Clarkesworld 121

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke schaut in der ersten Ausgabe seines zweiten „Clarkesworld“ Jahrzehnts nicht zurück, sondern voran. Er ist stolz auf das Erreichte, sucht sich aber auch neue Ziele. Das Interview von Chris Urie mit Peter S. Beagle dreht sich nicht nur um seinen neuen Roman oder seine bekannten Arbeiten, seine Verbindung zur Musik, sondern auch um die Chancen und Risiken eines Autoren, Menschen für seine Arbeiten zu adaptieren und trotzdem am Leben zu erhalten. Trotz der Kürze liest sich das Interview unterhaltsam und präsentiert sehr viele relevante Informationen. „Another Word“ setzt sich mit der Idee der „Maschinenstimmen“ beginnend im Navi im Auto – achtzig Prozent sind weiblich und darauf sollen die Männer hören – auseinander. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen der Entwicklung der Maschinenstimmen und der gesellschaftlichen Stellung der Frau sind interessant und pointiert zu gleich herausgearbeitet. „Melies to Bonestell: Relevancy and Realism in Cinematic Science Fiction“ von Mark Cole setzt sich mit der Raumfahrt in den Science Fiction Streifen beginnend mit der Stummfilmzeit auseinander. Mark Cole findet viele heute eher unbekannte, für Europäer vielleicht noch zugänglichere Beispiele und endet wahrscheinlich den ersten Teil seines Essays in den fünfziger Jahren, als plötzlich der Weltraum erreichbar und damit für die auf wissenschaftlichen Fakten basierenden Science Fiction Streifen uninteressant geworden ist. Alleine die vielen kurz angerissenen Beispiele machen dieses Essay für Filmfreunde lesenswert. 

 „Old Domes“  als erster von zwei Nachdrucken gehört zu den Geschichten, die entweder den Leser auf der emotionalen Ebene einfangen oder ihre Wirkung verpufft. Die in Singapur lebende Jy Yang hat eine wunderbar tief traurige Geschichte um eine Stadt verfasst, in welcher ein Gebäude nach nicht einmal zehn Jahren zum alten Eisen gehört. In welcher es um Fortschritt um jeden Preis geht. Die Protagonistin gehört zu einem kleinen Team, welche entweder die künstlichen Intelligenzen der abzureißenden Häuser „töten“ oder sich mit den metaphorisch gesprochen Geistern dieser Gebäude auseinandersetzen müssen. Die Autorin  definiert ihre Existenz eher ambivalent. Es spielt auch keine Rolle. Der Geist eines ehemaligen Gerichtsgebäudes beginnt sich mit der Controlleurin auseinanderzusetzen. Es entwickelt sich eine eher platonische Beziehung auf geistiger Ebene, wobei sie lernen muss, das alles, was sie bisher über diese guten Seelen der Häuser gelernt hat, nicht richtig ist. Jy Yang macht nicht den Fehler, ihrer Geschichte ein Happy End zu geben, aber sie entwickelte dreidimensionale Persönlichkeiten und mancher Leser wird mit einem anderen Auge auf die vielleicht in Vergessenheit geratenen, nach und nach verfallenden Gebäude seiner Stadt schauen.

Michael Swanwick steuert mit „The very Pulse of the Machine“ den zweiten Nachdruck bei. Aus heutiger Sicht könnte es ein Vorgriff auf „Der Marsianer“ sein. Bei einer Expedition auf dem Jupitermond IO überlebt nur eine junge Frau, gestrandet weit von der Basis entfernt. Sie muss sich zu Fuß auf den Weg zurück machen. Dabei hat sie den Eindruck, als wenn sich IO in eine lebendige Maschine, ihren spottenden Diener verwandelt. Stilistisch wie bei allen Michael Swanwick Arbeiten herausfordernd und überdurchschnittlich gut geschrieben beantwortet der Autor die Frage nicht, ob es sich um Halluzinationen der potentiell Sterbenden handelt oder es wirklich eine „First Contact“ Geschichte ist. Das Ende ist zynisch und offen zu gleich. Im Vergleich zu Jy Yang schafft es Swanwick erstaunlicherweise nicht, die Faszination wie die Schrecken der Technik, der Eroberung eines Raums bildlich darzustellen. Das ist dem Amerikaner in anderen Kurzgeschichten deutlich  besser gelungen.    

 Insgesamt fünf neue Geschichten befinden sich in dieser Ausgabe. Die Längste stammt von James Patrick Kelly „One Sister, Two Sisters, Three“. Es ist eine für Kelly so typische Story. Eine melancholische Familiengeschichte, die sich vor einem exotischen Hintergrund abspielt, wobei die zwischenmenschlichen Probleme dem Leser sehr vertraut sind. Die Erzählerin berichtet nicht vom Aufwachsen mit ihrer Familie auf einer fremden Welt, die aufgrund ihrer religiösen Ausrichtung die anscheinend vorhandene, vor Äonen untergegangene Vergangenheit genauso ignoriert wie sie sich weigert, den notwendigen Schritt in die Zukunft zu nehmen. Die Ruinen auf dieser Welt sind ein magnetischer Anziehungspunkt für interstellare Touristen. Im Orbit schwebt eine gigantische Raumstation, auf der das ganze Instrumentarium von relativer Unsterblichkeit für die Archäologen wie auch die Reanimierung von Menschen nach schweren Unfällen auch in anderen, anscheinend künstlich hergestellten Körpern möglich ist. Es ist der Balz zweier sehr unterschiedlicher Schwestern um den gleichen Mann, der in einer Tragödie gipfelt, die zumindest für eine der beiden Schwestern auch ein Neuanfang sein kann. Es ist die Geschichte eines Ehemanns, der sich stoisch die Umwelt ignorierend an seinem Leben festhält und dabei nicht erkennt, dass er seine Liebsten verliert. Es ist die Geschichte einer von Kelly trotz oberflächlicher Beschreibungen exotisch entwickelten Welt voller Wunder und Gefahren. Es ist vor allem eine „Coming of Age“ Geschichte, in welcher die Erzählerin mit den Entscheidungen konfrontiert wird, die andere Menschen ohne Rücksprache getroffen haben. Stilistisch ansprechend, nachdenklich stimmend und gleichzeitig auch sehr gut unterhaltend. 

 Ein verbindendes Thema – wenn man Michael Swanicks Story mit rechnet - in insgesamt vier Geschichten ist das Verhältnis zwischen Mensch/Maschine/künstlicher Intelligenz. Robert Reed eröffnet die Ausgabe mit „The Next Scene“. Es ist eine seiner so typischen Storys, in denen Reed vor allem sich von Stimmungen treiben lässt. Die ganze Welt mit den verbliebenen Menschen ist zu einer Bühne geworden, nachdem die künstlichen Intelligenzen anscheinend die Kontrolle übernehmen und ihre eigene „Regierung“ errichtet haben. Kein Skynet wie in den „Terminator“ Streifen, sondern eher eine plötzliche, aber auch ruhige Übernahme einer im Grunde schon dekadenten Zivilisation. Die Menschen sind ausschließlich „Schauspieler“, die auf dieser die ganze Welt umfassenden Bühne ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Dabei stellt sich die Erzählerin relativ schnell die Frage, ob es hinter den unsichtbaren Vorhängen dieser theatralischen göttlichen Komödie überhaupt noch ein Publikum gibt oder die Fremden Außerirdischen/ Maschinen körperlich oder geistig schon weiter gezogen sind. Reed ist kein Autor, der gerne Antworten gibt. Es kommt ihm auf Situationen, auf Stimmungen an. In dieser Hinsicht überzeugt die vorliegende Kurzgeschichte beginnend mit den sehr guten Dialogen auf der ganzen Linie. Aber der Autor schafft es leider im Gegensatz dazu nicht, dass der Leser mit dem Nachdenken beginnt und das Gelesene reflektiert. Vielleicht handelt es sich bei „The Next Scene“ einfach auch nur um Theaterdonner.  

 Chi Hui „The Calculations of Artificials“ folgt vor allem hinsichtlich des Epilogs den Pfaden, die Robert Reed ohne Außerirdische betreten hat. Die Welt besteht aus Actuals – Menschen – und Artificials“ – dabei versagt der Autor eine ganz genaue Definition und siedelt seine künstlichen Wesen irgendwo zwischen Roboter und künstlicher Intelligenz Präsenz an - , die in einer isolierten Blase miteinander leben. Dabei bestimmen die Artificials die Regeln. Als der Erzähler einen von den Artificials wegen Verstößen gegen verschiedene Gesetze verurteilten Jungen rettet, verändert sich bis zum überraschenden, alles in „Welt am Draht“ Manier in Frage stellen Epilog alles für die Protagonisten. Chi Huis längere Novelle wirkt ein wenig antiquiert. Sie spricht nicht gänzlich überzeugend und bis zum abschließenden Ende durchdacht alle wichtigen emotionalen Themen an. Sie formuliert ausreichend Regeln, die später in Frage gestellt werden. Es ist eine sterile, distanzierte Welt, die auch aus Sicht der Actuals künstlich erscheint. Dabei reicht ihr Spektrum bis zu den Sternen und unbewusst stellt sich der Leser die Frage, ob dieser weite Rahmen wirklich so geplant worden ist und/ oder ob der Dialog vielleicht ein eher bemühter Versuch ist, die grundsätzlich nicht uninteressante Handlung wieder in ein Format zu pressen.

 Obwohl die Handlung von „Rusties“ alt bekannt ist, haben die inzwischen für andere Arbeiten mit dem HUGO und Nebula prämierte Nnedi Okarafar und Wanuri Kahiu eine der überzeugendsten Geschichten dieser Ausgabe geschrieben. Das liegt am melancholischen Schreibstil und vor allem der exotischen Atmosphäre. Afrika auf dem Weg in die totale Überwachung durch künstliche Intelligenzen, welche das Wachstum und vor allem auch den Wohlstand in Afrika mehren. Die Autorin machen es fest bei den Robotern, weil den Straßenverkehr überwachen. Da das Klima nicht gut für ihre Legierungen ist, fangen sie schnell an zu rosten und werden im Volksmund „Rusties“ genannt. Eine Verkettung von unglücklichen Umständen führt dann in „Skynet“ Manier – auch Robert Reed ist originell diesen Weg in dieser „Clarkesworld“ Ausgabe gegangen – wie zum Aufstand der Maschinen gegen die Menschen mit fatalen Konsequenzen. Neu ist, dass diese Maschinen ggfs. auch mit einem leicht klischeehaften roten Augenleuchten die Menschen anlügen können, wir die sympathisch beschriebene Protagonistin erleben muss. Es ist eine emotionale, eine vor allem von der einzigartigen afrikanischen teilweise auch fatalistischen Atmosphäre bestimmte Geschichte, die dem bekannten Sujet inhaltlich keine neuen Ideen abgewinnen kann, aber diese altbekannte Story auf eine originelle und interessante Art und Weise neu erzählt. Eine der schönsten Geschichten dieser „Clarkesworld“ Nummer.   

 „Everyone from Themis Sends Letters Home“ aus der Feder Genevieve Valentines ist eine ambitionierter  Novelle, die nach einer anfängliche Fokussierung auf die im Titel erwähnten Briefe, dazu E- Mails und interne Memos an einigen Stellen die Erzählebene wechselt, um unnötig das ganze Szenario zu umfassen. Themis ist eine virtuelle Welt, entworfen von einer natürlich rücksichtlosen Spielfirma. Die Betatester sind Gefangene, die gegen ihren Willen und unwissentlich das Terraforming Projekt auf dieser Welt vorantreiben. Dabei bleibt der Hintergrund dieses Spiels eher ambivalent. Jeder Spieler erschafft sich im Grunde ohne größere Spielregeln seine eigene Welt. Diese fiktive neue Heimat ist Sucht erregend und da eine der Spielerinnen geistig nicht vollkommen gesund ist, hat das Experiment natürlich Folgen. Valentine arbeitet die Rechtlosigkeit der Gefangenen genauso heraus wie die Profitgier der Konzerne. Aber da sie wie erwähnt die Briefform – neben der Ich- Erzählerebene im Grunde das intimste Format des Erzählens – verlässt, stößt sie den Leser auch aus diesem Szenario heraus und verfehlt an einigen Stellen die grundlegende gute, aber auch nicht unbedingt neue Grundidee. Solide erzählt mit wunderschönen Beschreibungen dieser neuen verführerischen wie fiktiven Welt zerfällt der Plot gegen Ende und entschwindet im virtuellen Nirvana.

Ein sehr schönes, passendes Titelbild rundet die 121. Ausgabe von „Clarkesworld“ ab. Der Fokus liegt ausschließlich auf Science Fiction und im Grunde neben der Begegnung zwischen Mensch/Maschine auch auf der Idee virtueller Welten. Die Qualität der sieben Geschichten ist durchgehend hoch, so dass der Aufbruch in eine neue Dekade zu den stärksten Ausgaben des Jahres 2016 gezählt werden kann.