Anime-Kritik zu A.I.C.O. Incarnation: Aus dem Rollstuhl in den Mech

AICO Titelbild

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Als ein bekanntes Gesicht ihr neuer Mitschüler wird, steht die 15-jährige Aiko Tachibana vor Erstaunen von ihrem Platz im Klassenzimmer auf. Ihre Klassenkameraden starren stattdessen sie an, schließlich steht sie gerade zum ersten Mal - die Schülerin ist eigentlich an einen Rollstuhl gebunden. Schon in der Antike galten rätselhafte medizinische Genesungen schnell als Wunder, auch im Japan des Jahres 2035 scheint sich dies nicht geändert zu haben. Doch Aiko, die seltsam ähnlich klingende Protagonistin des neuen Netflix-Anime A.I.C.O. Incarnation, hat schon mehr als ein Wunder erlebt.

Zwei Jahre zuvor ist ihre gesamte Familie in einer Forschungseinrichtung umgekommen, Aiko hat nur ihre Fähigkeit zu gehen eingebüßt und ist sonst rätselhafterweise vollkommen unbeschadet. Die nachfolgende Umweltkatastrophe hat einen großen Landstrich Japans mit der sogenannten Substanz verschmutzt, einer intelligenten organischen Masse, die an menschliches Gewebe erinnert. Jeder Zuschauer der Serie merkt schnell: An Aiko Tachibana ist etwas faul. Ein Wunder mag als Setup für einen Protagonisten normal sein, aber gleich zwei? Und wie hieß der Anime noch gleich? Ach ja.

Das Mystery-Kartenhaus

Der Teil der Zuschauerschaft, der sich zu diesem Mysterium zu viele Gedanken macht, kann schon gar nicht mehr gewinnen. Legen wir die Karten auf den Tisch: Eine Serie, die mit einem so offensichtlich komplizierten Namen geradezu hinausschreit, dass der Name der Hauptfigur auch eine Abkürzung darstellt, macht keinen cleveren Ersteindruck. Ja, dieser Sci-Fi-Anime steht und fällt mit seinen Wendungen und Geheimnissen. Und ja: Diese Wendungen werden sehr schnell sehr vorhersehbar. Dem sollten sich eigentlich auch die Drehbuchautoren bewusst gewesen sein, so möchte man jedenfalls glauben. Soll der Anime also auch mit offensichtlichen Twists weiterhin wirken, darf das Kartenhaus der einzelnen Handlungsteile nicht schon beim ersten Blick in sich zusammenstürzen. Das versucht das Studio auch verzweifelt zu realisieren, stellt dabei aber zu viele Fragen und unnatürliche Entwicklungen in den Weg, die den Zuschauer vom Kernproblem ablenken sollen.

AICO Tentakeln

Das fängt schon mit dem weiteren Handlungsablauf, nach dem Wunder im Klassenzimmer an. Aikos neuer Mitschüler überredet sie, ihn auf ein Himmelfahrtskommando in das, mit der Substanz verseuchte, Gebiet zu begleiten. Das normale 15-jährige Mädchen vertraut dem fremden Jungen, den sie nun seit einem halben Tag kennt. Sie glaubt ihm, dass ihre Familie in der Forschungseinrichtung überlebt hat. Sie glaubt ihm auch, dass ihr echter Körper in der besagten Forschungseinrichtung liegt und ihr jetziger Körper aus den gleichen künstlichen Zellen, wie die Substanz besteht. Warum sie mit einem fortschrittlichen Körper dann in einem Rollstuhl saß, fragt sich in der Situation natürlich niemand.

Nach der Vorstellung von künstlichen Zellen in der zweiten Folge scheinen die Autoren vorerst all ihr Pulver verschossen zu haben. Die biologischen Strukturen werden ab sofort benutzt, um alles mögliche zu erklären, was dann noch mehr Fragen über deren Eigenschaften aufwirft. Die Zellen sind beispielsweise in den Exoskeletten des Himmelfahrtskommandos eingebaut, bilden aber auch gleichzeitig die Grundlage für die gefährliche Substanz. Diese scheint mit einer eigenen Intelligenz ausgestattet zu sein, was entgegen aller bisherigen Erklärungen in der Serie steht. Warum kann sich die Biomasse selbstständig ausbreiten? Sind die Zellen dann nicht schon ein Kollektiv aus Organismen geworden? Warum sind die Zellen in den Schutzanzügen anders?

Diese klaffenden Logiklücken in der Wissenschaft um künstliche Zellen in A.I.C.O. Incarnation werden zwar nie geschlossen, aber auch die Begründungen für grundlegende Geschehnisse erfolgt leider erst im Finale. Dazwischen gibt es acht Folgen Action und mehr Handlungen, in denen die dargestellte Welt es nicht schafft, konsistent zu den selbst etablierten Regeln zu bleiben. Die Prämisse für die gestreckten Inhalte wirft, wie gewohnt, viele Fragen auf. Aiko und ihr neuer Mitschüler brechen mit einem Team Söldner in Mechs und anderen futuristischen Gefährten zur Forschungseinrichtung auf, dem Ursprung der Substanz. Dort soll der echte Körper der 15-Jährigen liegen, mit einem künstlichen Gehirn. Um ihr Leben zu retten, wurde nämlich am Tag der Katastrophe ihr echtes Hirn in einen künstlichen Körper transferiert, was wiederum durch einen Fehler in der Prozedur die Substanz ins Leben gerufen hat. Der kluge Plan ihres Mitschülers: Kehrt man zur Einrichtung zurück und macht die Operation rückgängig, verschwindet die Substanz. Einfach so.

Nach Mordor wandern - mit Laserwaffen

Akzeptiert er für eine Sekunde, dass die Operation wirklich eine riesige Umweltkatastrophe rückgängig machen kann, fällt dem Zuschauer schnell auf, warum es in der Mitte der Serie kaum Handlung gibt. Die Abenteuergruppe um Aiko, ihren Mitschüler und die Söldner (die so dünn charakterisiert wurden, dass ihre Namen kaum relevant sind) geht und fährt langsam durch das verseuchte und gefährliche Gebiet zu der besagten Forschungseinrichtung. Hier tritt das klassische Herr-der-Ringe-Problem noch mal verstärkt auf: Warum fliegt die Gruppe nicht nach Mordor? Im futuristischen Japan ist man dafür nicht mal auf Gandalfs Wunder-Adler angewiesen, ein herkömmlicher Helikopter hätte ausgereicht. Geld genug ist da: Das Team nutzt fortschrittliche Laserwaffen und Mechs mit der Bewaffnung einer kleinen Armee.

AICO Kampf

Also liefert die Serie acht Episoden am Stück mittelmäßige Action mit 3D-Robotern gegen 3D-Tentakeln, dazwischen wird gewandert. In der Zeit entsteht nicht einmal annähernd eine Chemie zwischen den Charakteren, die Autoren nutzen Interaktionen lieber, um die Überraschung zur Wendung im Finale zu schwächen. Keine Episode vergeht, in der nicht mit Zaunpfählen gewunken wird. Damit sieht auch jemand, der die Hälfte der Serie verschlafen hat, den nächsten Twist kommen. Ist das Finale dann da, setzt die Serie alles auf ihre ja so plötzliche Wendung. Könnte diese wirklich den Zuschauer mitreißen, wäre sie sogar gut inszeniert. So kommt es einem leider vor, als hätte Rob Stark in Game of Thrones eine ganze Staffel vor der Roten Hochzeit jede Episode erwähnt, dass er hofft, auf seiner Hochzeit würde ihn niemand verraten und alle Anwesenden umbringen.

Zu der Animation und Bildgestaltung muss sich A.I.C.O. Incarnation nicht so viel Kritik gefallen lassen. Die Serie sieht gut aus und die Action kann noch gut unterhalten. Kämpfe mit den Mechs sind Genre-Standardkost, aber dank langer Erfahrung des Studios durchaus ansehnlich. Viele Einstellungen werden für Sequenzen in der Vergangenheit effektiv wiederverwendet und sorgen damit an mancher Stelle immerhin für einen optischen Aha-Effekt. Manchen Zuschauern wird der üppige CGI-Einsatz in den sonst gezeichneten Bildern missfallen, aber hier muss man die Serie nicht für einen Trend in der Industrie kritisieren. Auch mit Netflix-Budget ist die Produktion einer modernen Anime-Serie noch immer sehr aufwendig und geschieht mit vergleichsweise kleinen Teams.

Fazit

A.I.C.O. Incarnation hätte eine etwas generische, aber amüsante Sci-Fi-Serie werden können. Das schlechte Drehbuch verhindert dies leider zu einem großen Teil und macht den Anime, wenn überhaupt, zu mittelmäßigem Popcornkino. Die Action ist zwar ansehnlich, leidet aber unter Repetition. Wer eine kurze, actionreiche Serie sucht, findet zahlreiche, bessere Alternativen. Dieser Anime hätte, wie seine Protagonistin, nicht einmal ein Wunder gebraucht, sondern nur bessere Drehbücher.

A.I.C.O. Incarnation ist im Stream bei Netflix zu sehen.

zusätzlicher Bildnachweis: 
© Bones/Netflix

A.I.C.O. -Incarnation- | Teaser [HD] | Netflix

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