspersonen der Egoismus des Aufwachsens in einer engen Gemeinschaft wie der Familie so von Geburt an ausgemerzt werden kann und die Gesellschaft als Ganzes an die Stelle des Individuums tritt. Um nicht zu sehr zu provozieren, werden die Grenzen zwischen der klassischen Familie und dem Staat nicht zuletzt durch die Enge auf der Insel positiv aufgelöst und es bildet sich zumindest im implizierten Sinne die Idee einer Großfamilie. Für die Frauen bedeutet es, mit 22 Jahren in den Stand der Mutterschaft zu treten oder außerhalb ihrer zukünftigen Aufgaben als “Freifrauen” - hier bewegt sich von Hellenbach auf sehr dünnem Eis - die Freuden der Liebe zu erfahren und auf die Rolle der Mutterschaft zu verzichten. Zumindest impliziert der Autor, dass unabhängige Frauen mehr Erfahrungen auch aktiv sammeln dürfen, während die Mutter trotz der Idee einer Staatserziehung immer noch eher an den exotischen Herd lustunempfindlich gebunden ist.
Mellontas Wirtschaft ist keine reine Planwirtschaft, sondern ein ökologisches Paradies, das seine Bewohner nicht nur ernährt, sondern entsprechende aufgrund des fehlenden Kontakts zur Umwelt nicht zu exportierende Überschüsse produziert. Von Hellenbach greift die von ihm mehrfach vertretene Idee einer Erbschaftssteuer auf. Der Staat erbt die Hälfte des Vermögens eines Verstorbenen und nutzt diesen Zugewinn, um das Los der Allgemeinheit zu erleichtern. Das kann in der Senkung der Preise, in der Erhöhung der Löhne und schließlich auch in der Reduzierung der Arbeitszeit münden. Der Gestrandete Alexander - es ist vielleicht ein ironischer Seitenhieb, dass der Autor ausgerechnet den Namen des griechischen Eroberers gewählt hat, vor dessen Ansturm ganze Reiche wie auch im vorliegenden Roman “gefallen” sind - erläutert im Gegenzug dem rein demokratisch aufgrund des Volksentscheides zusammengestellten Rat die wirtschaftlich politische Situation in Europa. Warum er über die Idee eines wirtschaftlichen Ausstoßes mit der nächst gelegenen Insel angesichts der immer brutaleren Kolonialisierung der Welt durch die europäischen Mächte ins Spiel bringt, ist einer der Punkte, der zu wenig nachhaltig erläutert worden ist.
Auf der sozialen Ebene erlebt Alexander im Grunde eine paradiesische Dreierbeziehung mit der ihn intellektuell stimulierenden, aber nicht unattraktiven Baccantin Aglaia, die kinderlos über 22 Jahre alt ist sowie der sozial sich absichtlich ausgrenzenden Vestalin Musarion, die unter 22 Jahre alt ist. Eine gemeinsame Segeltour ist die Fortsetzung einer Liebesnacht mit Aglaia, bevor er mehr und mehr der ihm eher zugewandten Musarion verfällt. Um die Idylle noch stärker zu betonen, erzählt Alexander den beiden idealisierten wie unrealistischen Frauen von den exzentrischen “Weibern”, denen er in Europa begegnet ist. Bevor sich Alexander entscheiden muss, präsentiert der Autor eine eher überraschende Weltuntergangslösung, die ihn zumindest in der Theorie vor dem Einsetzen eines überraschend gestalteten Epilogs von seiner Utopie wieder befreit.
Mit dem dramatisch beschriebenen Untergang seiner Insel leidet der Autor seine utopische Idee auf eine metaphysische Ebene, die Fernsehserien wie “Lost” bis zum Exzess extrapoliert haben. Die seltsam unspezifische zwischen Leben und Tod gelegene Ebene mit der Idee einer paradiesischen Existenz als Erfüllung und Ende der menschlichen Existenz. Zumindest liegt Alexander in der Realität nicht im Sterben, sondern wurde von einem indischen Heiler aus einer lebensbedrohlichen Situation gerettet und ihn eine Art “Heilschlaf” versetzt, dessen Träume der Leser über weite Strecken des Buches miterleben durfte. In der Gegenwart ist diese Idee zu Tode verwandt worden und auch Lazar von Hellenbach hat leichte Probleme, den Bogen von seinem sozialen Paradies zu seinem weiteren Steckenpferd - eine Doppelnatur des Menschen - zu schlagen. Eine Seance ermöglicht es dem Protagonisten, sich von seiner Geliebten zu verabschieden und die Hoffnung zu stärken, sie nach dem Tode wieder zu sehen. So sehr sich der Autor auch bemüht, wirken die in der Realität spielenden Passagen zu blass im Vergleich zur insularen Utopie. Auch stiehlt er sich ein wenig aus seiner Verantwortung, da er auf diese Art und Weise keinen Nachweis der Funktionalität dieser stark konzentrierten Gemeinde erbringen muss.
Dem Leser werden in erster Linie eine Reihe von sehr dreidimensionalen Eindrücken der Insel Mellonta mit ihrer im wahrsten Sinne des Wortes aus unterschiedlichsten Epochen des Menschengeschlechts zusammengesetzten Sozialsystem sowie einem leicht dekadent erotischen Lebensideal im Gedächtnis bleiben, während die Idee des Spiritualismus zu aufgesetzt erscheint. In Bezug auf die Details kann von Hellenbach insbesondere den sozialkritischeren Autoren wie Swift nicht das Wasser reichen. Alexander dient im Grunde nur als Resonanzkörper, die Ideen der “Insel Mellonta” der bitteren Realität in Europa gegenüber zu stellen. In dieser Hinsicht ist der kurzweilig zu lesende, stilistisch ansprechend geschriebene Roman ein faszinierendes Zeitdokument eines Mannes, der auf politischer Ebene aktiv Theorie und Praxis gegenüber stellen konnte.
Mit einem schönen Titelbild ausgestattet verfügt die von Dieter von Reeken wieder liebevoll zusammengestellte und teilweise illustrierte Ausgabe noch über ein Nachwort von Dr. Ulrich Bach, seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Utopien des 19. Jahrhunderts entnommen, in dem der Autor auf die Stärken und weniger auf die Schwächen dieses Buches eingeht. Viele Fragen werden zwar angerissen, es fehlt aber der Brückenschlag zu anderen Arbeiten dieser Epoche und von Hellenbach wirkt historisch ein wenig isoliert. Auf der anderen Seite finden sich viele Hinweise auf die Inspirationen, auf die Lazar von Hellenbach zurückgreifen konnte.

Lazar von Hellenbach: "Die Insel Mellonta"
Roman, Softcover, 158 Seiten
Dieter von Reeken 2012

ISBN 9-7839-4067-9697