Clarkesworld 211

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke hat zwei Variationen des Vorworts geschrieben. Momentan hat er sich für die mehr optimistischere Fassung entschieden, aber die dunklen Wolken bleiben nach Einstellung des Amazon Kindle Programm über dem langjährigen Magazin hängen.

 D.A. Xialon Spires schreibt über futuristische Früchte, die durchaus auf einer realen Züchtung basieren und wie den Menschen diese Genüsse als Science Fiction vorkommen. Mit einem Augenzwinkern werden einfache Dinge, wie das Verzerren einer großen Erdbeere, geschickt mit verschiedenen phantastischen Texten in Verbindung gebracht.

 Arley Sorg interviewt zwei sehr unterschiedliche Autorinnen. Sofia Samatar kann man durchaus als globalen Menschen bezeichnen. Die Wurzeln liegen sowohl in Afrika wie auch den USA, sie hat die Welt bereist und lebt jetzt im amerikanischen Hinterland. Sie schreibt seit einigen Jahren Kurzgeschichten, aber auch verstärkt Romane. Ann Leckie hat es geschafft. Mit ihren Büchern hat sie alle wichtigen Preise abgeräumt und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen des 21. Jahrhunderts. Und trotzdem liegen ihre literarischen Wurzeln eng beieinander, wie die beiden sich ergänzenden Interviews zeigen.

 Fünf Kurzgeschichten und zwei längere Texte bilden den literarischen Teil dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. „The Lars Ascending“ (Eleanna Castroianni) beschreibt eine dunkle Zukunft, in welcher ein Dissident vom Regime getötet worden ist. Das Gedächtnis seiner Tochter soll gelöscht werden, allerdings verfügt sie über eine besonders hohe Intelligenzstufe, so dass sie in einen elitären Kreis aufgenommen werden könnte. Eine unscheinbare „kleine“ künstliche Intelligenz greift ein, um die Tochter vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren. Trotz der Kürze der Story spricht die Autorin eine Reihe von interessanten Themen und schafft es, die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren zwar melodramatisch, aber an keiner Stelle kitschig oder statisch zu beschreiben. Ein emotional zufrieden stellender Auftakt einer generell sehr unterhaltsamen „Clarkesworld“ Ausgabe.

 Die längste Geschichte ist „The Indomitable Captain Holli“ aus der Feder Rich Larsons. In einer fernen Zukunft sind die meisten Planeten unbewohnbar. Eine Hintergrunderklärung liefert der Autor allerdings nicht. Die Menschen leben in zwei abgeschlossenen Habitaten und haben natürlich den Anderen gegenüber die entsprechenden Vorurteile. Eine künstliche Intelligenz nimmt die Form eines Cartoon Piraten – daher der Titel – an und führt ein kleines Mädchen durch eine Reihe von lebensgefährlichen Gebieten. Ihre große Schwester und deren Freund beginnen sie zu suchen. Ohne die begleitende künstliche Intelligenz ist ihre Reihe noch gefährlicher. Rich Larson präsentiert in dieser Novelle einen vielschichtigen Hintergrund, der sich – so hat es für den Leser den Anschein – fast während der Lektüre entwickelt und neu ausbildet. Das Tempo ist hoch, allerdings leidet der Text unter einer bei Rich Larson bekannten Schwäche. Er kann seine Geschichten nicht immer überzeugend beenden und sicht Kompromisse, wo eine klassische Ausleitung besser anstatt diese simplifizierte „alles wird gut“ Endung.

 Shen Dachengs „The Rambler“ ist eine weitere der sehr kurzen Texte dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Sie ist deutlich besser aus dem Chinesischen übersetzt worden als die letzten Storys in den „Clarkesworld“ Ausgaben. Eine Fussgängerbrücke beginnt sich zu verselbstständigen und flüchtet schließlich in den nahe gelegenen Wald. Das hört sich ausgesprochen bizarr an. Erzählt in dem nüchternen Stil, Franz Kafka pflegte, wirkt der Plot ein wenig zu stark konstruiert, der Leser findet keinen Zugriff auf die Persönlichkeit der Brücke und kann deswegen ihre „Flucht“ auch nicht wirklich einschätzen.

Natalia Theodoridous „The Oldest Fun“ ist auch eine schwächere Miniatur. Menschen vor allem aus Problemzonen der Stadt werden von einem gefährlichen, anscheinend auch virtuellen Spiel wie magisch angezogen. Der Erzähler der Story bleibt im Hintergrund, seine Enttarnung soll als eine Überraschung dienen, funktioniert aber wegen des eher spärlich entwickelten Hintergrunds nicht wirklich überzeugend. Die Grundidee ist nicht einmal schlecht. Wie beseitigt eine Gesellschaft unfreiwillige Elemente auf eine unauffällige, sogar verführerische Art und Weise, ohne Spuren zu hinterlassen. Allerdings benötigt ein derartig perfider Plot auch ausreichend Planung von ganz oben, so dass einzelne Stücke dieser Geschichte eher konstruiert und dann nicht ausreichend vorbereitet zusammengesetzt erscheinen. 

 Tia Tashiros „An Intergalactic Smuggler´s Guide to Homecoming” ist der unterhaltsamste Story dieser Ausgabe. Der an Douglas Adams angelehnte Titel ist Programm, auch wenn die Autorin die Absurditäten des Briten nicht ganz erreicht. Ein professioneller , allerdings weiblicher Schmuggler mit einem latenten Verhaltenverwandtschaftsgrad zu einem berühmten Schmuggler aus einer noch berühmteren Filmserie soll hunderte von mikroskopisch kleinen intelligenten Wesen quasi im Rucksack von einer Welt wegbringen, die am Aussterben ist. Was auf den ersten Blick wie ein Verbrechen ausschaut, hat eine tiefere Bedeutung und führt zu einer kompletten, aber ein wenig zu konstruierten Wesen Veränderung in der Protagonistin.

 Mittels zahlreicher, allerdings gut voneinander abgetrennter Rückblicke gibt die Autorin ausreichend Informationen über die markante Protagonistin, so dass der Leser ihre Entscheidungen während und vor allem nach dieser Mission nachvollziehen kann. An einigen Stellen durchbricht Tia Tashiro allerdings unnötig die Chronologie, so dass der Leser das Ende vor dem Anfang kennt und sich keine innere Spannung aufbauen kann. Die Schmugglerware wird am Rande des Kitsches beschrieben, die Bedeutung nicht zufrieden stellend herausgearbeitet, aber die flotte Erzählweise und einige innere Monologe haben den Text aus der Masse vergleichbarer strukturierter Pulp Abenteuerstorys in einem modernen Gewand positiv hervor.

 Derrick Boden schickt in „The Arborist“ ein Spezialistenteam auf einen neuen Planeten, um ihn für die Menschheit bewohnbar zu machen. Eine Seuche hat die eigene Heimatwelt unbewohnbar gemacht. Man denkt, das die Menschen aus diesen Gefahren gelernt haben, aber ihr Verhalten wird im Mantel einer „Rettungsmission“ für die verbliebenen Menschen entschuldigt. Die Mission steht von Beginn – erzählt aus der Perspektive eines Androiden – unter einem schlechten Stern. Derrick Boden setzt sich natürlich mit der Frage auseinander, wie weit man bei der Zerstörung einer fremden, allerdings auch sehr gefährlichen Ökologie gehen darf, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Die Gechichte verfügt über einige Wendungen, allerdings beantwortet der Autor die von ihm selbst aufgeworfene Frage auch eher rudimentär, so dass dem Text grundlegend die Schärfe, die kritische Nähe fehlt.

 „Kelly Jennings Miniatur „Occurence at 0139“ beschließt den April. Eine Sende, bestehend aus verschiedenen zusammenarbeitenden künstlichen Intelligenzen empfängt ein seltsames Signal von außerhalb des Sonnensystems.  Wenn die Sonde stellvertretend für die Menschen nicht beweisen kann, das sie intelligent sind, wird das Sonnensystem von den Fremden zerstört. Auch wenn die Idee nicht sonderlich originell erscheint, ist die Aufgabe herausfordernd und eine Denksportaufgabe auch für die Leser. Es dürfen nicht mehr als elf Fragen gestellt werden. Die Geschichte ist weniger eine Erzählung als eine künstliche intellektuelle Simulation. Die künstlichen Intelligenzen stehen zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite haben sie ihre eigenen Programmierungen und würden einige Fragen anders stellen. Auf der anderen Seite sollen sie sich als „Menschen“ zeigen, die Fragen aus deren Perspektive als Beweis ihrer originären Intelligenz stellen. Die Miniatur überzeugt durch ihre fokussierte Handlung und die verschiedenen „Möglichkeiten“, von denen die meisten ja nicht ausgesprochen werden können. Die Autorin präsentiert eine konsequente, in sich logische und das Szenario betrachtend erstaunlich clevere Lösung.

 Der April präsentiert „Clarkesworld“ beginnend mit einem  schönen, auffälligen Titelbild in seinem besten Gewand. Eine zufrieden stellende bis überzeugende Zusammenstellung von Geschichten mit einem breiten Themenspektrum, aber vor allem auch überzeugenden Enden. Es finden sich wenige wissenschaftliche Fehler, die Autoren und Autorinnen konzentrieren sich vor allem auf ihre Charaktere und Plots. Die beiden längeren Texte überzeugen vielleicht einen Ticken mehr, weil die Szenarien besser herausgearbeitet werden als in den ersten, zu kurzen Texten, aber mit „Occurence at 01339“ zeigt Kelly Jennings, das auch in der Kürze sehr viel Würze liegen kann.