Clarkesworld 145

Neil Clarke (Hrsg.)
In seinem Vorwort spricht  Herausgeber Neil Clarke nicht nur vom Start der bevorstehenden Buchreihe mittels Crowdfunding, sondern auch über die Veränderungen bei "Clarkesworld".  Statt zwei Nachdrucken soll es zukünftig zu Gunsten von neuen Texten nur noch einen Reprint geben,  das Schwestermagazin "Forever"  mit seinem ausschließlichen Fokus auf Nachdrucken soll gestärkt werden.  Das Problem der letzten "Clarkesworld" Ausgaben lag aber auf der Qualität der  Originaltexte,  während die Nachdrucke nicht selten stärker gewesen sind. Es bleibt abzuwarten,  ob Neil Clarke sich mit dieser Vorgehensweise nicht schwächt.  Auch wenn es bei den E Books vielleicht zu weniger herauskommt, verfügt "Clarkesworld" seit einigen Jahren über die originellsten und interessantesten Titelbilder des Genres und auch der Herbst setzt diese Traditon fort.  Sie haben keinen direkten Bezug zu den einzelnen Geschichten, fangen aber die  Aufmerksamkeit der Leser ohne Probleme ein.
 
Chris Urie interviewt den eher für seine Fantasy bekannten Steven Erickson, der mit  der ironischen First Contact Story "Rejoice" diesem Subgenre neue Impulse verliehen hat. Julie Novakova geht auf  die Parasitäten in der Sciencce Fiction in einem direkten Vergleich mit den Fakten der gegenwärtigen parasitärfen Bevölkerung der EDrde ein, während Sarah Pinsker ausführlich in "In praise of Taking It Slow" über den Reifeprozess von Kurzgeschichten und Romanen reveriert, die wie guter Wein manchmal länger in den Speichern der Computer verharren müssen. 
 
Bei den neuen "Clarkesworld" Geschichten fällt auf, dass Autoren  aus China, Irland und schließlich Deutschland vertreten sind. Nur ein Amerikaner bestreitet eine Art Minderheitenkontext. Obwohl die Inhalt sehr unterschiedlich sind,  stehen in drei der mit den Nachdrucken insgesamt sieben Texte  geschlechtsneutrale  Protagonisten im Mittelpunkt. Bei ebenfalls drei Geschichten spielt der Plot in sehr unterschiedlichen postapokalyptischen Zeiten.
 
Irland eröffnet den "Clarkesworld" Herbst. "The  Miracle Lambs of Minane"  aus der Feder Finbarr O `reillys ist eine dieser  für  Irland so stimmungsvollen wie sentimentalen Geschichten, in denen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander prahlen.  Der Autor hat absichtlich einen Rahmen gewählt, aus dem ein unbekannter Protagonist heraus seine Geschichte erzählt. Dabei finden sich bezüge sowohl auf die Seuche des Jahres 1840, in dem Irland große Teile seiner Bevölkerung verloren hat als auch hinsichtlich der gegenwärtigen Diskussionen hinsichtlich von Abtreibungen.  Diese Seuche in der Zukunft hat nicht nur einen großen Teil der Bevölkerung dahin gerafft, anscheinend ist die ganze Ökonomie inklusiv der Landwirtschaft zusammengebrochen.  Die Politiker hoffen verzweifelt auf ein Bevölkerungswachstum, so dass eine ehemalige Wissenschaftlerin, die aus der Antike bekannte Kräuter gegen ungewollte Schwangerschaften vertreibt, zu einer ketzerin werden kann. Mit vielen kleinen Details und sympathischen Charakteren präsentiert der Heimat verbundene Autor einen interessanten Auftakt, der bekannte Sujets des Genres in einem neuen Gewand präsentiert.
 
Nur wenige phantastische Bezüge, aber angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verdrängungsentwicklung bei den einfachen Jobs lesenswert  ist "Sparrow" Yilin Wang trotzdem eine lesenswerte Story.  Der gerade arbeitslos gewordene Fensterputzer Chongqing träumt davon, der legendäre  asiatische Robin Hood Sparrow  Li zu werden.  Die Realität  ist aber, dass alle trotz der Gefährlichkeit der Arbeit an den Fenstern der Hochhäuser wenig bezahlen und schnell rationalisieren, wenn Roboter die Arbeit übernehmen können.  
 
Aus Deutschland stammt "When we were Starless" von Simone Heller.  Es ist die zweite postapokalyptische Geschichte  dieser "Clarkesworld" Ausgabe.  Mink ist eine Art gesegneter Beschützer ihrer kleinen Gemeinde von Nomaden. Sie muss die "Geister" vertreiben, wobei die Schwierigkeit ihrer Aufgabe zusätzlich in der Tatsache  liegt, dass die Nomaden ansonsten gerne bei Bedrohungen ihre Sachen packen und verschwinden, die Schwachen,  Alten und Kranken zurücklassend.  Die Autorin lässt ihre Geschichte sich entwickeln, sie verzichtet auf  weitergehende Erklärungen. Hinzu  kommen sehr menschliche dreidimensionale Protgaonisten, so dass die wenigen vielleicht bekannten Genreversatzstücke weniger stark auffallen als in Texten, die oberflächlicher strukturiert worden sind.
 
Die dritte postapokalyptische Story  "The Facecrafter" von Anna Wu spielt in einem Bunker.  Die Menschen versuchen dort seit Jahren eine Art Minimalkapitalismus aufzuziehen. Ihre Aufgaben werden mehr und mehr zu ihren Bezeichnungen, ihr verdientes Geld stecken sie in virtuelle Spiele bzw.  das Paradies Eden.  Ling Xi überwacht einen der Bunkerabschnitte, in dem Meisterwerke aufbewahrt werden.  Als diese Objekte ohne Spuren zu hinterlassen gestohlen werden, macht sie sich auf die Suche. Die Autorin hat einige mystische chinesische Bezüge eingeflochten, aber als Ganzes wirkt die Story  vor  allem hinsichtlich ihrer Pointe ein wenig zu behäbdig, zu schwerfällig und abschließend bemüht. 
 
Auch wenn die Grundidee auf den ersten Blick bekannt vorkommt, ragt Suzanne Palmers "Thirty- Three Percent" aus dieser Masse an Geschichten heraus. In einer fernen Zukunft werden weiterhin Kriege vor allem mit dem Fußvolk ausgefochten. Zu den Infanteristen gehört Joe, dessen Vater ebenfalls gedient hat. In diesem als Extrapolation der politischen Gegenwart neuen Bürgerkrieg innerhalb der USA gehört Joe zu den Soldaten, die zu einem Drittel - wie der Titel der Geschichte impliziert - durch künstliche Gliedmaßen mit eigenen künstlichen Intelligenzen ausgestattet aufgemotzt worden sind. Teilweise durch die erhaltenen Verrstümmelungen, teilweise auch nur, um effektiver kämpfen zu können. Bei dem Cyborg Joe kommt aber eine Besonderheit hinzu. Die künstlichen Gliedmaßen haben eigene Interessen und einen eigenen Überlebensinstinkt, der vielleicht Joes Mission entgegenstehen könnte. Neben dieser effektiv ausgeführten Idee überzeugt vor allem auch der dunkle Hintergrund der Story, der ohne Polemik oder Pathos glaubwürdig entwickelt worden ist. Auch der Überlebenswillen der einzelnen Teile und ihre Mission, Joe aus der unmittelbaren Gefahr zu halten und ihn so mittelbar durch die Befehlsketten in eine gänzlich andere schwierige Lage zu bringen, hebt den Text aus der Masse vergleichbarer Geschichten positiv heraus und macht sie zu einer der besten Veröffentlichungen seit einiger Zeit in "Clarkesworld".
 
Die beiden Nachdrucke stammen von Aliette de Boddard und Ian McDonald. Ian McDonald  präsentiert eine seiner im "Luna" Universum spielenden Geschichten. Es ist nicht unbedingt notwendig, die beiden bisher veröffentlichten Romane zu kennen, aber es erhöht das Lesevergnügen, mit den Hintergründen der lunaren Gesellschaften unter der Ägide der legendären fünf Drachen zumindest rudimentär vertraut zu sein.  Der Psychater Nuur behandelt die künstliche Intelligenz Callisto, die sich auf dem Weg zum Saturn befindet. Auf der anderen Seite muss Nuur mit ihrer wilden Tochter Shabina fertig werden, die als auf dem Mond geborene dieUmgebung ganz anders einschätzt als ihre vorsichtigere Mutter. Die Mischung aus familiären Problemen und der herausfordernden Umgebung des Monds, die politischen Ränkespielen zwischen den einzelnen Clans und schließlich die Idee einer  fühlenden künstlichen Intelligenz in der Einsamkeit dort draußen unterhält vor  allem durch die sehr kompakte  Präsentation des Textes. Wer die beiden "Luna" Romane kennt, wird sich gleich wohl, andere neue Leser werden zumindest die Ansätze und sozialen Beziehungen erahnen können, auf denen Ian McDonald sein Universum aufgebaut hat.  
 
"In Everlasting Wisdom" von Aliette De Boddard ist eine ihrer fast typischen Geschichten, in denen sie vordergründig mit großen Ideen spielt, die sie aber auf einer fokussierten, sehr konzentrierten Ebene erzählen möchte. Ein anscheinend telepathisch begabter Außerirdischer präsentiert sich in Anlehnung an die chinesische Mythologie als ewiger Herrscher, der die Emotionen der Menschen manipulieren kann.  Ai Thi ist eine Art Mittlerin, die sich freiwillig gemeldet hat.  Als  ihr eigenes Leben bedroht wird, entschließt sie sich, aus ihrer passiven fast fatalistischen Haltung auszubrechen. Die Charaktere sind exzentrisch, der Hintergrund durch einige Andeutungen ausreichend beleuchtet und trotzdem will  keine echte Spannung aufkommen, da die Autorin zu sehr mit der Komplexität der einzelnen Beziehungen beschäftigt ist als mit einer kontinuierlichen Handlung.  Es ist nicht der erste Texte, der unter dieser Diskrepanz leidet und manchmal wünscht man sich, dass Aliette De Boddard für  einige ihrer anspruchsvollen Texte einen Co Autoren findet,  der ihre plottechnischen  Schwächen mit guten Ideen ausgleicht.  
 
Zusammengefasst präsentiert sich der Oktober, der Halloween Monat im Magazin "Clarkesworld" in einer guten Verfassung. Neben einigen thematischen Überschneidungen sind es vor allem die verschiedenen originellen Konzepte aus unterschiedlichen Teilen der Erde, welche für den Leser überraschend sehr harmonisch wirken.