Clarkesworld 123

Neil Clarke

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. So verabschiedet sich Herausgeber Neil Clarke von seinen Lesern und dem Jahr 2016. Im sekundärliterarischen Teil schreibt Ken Liu in einem kurzen, aber prägnanten Essay über die Fähigkeit, dankbar zu sein und uneigennützig zu helfen. So erfährt der Leser, wie er zu einem der wichtigsten Übersetzer moderner chinesischer Science Fiction geworden ist und wie ihm selbst Freunde geholfen haben. Chris Urie interviewt Bruce Sterling zu seinem neuen Roman. Bruce Sterling berichtet auch über sein Leben in Norditalien, die Veränderung des Cyberpunks angesichts des technischen Fortschritts und wie er sich als Autor gesehen hat. Abgeschlossen wird dieser Teil von „Clarkesworld“ von einem vorsichtigen Ausblick auf die Chancen, aber vor allem in ökologischer Hinsicht auch Risiken einer Expedition zum Mars.

 Gardner Dozois hat zwei längere Kurzgeschichten für seinen Nachdruckteil ausgesucht. David Moles „A Soldier of the City“ ist keine klassische Military Science Fiction Story. Ein Konflikt irgendwo in den Tiefen der Galaxis, der auch ein wenig an die Irrungen und Wirrungen der Auseinandersetzung im Nahen Osten erinnert. Ish ist ein Kämpfer für die Gebieterin Isis, die mit ihrer Stadt durch einen verheerenden Bombenanschlag ums Leben gekommen ist. Fortan zieht er weniger auf der Suche nach den Attentätern, sondern zur Beruhigung seines scheinbar eigenen Gewissens von einem Konflikt zum nächsten. Stilistisch anspruchsvoll bis lyrisch geschrieben braucht David Moles einiges an Zeit, um nach einem dynamischen Auftakt wieder die Handlungsspur zu finden, bevor die Geschichte eher mit einem Flüstern als einem Paukenschlag endet. An einigen Stellen hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als wolle der Autor noch viel mehr in diesem Universum erzählen, scheitert aber am begrenzten Raum einer längeren Kurzgeschichte und traut sich nicht daran, den Plot zu einem Roman zu erweitern.  

 Nancy Kress hat der Idee einer Entführung durch UFOs in „The Most Famous Little Girl in the World“ eine neue Komponente hinzu gefügt. Im Jahre 2002 betritt die zehn Jahre alte Kyra das Ufo, das auf dem Feld ihres Vaters gelandet ist. Ihre Cousine Amy verfolgt das Geschehen. Kyra kommt wieder heraus, das UFO verschwindet. Sie kann sich an nichts erinnern. Trotzdem wird sie auf einen Schlag zum bekanntesten Mädchen der Welt, das ihren Lebensmittelpunkt verliert. Immer wieder begegnen sich die so unterschiedlichen Cousinen in den nächsten schwierigen Jahren ihrer Leben, wobei Kyra anfänglich ihre Verwandte beruflich wie auch privat verletzt. Beim nächsten Auftauchen der Außerirdischen sitzt Kyra vorsichtshalber in Haft und bittet ihre Cousine vergeblich um Unterstützung. Das Auftauchen der Fremden zieht sich durch das Leben der beiden Frauen, das so unterschiedlich verläuft. Aber beide haben nur einen beschränkten Handlungsraum hinsichtlich möglicher das eigene Leben betreffenden Veränderungen. Die Charaktere sind ausgesprochen dreidimensional und zugänglich entwickelt worden. Die Episoden reihen sich sehr gut aneinander. Die zum Teil Jahrzehnte zwischen den einzelnen Treffen füllt Nancy Kress mit nur wenigen passenden Bemerkungen. Insgesamt ist es eine melancholische Geschichte, die Kritik an der allgegenwärtigen Medienlandschaft genauso übt wie sie die Tatsache enthüllt, das nichts im übertragenen Sinne älter ist als die Meldung von gestern. Am Ende kommt es tatsächlich nach einigen Irrungen und Verwirrungen zum ersten richtigen Kontakt zwischen den Menschen und den Fremden. Auf der zwischenmenschlichen Ebene hat die Zeit diese Entwicklung überholt. Was für die Öffentlichkeit wie eine Sensation erscheint, ist zwischen den beiden inzwischen alten Frauen eher eine Art Erleichterung, das Abschieden von Verantwortung. Je mehr Nancy Kress das Auftauchen der Fremden in den Hintergrund schiebt, desto interessanter und vielschichtiger werden diese mit einer gewissen Altersweisheit der Autorin gezeichneten Protagonisten. So bildet dieser lesenswerte Nachdruck auch einen sehr guten Übergang zu den insgesamt fünf neuen Storys dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. 

 Von den neuen Geschichten nimmt Maggie Clarks „A Tower for the Coming World“ diese intensive Verbindung zwischen einem Familiendrama und kosmopolitischen Ereignissen em ehesten wieder auf. Während durch einen tragischen Unfall der Turm zu den Sternen – eine Anspielung sowohl auf Arthur C. Clarke als auch William Forstchen – zusammenstürzt, beerdigt einer der verantwortlichen Planer gerade seinen Vater in dessen polnischer Heimat. Die Expansion der Menschheit ist eng mit seiner Familie verknüpft und die Opfer, welche vor allem die Kinder bringen, werden in dieser kompakt geschriebenen Kurzgeschichte intensiv, aber auch jederzeit nachvollziehbar erzählt. Am Ende bleibt ein optimistischer Blick zurück auf den ersten Schritt, diesen gigantischen Turm zu den Sternen, ein Monument an die Opferbereitschaft der Menschen, die ihrem Traum gegen alle Widrigkeiten gefolgt sind. Solide geschrieben sind vor allem die ersten Szenen mit diesem starken Kontrast zwischen globaler Katastrophe und privater Trauer die stärksten Passagen dieser lesenswerten Story.  

 Die fast obligatorische Geschichte aus China stammt von Wang Yuan. „Painter of Stars“ ist ein Epos. Ein Roboter lebt bei einer Familie. Seine überdurchschnittliche Intelligenz wird immer von den Menschen unterminiert. Aus Langeweile beginnt er, auf die Haut der Menschen Miniaturzeichnungen und Gemälde aufzubringen. Anfänglich ohne ihr Wissen. Schnell entwickelt sich daraus eine neue Kunstform, bis die Maschine immer nur einen kleinen Schritt vom Menschsein entfernt, um Frieden auf die Erde zu bringen, jedem Menschen einen Stern aufzumalen beginnt, da sie das ganze Universum nicht zu den Menschen bringen kann. Eine Idee, die schnell Furore macht, bis dieser globale Pazifismus umzuschlagen beginnt. Auf den wenigen Seiten fasst Wang Yuan einen unglaublich langen Zeitraum zusammen. In dieser Hinsicht reiht sich „Painter of Stars“ nahtlos in die Reihe von Nancy Kress Novelle und die noch vorzustellende Geschichte Maggie Clarks ein. Das Leben ist viel größer als es die jeweiligen Charaktere bereichert um eine in diesem Fall sehr sympathisch beschriebene Maschine ahnen. Es besteht aus Herausforderungen, aus Leiden, aus Triumphen und schließlich auch der Erkenntnis, das es immer einen Ort geben muss, den man sein Zuhause nennen sollte. Yoseff Lindell schließt mit der kürzesten Story dieser Sammlung „A Future Far Too Bright“ diesen Reigen von einzigartigen, emotional ansprechenden Storys ab. Sie besteht aus einem Briefwechsel zwischen einem Jugendlichen und dem Vater, der angeblich an einem geheimen Zeitreiseexperiment arbeitet. Durch einen Zufall kommt die Wahrheit ans Licht und beide Protagonisten müssen aufeinander zu gehen. Diese kurzweilig zu lesende, vielleicht ein wenig sentimentale, aber nicht kitschige Geschichte endet auf einer optimistischen Note. Sie könnte auch ohne die eher im Hintergrund erwähnten potentiell futuristischen Elemente funktionieren. Wie die meisten der in dieser „Clarkesworld“ Nummer gesammelten Storys ist es wichtig, die Charaktere dreidimensional und glaubwürdig zu entwickeln. Die Plots fügen sich dann ohne Ecken und Kanten ein.  

 „Blue Grey Eyes“ von Yokimi Ogawa ist alleine wegen des Hintergrunds der Autorin lesenswert. Sie lebt in Japan und schreibt in Englisch. Sie kann die Sprache aber nicht sprechen, sondern nur lesen/ schreiben. Vielleicht wirkt der Text deswegen außergewöhnlicher als die anderen Arbeiten dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Es geht um exotisch gefärbte Augen und ein ambivalentes Verhalten der „Menschen“ den allgegenwärtigen Touristen gegenüber. Vor allem Stimmungen treiben den eher rudimentären Plot an, so dass am Ende die Auflösung reines Beiwerk ist. Die Charaktere sind mit sanfter Hand gezeichnet worden, der Text ist kurz genug, um alleine von der zugrunde liegenden, aber niemals nachhaltig erläuterten Idee angetrieben zu werden.

 Die längste Story ist „Checkerboard Planet“ aus der Feder von Eleanor Arnasson. Es ist eine von mehreren Geschichten – inzwischen als Sammlung in Vorbereitung – um die Abenteuerin und Location Erkunderin Lydia Durnuth. Daher wirkt der Hintergrund der Figuren auch ein wenig zu oberflächlich. Für ihren Sender, der 3 D Abenteuerstoffe herstellt, untersucht sie einen wahrscheinlich künstlich erschaffenen Planeten, der aus Schachbrett artig angelegten unterschiedlichen Landschaften besteht. Diese künstliche Schöpfung ist sehr gut beschrieben und voller Phantasie stellt sie konträre Landschaften gegeneinander. Leider befriedigt die zugrunde liegende Handlung mit dem Konflikt zwischen zwei Konzernen um die Ausbeutung dieser Welt gegen alle Logik und vor allem auch ohne Vorsicht nicht ganz. Viele Klischees dieses Subgenres reihen sich aneinander und vor allem die abschließende Auflösung ist viel zu schnell zu erkennen, so dass die Handlung in einer mittleren Geschwindigkeit eher dahin fließt als packend unterhält. Hier verschenkt die Autorin viel zu viel Potential.  

 Zusammengefasst sind die fünf letzten Originalgeschichten des Jahres 2016 in „Clarkesworld“ qualitativ solide bis teilweise sehr gute Arbeiten. Klassische Science Fiction Themen werden aufgenommen und alle Texte betrachtend flott, aber nicht immer gänzlich zufrieden stellend erzählt. Bei den Nachdrucken ragt Nancy Kress Novelle als einer der besten Nachdrucke des ganzen Jahres 2016 aus der Masse heraus. Insgesamt ist 2016 qualitativ für das Magazin ein sehr gutes Jahr gewesen, in dem es seine Spitzenposition hinter den drei großen Publikationen "Analog", "Isaac Asimov´s..." und schließlich "The Magazine of Fantasy and Science Fiction"  hauchdünn vor dem ambivalenten Online Magazin "Uncanny"  in einem ohne Frage immer schwieriger werdenden Umfeld festigen konnte. Und die vorliegende Nummer ist ein schlagender Beweis dafür.