Clarkesworld 124

Clarkesworld 124, Neil Clarke, Rezension
Neal Clarke

Neil Clarke eröffnet das Jahr 2017 mit dem Wunsch, manchmal wieder Kind zu sein und sich von den japanischen Monsterstreifen einfach mitziehen zu lassen. Darum soll vor allem diese Ausgabe auch unter dem "Sense of Wonder" stehen und mehr Space Operas anbieten. Das Interciew ist mit dem Autorenduo, das sich hinter dem Pseudonym James Corey versteckt. Es geht vor allem um ihre sehr erfolgreiche Space Opera Serie "The Expanse", wobei der Leser mehr und mehr das Gefühl hat, als käme es weniger auf den Inhalt drauf an, sondern alles muss möglichst größer, besser und schöner sein. Daher bleiben die Fragen oberflächlich und die Antworten erinnern eher an Pressetexte. Im sekundärwissenschaftlichen Teil geht es zum einen um das Gehirn und die Möglichkeiten, dessen Leistungskraft auf natürlichen wie künstlichen Weg zu steigern. Der vierte ebenfalls durch die mangelnde Tiefe nicht befriedigende Artikel setzt sich mit Dystopien und deren Auswirkungen auseinander. 

Sehr viel besser sind die beiden Nachdrucke, in denen die Idee des Herausgebers, wieder in die Tiefen des Alls zu gehen und märchenhafte Visionen vor einem technokratischen Hintergrund zu erzählen, effektiv umgesetzt wird. Aliette de Bodard präsentiert in "The Shipmaker" eine Idee, die sie in ihrer prämierten Geschichte "Shipbirth" aus einer anderen Perspektive umgesetzt hat. In dieser Zukunft werden Raumschiffe im Grunde nicht gebaut, sondern "geboren". Dac Kien designed diese gigantischen wunderschönen Raumschiffe nach den Gesetzen Feng Suis, um die in der Theorie perfekt ausbalancierte Mischung zwischen den biologischen Teilen und den synthetischen Bestandteilen harmonisch zusammenzusetzen.  Als eine der "Mütter", welche die Gehirn für die Raumschiffe "austragen" zu früh erscheint, kommt es nicht nur zu zwischenmenschlichen Problemen.  Die Autorin baut eine Verbindung zwischen der Geburt des Raumschiffes und einer menschlichen Schwangerschaft mit ihren Ängsten und Hoffnungen, Erwartungen und Enttäuschungen, Triumphen und Tragödien auf. Sie hat die chinesische Pseudowissenschaft in erster Linie durch Feng Sui ersetzt, bietet aber bis auf die interessante, melacholische Stimmung zu wenige neue Ideen an. Wer die erste Geschichte nicht kennt, wird von den kraftvollen Visionen dieser futuristischen Welt überrascht sein, wer "Shipbirth" gelesen hat, dem kann die Autorin  leider nichts Neues zeigen. In dieser Hinsicht ist die vorliegende Story enttäuschend.   

John Kessels "Events preceding the Helvetian Renaissance" ist eine dieser Novellen, die so viele kleine Ideen im Verlauf der Handlung präsentieren, dass der Leser das abrupte, stark konstruierte Ende gar nicht mehr richtig wahrnimmt.  Eine ferne und doch vertraute Zukunft. Eine Art Kampfmönch, der geheime Schriften gestohlen hat. Mit ihnen könnten die außerirdischen Invasoren in die Knie gezwungen werden. In seiner "Tasche" hat er eine Kriegerin versteckt, die vor sechzig Jahren "gefaltet" und damit in einen Tiefschlaf versetzt worden ist. Gemeinsam bilden sie eine Zweckgemeinschaft und müssen sich gegen eine Reihe von bizarren und von John Kessel ein wenig überzogen beschriebenen Gefahren zur Wehr setzen, bis vor allem der Erzähler erkennt, dass er genarrt worden ist. Nur eine Befehlsverweigerung kann der Galaxis Frieden bringen. Von einem hohen erzählerischen Tempo getrieben mit einer Reihe ungewöhnlicher, einer ernsthaften Space Opwera widersprechender Ideen und stilistisch dem getragenen Ansatz von historisch verklärten Balladen unterhält John Kessel trotz des aus dem Nichts auftauchenden, alleine von der Fremdartigkeit der Außerirdischen geprägten Endes gut bis exzentrisch. Vielleicht hätte die Romanform diesem Text sogar gut getan, zumal viele der kleinen Nebenkriegsschauplätze inklusiv der gut gezeichneten Charaktere vor dem Auge des Betrachters vorbeihuschen und nicht ausreichend genug erklärt werden. Eine Mission, eine Suche sind immer gute Ansatzpunkte, um vor allem in einem farbenprächtigen wie fremdartigen, aber auch irgendwie vertrauten Universum möglichst viele kleinere Höhepunkte zu entwickeln und so immer wieder den Spannungsbogen zusätzlich zu befeuern.   

 Die erste Geschichte des Jahres 2017 ist „The Ghost Ship Anastasia“.  Rich Larson präsentiert einen in der Exposition fast klassischen Space Thriller, in dem eine schon von Beginn an reduzierte Crew eines Bergungsschiffes an einem Störungen aufweisenden gigantischen Raumschiff mit anscheinend biologischen Proben andockt. Das Schiff ist – nicht die einzige Geschichte dieser Sammlung – halb aus Metall, halb aus Fleisch, wobei diese Synthese nicht nachhaltig genug erläutert wird. Kaum hat die Crew die grundlegenden Probleme gefunden, beginnt ein Wettrennen ums Überleben, da die auf dem Schiff zurück gebliebene künstliche Intelligenz gerne die ursprüngliche Crew komplett bei sich behalten hätte und eines der Besatzungsmitglieder „flüchtet“ ist. Die Charaktere sind ausgesprochen gut gezeichnet und die Spannungsschraube wird mit einer modernen Hommage an „Alien“ immer weiter geschraubt. Rich Larson ist sich auch nicht zu schade, ein überzeugendes, wenn auch dunkles Ende zu präsentieren, so dass seine Kurzgeschichte insbesondere für einen „jungen“ Autoren einen starken Auftakt des neuen Jahres darstellt.

Die längste Geschichte der Ausgabe ist „Interchange“ von Gary Kloster.  Lucy hat vor einiger Zeit einen Menschen getötet, den sie geliebt hat. Diese Tat hat Narben hinterlassen.  Die Handlung spielt in einer Art Zeit- Raum Kontinuum, in welchem die einzelnen Protagonisten isoliert worden sind.  Durch einen Zufall dringt etwas in dieses Feld ein. Die Menschen müssen sich mit dem Fremden auseinandersetzen. Gary Kloster spielt dabei sehr geschickt die „Alien“ Karte, in dem er die fremde Kreatur als feindselig einstufen lässt. Erst im Verlaufe der komplizierten Handlung werden diese absichtlich eingegangenen Positionen wieder aufgelöst.   Geschickt verstärkt der Autor die gotisch bedrohliche Atmosphäre mit fast absichtlich entwickelten Klischees. In der zweiten Hälfte des Plots wird noch eine andere Position manifestiert. Das Treffen von Entscheidungen eines Individuums für eine nicht geordnete Gruppe. Während diese Individuen ansonsten meistens die „Helden“ sind und mit ihrer Initiative den Tag retten, geht Kloster einen gänzlich anderen Weg und will absichtlich mit einer gebrochenen Heldin einen anderen Weg gehen. Die Interaktion zwischen den sorgfältig gezeichneten Charakteren, dem Fremden und schließlich dem seltsamen, sehr variabel eingesetzten Hintergrund fordert die Leser förmlich heraus.  Am Ende überspannt Kloster den Bogen und fügt zu viele seltsame, nicht sorgfältig genug extrapolierte Ideen seiner bis dahin guten Geschichten hinzu, so dass abschließend die Herausforderung über das einfache Lesevergnügen siegt. Es ist eine ambitionierte Arbeit, der am meisten herausfordernde Text dieser Sammlung.      

„A Series of Steaks“ von Vina Jie- Min Prasad ist eine wunderschöne Gangstergeschichte. Ein reicher Industrieller möchte von zwei Frauen, die eine 3 D Firma betreiben, entsprechende „Drucke“ von mehreren tausend Steaks für eine Feier erhalten. Diese Drucke sind anscheinend so perfekt, dass sie auch geschmacklich nicht von den kaum zu finanzierenden Originalen zu unterscheiden sind.   Die beiden sympathischen Fälscher bzw. Künstler machen sich an die minutiöse Arbeit, wobei ihr Auftraggeber erst bezahlen will, wenn die Steaks geliefert worden sind. Die Vorbereitung mit allen kleinen Schwierigkeiten wird ausführlich immer mit einem Schuss Humor beschrieben.  Die beiden Fälscher sind sich ihrer Verpflichtung bewusst. Am Ende haben sie buchstäblich den längeren Atem und „rächen“ sich auf eine kuriose Art und Weise an dem Auftraggeber, der natürlich nicht alles gleich bezahlen möchte.  Beginnend mit dem schönen Titel eines der fröhlichsten Geschichten dieser Ausgabe, ohne albern zu erscheinen.  

Aus Italien stammt "Milla" von Lorenzo Crescentini und Emanuela Valentini in der Übersetzung von Rich Larson. Es geht um künstliche Intelligenz und das Zusammenleben von Mensch und "Maschine". Vielleicht liegt es an der Übersetzung, aber als Ganzes wirkt der Text eher bemüht und versucht zu verzweifelt, eine Atmosphäre aufzubauen, die durch das zu offene Ende wieder negiert wird. Lettie Prell zeigt dagegen mit "Justice Systems in Quantum Parallel Probalities" eine interessante Variation der zukünftigen Strafvollzugs. Die Opfer sollen die Strafe für den Täter bestimmen, wobei sie auch hier ein gewisses Rechtsempfinden zeigen muss. Der Protagonist scheint sich dagegen nicht an seine Tat zu erinnern, er reagiert ausschließlich auf die von außen einströmenden Empfindungen. Das Ende der Story ist zu offen, lässt zu viele Möglichkeiten ungenannt. In erster Linie baut Lettie Preel auf ihrer eingangs erwähnten Idee ein zufriedenstellendes, aber zu dünnes Gerüst auf, um auch angesichts der Kürze des Textes nachhaltig überzeugen zu können.

Zusammengefasst mit einem Schwerpunkt auf klassischen Science Fiction Themen – deren Tiefe zeigt sich erst während der Lektüre – eine sehr gute Auftaktausgabe, beginnend mit dem stimmungsvollen wie passenden Titelbild.  Interessant ist, das fast alle Autoren auf den Hard Science Ansatz verzichten und selbst gängigen Ideen wie gigantischen Raumschiffen nicht nur Persönlichkeiten verleihen, sondern diese auch zum Leben erwecken.