Zwischen zwei Welten

Zwischen zwei welten, Titelbild, Rezension
Algis Budrys

Algis Budrys „Who“ ist nicht nur durch die ein wenig verunglückt erscheinende Adaption in den siebziger Jahren der bekannteste Roman des Amerikaners. Für die E Book Neuausgabe musste das wunderschöne Titelbild der Originalausgabe bzw. der Veröffentlichung im Ullstein Verlag geopfert werden. Das Buch ist 1958 mitten in der Zeit des Kalten Krieges veröffentlicht worden. Aus heutiger Sicht mit der genetischen Forschung und der eindeutigen Identifizierung eines Menschen an Hand eines Haares wird die zugrunde liegende Handlung natürlich „ad absurdum“ geführt, aber für einen Roman aus den fünfziger Jahren antwortet der Antwort ausgesprochen geschickt auf jede Herausforderung, welcher sich der amerikanische Geheimdienst bei der Identifizierung des Wissenschaftlers mit einer weiteren Frage. Wie bei den russischen Puppen löst Algis Budrys das potentielle Rätsel nicht auf der Haupthandlungsebene auf, sondern greift nicht immer spannungstechnisch zufrieden stellend auf einen zweiten Handlungsbogen zurück, in dessen Verlauf der Leser die schockierende, aber vom offensichtlich russischen Geheimdienst nicht so geplante Lösung erfährt.

 Der Roman selbst spielt aus dem Jahr 1958 gesehen in der nahen Zukunft. Den Sechziger Jahren. Dicht an der Grenze findet geheime Forschung statt. Dabei ist das zu erforschende „Objekt“ eher eine Art MacGuffin, denn mit einem Codenamen versehen geht Budrys nicht wirklich in die Details ein. Es scheint sich um eine physikalische Kraftquelle von ungeahnten Dimensionen zu handeln. Warum diese wichtige Forschung ausgerechnet in der Nähe zur russischen Grenze – dabei bleibt ebenfalls offen, welcher der Pufferstaaten zwischen der NATO und der russischen Verteidigungsorganisation von Budrys genommen worden ist – stattfindet, beantwortet der Autor nicht. Gefährlichkeit kann kein Argument sein, da unter anderem so belebte Gegenden wie Alaska sich anböten.

 Es kommt zu einer gewaltigen Explosion. Bevor die westlichen Rettungskräfte ausrücken und Überlebende bergen können, haben die russischen „Rettungskräfte“ schon den führenden Wissenschaftler Dr. Lucas Martino „entführt“, um ihm das Leben zu retten. In der Vergangenheitshandlung offenbart Budrys, dass die Russen schon lange auf eine Möglichkeit gewartet haben, um den Mann zu entführen und der Unfall ihnen einfach in die Karten gespielt hat. Martino ist mehr tot als lebendig. Sein Kopf ist von einer Metallkugel umgeben, die seine normalen Funktionen wie Atmung inzwischen kontrolliert und die extremen Kopfverletzungen überdeckt. Ein Arm musste ersetzt werden. Im Grunde ist Martino nach zahlreichen Operationen durch medizinische Wunder mehr Mensch als Maschine. Als ihn die Russen nach mehrmonatigen Verhandlungen schließlich wieder in einer an John le Carres „Der Spion, der aus der Kälte kam“ erinnernden Szene über die Grenze anscheinend in Berlin in den Westen abschieden, ist für die Geheimdienste nicht erkennbar, ob es sich wirklich um Martino handelt oder einen Schläfer, den die Russen mit dem Wissen des Wissenschaftlers ausgestattet, einschleusen wollen.

 Der Leiter der amerikanischen Geheimdienststation muss herausfinden, ob die Russen wirklich Martino zurück geschickt haben. Ein klassisches Paranoiaszenario, das die Urängste des amerikanischen Geheimdiensts ausgesprochen fokussiert und vor allem fundiert zusammenfasst. Budrys wirft die Leser und gleichzeitig auf Augenhöhe hinsichtlich der Haupthandlung auch die amerikanische Geheimdienste ohne richtige Vorbereitung in dieses Szenario. Erst im Laufe des Buches holt Algis Budrys die Vorgeschichte nach. Ohne vorweg zu greifen bleibt auch hier die Frage, ob diese Kapitel auch wirklich die „Wahrheit“ sind oder der Autor mittels einem unzuverlässigen Erzähler die Leser noch weiter verwirren möchte. 

 Kritisch gesprochen könnte die Vergangenheitsebene nur ein mögliches Szenario beantworten. Die Planung des russischen Geheimdiensts ist umfangreich und die Idee, Martino gegen einen perfekten unidentifizierbaren, sich selbst aber auch hinsichtlich seiner Humanität opfernden Doppelgänger auszutauschen entwickelt sich erst während der Phase, als die Ärzte Martino zumindest so weit zu retten suchen, um ihn verhörbereit zu machen. Vielleicht wirkt der Plan in mehrfacher Hinsicht zu umfangreich und ausführliche Recherchen der Amerikaner hätten die Möglichkeit impliziert, dass es sich wirklich um einen langfristigen Plan handelt, so wie entsprechende Hinweise hinterlassen.     

 Algis Budrys beginnt seinen Roman nach der Rückgabe Martinos mit einem klassischen Szenario. Die Identität Martinos kann nicht festgestellt werden. Fingerabdrücke funktionieren nicht, da der Arm einfach einem anderen Menschen mit der gleichen Blutgruppe transplantiert werden könnte. Erinnerungen sind subjektiv, zumal Martino auch geschickt operiert. An die Details seiner Forschung kann und will er sich nicht erinnern. Den Russen hat er nach eigener Aussage keine Informationen gegeben. Die persönlichen Erinnerungen sind so oberflächlich, dass sie auch von anderen Quellen stammen könnten. Es gibt keinen Beweis, dass es sich um Martino handelt. Im Gegenzug gibt es auch keine Fakten, die gegen seine Identität sprechen. Martino ist wie vorher bei den Russen ein Gefangener eines in diesem Fall kapitalistischen Systems, das auf Paranoia, Angst und vor allem auch Gier basiert. Sein Gegenspieler ist der örtliche Leiter des amerikanischen Geheimdienstes, der irgendwo zwischen Sympathie dem Schwerstverletzten gegenüber und seiner Pflicht buchstäblich gefangen ist. Seine Vorgesetzten erwarten Ergebnisse, die unrealistisch sind.

 Die einzige Möglichkeit erscheint auf den ersten Blick unlogisch. Sie entlassen Martino mit einer Pension und schicken ihn in die Freiheit. Martino möchte seine inzwischen verheiratete und verwitwete Jugendliebe in New York treffen. Auch hier verfügt der Leser durch die Rückblicke über einen allerdings eher bescheidenen Wissensvorsprung gegenüber den Charakteren. Auch wenn sie ihn ihm einen Seelenverwandten erkennt, zeigt sich an einer anderen Stelle, dass der Mann aus „Metall“ – zumindest hinsichtlich eines Teils seines Körpers und seines Kopfes – von der Öffentlichkeit wie ein Zirkusfreak angesehen wird. Er findet keine Bindung zu seinen Mitmenschen. Auf der anderen Seite kann er sich auch nicht mehr vorstellen, an diesem ultimativen Projekt zu arbeiten.

 Das Ende der Haupthandlung ist fatalistisch und verblüfft zu gleich. Martino offenbart sich vordergründig seinem Ansprechpartner beim Geheimdienst und scheint damit die Hexenjagd auf ihn zu beenden. In der Rückblende erfährt der Leser, dass die Fakten nicht ganz so einfach sind und der Plan der Russen deutlich umfangreicher und vielleicht wie erwähnt auch unrealistischer erscheint als angedacht.

 Algis Budrys weigert sich, die geheimdienstlichen Fragen abschließend zu beantworten. Es geht ihm um menschliche Fragen. In „Projekt Luna“ wurden immer wieder Klone auf den Mond geschickt, um ein außerirdisches Artefakt zu untersuchen. Nach der x- Ten Expedition stellte sich die Möglichkeit ein, das die einzelnen, stetig an den tödlichen Herausforderungen wachsenden Klone menschlicher sind als die Originale. In „Michaelimas“ geht es um die Frage, ob ein Astronaut wirklich tot ist oder einen Absturz vor der entscheidenden Expedition schwer verletzt überlebt hat. Auch hier fällt es der Öffentlichkeit in Form des allgegenwärtigen Late Night Talkers schwer, zwischen den Fakten und den Spekulationen zu unterscheiden. Auch diese Fragen wirft „Zwischen zwei Welten“ deutlich pointierter, differenzierter und vor dem Hintergrund einer fast klassischen Spionagegeschichte auch politischer auf, um eine Beantwortung nicht unbedingt frustrierend, aber fordernd dem Leser zu überlassen. Das es Budrys gelingt, für einen gesichtslosen, in den Rückblicken fast autistisch fokussierten Wissenschaftler mehr Sympathien zu empfinden als für dessen emotional unterkühlte und von der Angst vor dem anderen System getriebenen Antagonisten ist eine der Stärken dieses auch heute noch unter den eingeschränkten Prämissen der damaligen Technik lesenswerten Psychothrillers.   

  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 909.0 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 187 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (11. Juli 2016)
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B01H6ZM2P2