Agnes und seine Brüder

Originaltitel: 
Agnes und seine Brüder
Land: 
Deutschland
Laufzeit: 
111 min
Regie: 
Oskar Roehler
Drehbuch: 
Oskar Roehler
Darsteller: 
Martin Weiß, Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup
Kinostart: 
14.10.04

Regisseur Oskar Roehler erzählt die Geschichte von den Brüdern Hans-Jörg, Werner und Agnes - die allein sich zu den Brüdern zählen darf, weil sie einmal ein Mann war.

Jeder der drei Geschwister hat sein Leben völlig anders gestaltet: Der Älteste, Werner, hat sich ein Familienleben aufgebaut, mit allem, was einen Familie so braucht: Eine schöne Frau, zwei heranwachsende Söhne, ein großes Haus mit sorgsam gepflegten Garten und eine Karriere als Grünen-Politiker, der sich als Ziel die Durchsetzung des Dosenpfandes gesetzt hat.
Hans-Jörg ist Angestellter in einer Universitätsbibliothek. Sein Leben wird einzig durch seine in Sexsucht endende Leidenschaft bestimmt, die seinen Beruf und seinen Blick für wahre Freundschaft oder Pflicht trübt.
Agnes veränderte ihr Leben so abrupt, dass sie ihr Geschlecht wechselte, um als Frau ihren Weg zu gehen und auf diese Weise ihr Glück zu finden...


Filmkritik:
von Holger Lodahl (für SF-Radio.net)

"Agnes und seine Brüder" ist ein extrem zwiespältiger Film. Man muss als Zuschauer schon sehr genau wissen, worauf man sich einlässt. Regisseur Oskar Roehler war noch nie ein Filmemacher, der die Menschen schlichtweg unterhalten wollte. Schon in seinem zweiten Film "Gierig" wurde deutlich, dass er sich auf Figuren konzentrierte, die vor lauter Gefühl nicht aufeinander zugehen können und sich durchaus von allem aus Ruhe bringen lassen. Sein großer und ausgezeichneter Erfolg "Die Unberührbare" verdeutlicht sein Gespür für die verborgenen Talente seiner Schauspieler und brachte Hannelore Elsner zu Höchstleistungen. "Die Unberührbare" konzentriert sich ganz auf seine Hauptfigur und zeichnet dadurch ein zwar anstrengendes und zerstörerisches Bild, das aber immer nachvollziehbar und schlüssig bleibt.

Bei "Agnes und seine Brüder" geht Roehler den entgegen gesetzten Weg in einer so extremen Form, dass er sich zu übernehmen scheint. Jede Figur bis in die kleinste Nebenrolle lässt erkennen, dass in ihr der Wahnsinn schlummert: Werners Nachbar, der sich als Dienstbote in aufopfernder Haltung aufdrängt; Hans-Jörgs lügende Freundin, die in grausamer und eiskalter Weise den vor Liebe blinden Mann ausnutzt; und ihr neuer Freund, der ohne zu zögern auf Hans-Jörg einschlagen möchte und auch in dieser Situation seine riesige Erektion nicht verliert; oder Agnes' Freund, der seine Freundin für den Zuschauer nicht nachvollziehbar aus der Wohnung wirft und in seiner Spießigkeit gefangen ist.

Doch spätestens, als Werner während eines Telefonats mit seinem Parteikollegen Joschka auf den Boden seines Büros kackt und dabei von seinem Sohn gefilmt wird, weiß man als Zuschauer nicht mehr, warum das alles passiert.
Jede Situation und jede Figur wirft viele Fragen auf, aber nahezu jeder Versuch einer Antwort verläuft im Nichts. Man kann nicht nachvollziehen, warum Werner nicht den Weg zur Toilette findet, und wenn doch, er sich auf das Bidet seiner Frau setzt; oder warum diese mit ihrem Sohn flirtet, der sich dann nicht mal abmeldet, wenn er für ein Paar Tage das Land verlässt.
Die Wege der drei Hauptfiguren Agnes, Werner und Hans-Jörg werden mit unterschiedlichen Stilmitteln erzählt und bieten einzeln für sich durchaus eine interessante Geschichte. Aber warum werden sie dem Zuschauer in einem Film verpackt, wo sie doch während der Handlung kaum miteinander zu tun haben? Je näher das Ende der 115 Minuten naht, um so eher erwartet man, dass sich die Wege der drei Brüder erneut kreuzen, um die ganze Geschichte abzurunden und ein schlüssiges Ende zu finden, aber die Handlung entwickelt sich wie eine Schere mit drei Klingen.

Höhepunkte des Filmes sind einzelne Schauspielerleistungen: Allen voran Moritz Bleibtreu, der seiner Figur Hans-Jörg so viel Tiefe und Charakter verleiht, dass man in jeder Sekunde mit ihm leidet und lacht. Die Größe, die der voyeuristische Hans-Jörg entwickelt, wenn er masturbierend auf der Damentoilette sitzt und von Hausmeister und einer Riege von gaffenden Studentinnen aufgefordert wird, heraus zu kommen, ist einmalig: Mit erhobenen Haupt und voller Stolz verlässt er die Szene und beweist genial die Gratwanderung zwischen Mitleid und Niedergang.

Auch Katja Riemann ist ideal besetzt als eiskalte und abweisende Politikergattin. Sie setzt ihre sowieso schon latent vorhandenen Zickigkeit geschickt ein, um in ihrer Rolle ihren Ehemann Werner gefühllos abblitzen zu lassen. Ihr gelingt es einmal mehr, ihr Image als Komödienqueen der 1990er Jahre hinter sich zu lassen.

Und obwohl nahezu alle Rollen prominent besetzt sind, fragt man sich unwillkürlich, warum andere Schauspieler agieren, als hätten sie einen Besen verschluckt. Oliver Korritke spricht seinen Text steif und wie abgelesen, Vadim Glowna sieht mit den langen weißen Haaren einfach albern aus, und selbst Martin Weiß als titelgebende Agnes wirkt verkrampft und blass.

Roehlers Versuch, ein Psychogramm einer deutschen Familie darzustellen endet in einer übergeschnappten Familiengeschichte, die sich in ihrem vielen Möglichkeiten verliert und mehr Fragen aufwirft als sie je beantworten kann.

Aber womöglich ist genau das beabsichtigt, vielleicht soll der Kinobesucher völlig ratlos den Saal verlassen und sich fragen, ob die Menschen wirklich so sind wie gerade auf der Leinwand geschehen. Aber die Antwort wird ihm Roehler schuldig bleiben.

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