Clarkesworld 149

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke blickt in die Zukunft mit neuen Projekten und aufgrund der alljährliche Auswahl der besten Titelbilder und Kurzgeschichten auch in die Vergangenheit. Ergänzend sind in diesem Zusammenhang Cat Rambos mahnende, vielleicht titeltechnisch mit "Stories that Change the World" zu sehr aufgemotzte Worte. Sie geht auf ihren Online Schriftstellerkurs ein. 

Suzanne Palmer spricht im Interview mit Chris Urie über ihre gegenwärtigen Projekte, aber auch ihre Wurzeln als Science Fiction Fan. Abgerundet wird der sekundärliterarische Teil durch Douglas F. Dluzens Exkurs in die gefährliche Welt der Mikroben. Danach weiß der Leser, wie fragil das Leben auf der Erde sein könnte.

Zwei Nachdrucke stehen dieses Mal eine Handvoll neuer, dafür auch kürzerer Geschichten gegenüber. Dabei ist Masse nicht unbedingt gleich Klasse, wie die nachdenklich stimmende umfangreich kürzeste Story dieser Februar Clarkesworld Ausgabe nachhaltig beweist. Suo Hefus "The Butcher of New Tasmania" zeigt ein auch heute politisch relevantes Dilemma auf. Um vielleicht hunderttausende von Menschen zu schützen, müssen brachiale Methoden ergriffen werden. Aber lassen sie sich auch wirklich rechtfertigen? Mehr als einhundert Jahre nach seinen Taten aus dem Tiefschlag erweckt rechtfertigt sich Larry Wu weniger gegenüber den Gerichten, sondern vor den Lesern. Von Beginn an wird deutlich gemacht, dass die Anklage auf Völkermord lautet. Das erhöht die Spannung.  Das Experiment ist aus seiner Sicht geglückt und eine Teilrasse auf dem erdähnlichen Planeten New Tasmania - die Siedler stammen alle von der Erde ab - konnte in den nächsten Generationen genetisch verändert werden. Der kleine Eingriff hätte aber auch schief gehen und die sozialen Strukturen auf dem Planeten zerstören können. 

Nur weil das Experiment positiv verlaufen ist von einer Strafe abzusehen erscheint genauso absurd wie bei einem negativen Verlauf den Verursacher zu verurteilen. Es gibt keinen Mittelweg und die Autorin geht im Grunde den schwierigen Konflikten aus dem Weg, in dem sie alles gut gehen lässt. Es wäre interessanter gewesen, unabhängig von der Brisanz einem Larry Wu zuzuhören, der entweder sein Scheitern bei guten Absichten oder noch schlimmer fatale Folgen bei einem neutralen Experiment hätte rechtfertigen müssen.  

Bo Balders „The Face of God“ ist eine surrealistische Fantasy Geschichte. Ein gigantischer “Gott” – dieser Begriff wird von den Einheimischen benutzt, es gibt aber keinen nachhaltigen Beweis – ist auf die Erde gefallen und die Menschen nutzen seine Haut zu Heilungszwecken, in dem sie immer wieder unter Lebensgefahr Teile der Haut abkratzen. Die Ausgangsbasis erinnert ohne Frage an Gullivers Reisen. Der mutige Erzähler möchte zum Gesicht vordringen, das noch niemand als Abbau Ort benutzt hat. Bo Balder gelingt es, die groteske Ausgangsbasis sehr überzeugend zu beschreiben und die Herausforderungen dieses besonderen „Bergsteigens“ in cineastische Bilder zu fassen. Das Problem ist der Erzähler. Er wirkt arrogant und überheblich. Der Funke der Sympathie springt nicht über und viele seiner Monologe gehen im Grunde ins Leere. Manchmal wünscht man sich, dass der Gott ihn einatmen und damit die Geschichte fatalistisch, aber auch konsequent enden ließe.

„East of the Sun, West of the Stars“ aus der Feder Brit E.B. Hvides ist eine Variation des Themas Generationenraumschiff. Faiths Tochter gehört zu den Menschen, die an Bord des Raumschiffs geboren worden sind. Sie scheint körperlich verkrüppelt zu sein und die abergläubische Faith setzt diese Veränderungen in einen Zusammenhang mit ihren kontinuierlichen Träumen. Auch wenn der Hintergrund der Aussiedler genau wie die mit genommene Technik eher ambivalent beschrieben worden ist und vor allem die Idee, ein Raumschiff zu „kaufen“ und als anscheinend indianisches Volk die Erde als Ganzes zu verlassen ohne Frage faszinierend ist, macht die Autorin aus der Prämisse viel zu wenig. Auch der religiöse Konflikt zwischen Faith und ihrem Mann; die Idee Geschichten unterschiedlich zu erzählen, um Kinder auf ein Leben vorzubereiten, das sie wahrscheinlich wegen der Länge des Fluges nicht haben werden und schließlich das seltsame Ende werden angedeutet, aber nicht zufrieden stellend erläutert. Es ist schwer, die Geschichte in der vorliegenden Form zu mögen; es ist aber noch schwieriger, in der Prämisse Material für eine Novelle oder gar einen Roman zu sehen.     

Robert Reed geht in „Painwise“ auf eine Zukunft ein, in welcher fast alle Weltprobleme gelöst sind. Natürlich handelt es sich dann nicht folgerichtig um Paradiese, sondern eine neue unheilbare Krankheit namens Rampart ist ausgebrochen. Die Wurzeln und Ursachen sind nicht bekannt. Nur sind Milliarden von Menschen von einem langsamen und schmerzvollen Tod bedroht. Der Erzähler muss damit fertig werden, dass seine Frau an Rampart erkrankt ist. Robert Reed fasst zehn Jahre in wenigen Absätzen zusammen und zeigt auf, wie sich diese Krankheit um die Erde frisst und gleichzeitig die persönlichen Höhen und Tiefen einer derartigen Beziehung. Doch der Funke der Kurzgeschichte will nicht überspringen. Auch wenn der Autor gegenwärtige Erkrankungen extrapoliert und manche Aspekte Ramparts auch an AIDS erinnern, fehlt dem Text wahrscheinlich die notwendige Länge, um den Leser mit den einzelnen Protagonisten angesichts des Zeitraums bekannt zu machen und mehr mit den Figuren zu fühlen.

„Give the Family my Love“ von A.T. Greenblatt verfügt über eine Ausgangsprämisse. Die Protagonistin und Erzählerin – der Text ist als Monolog, als Botschaft an ihren Bruder Saul aufgebaut – berichtet von ihrem Besuch in einer Art intergalaktischer Bücherei, die mehr als dreißig Lichtjahre entfernt von Fremden errichtet worden ist. Hazel hofft, dort Informationen zu erhalten, aus denen sie Hilfe gegen den drohenden ökologischen Kollaps der Erde ableiten kann. Interessant ist, dass tief in ihrem Wesen Hazel im Grunde eine Pessimistin ist, die sich auf eine Selbstmordmission begibt, um die Menschheit zu retten, mit der sie eigentlich nichts wirklich anfangen kann. Dieser emotionale Widerspruch macht sie zu einer erstaunlich dreidimensionalen Figur, über welche der Leser ausschließlich aus der Ich- Perspektive sehr viel selbstkritisches erfährt. Viele andere Wissenschaftler hätten sich mehr in den Mittelpunkt gestellt. Genauso sind ihre Neugierde und ihre Besessenheit überzeugende Aspekte ihres Wesens, während der Hintergrund mit dem langen Marsch – ein Kilometer – in fremder Umgebung nach einer Reise von mehr als dreißig Lichtjahren dramaturgisch aufgesetzt erscheint und abschließend für den Plot plötzlich keine Bedeutung mehr hat.

Die längste Geschichte ist „The Final Ascent“ von Ian Creasey. Nach einem Drittel der Geschichte hat der Leser das unbestimmte Gefühl, einen zukünftigen Award Gewinner in Händen zu halten. Die beiden Protagonisten Lucian und Katherine sind dreidimensionale, eckige aber interessante Protagonisten. Lucian liegt im Sterben. Sein ganzes Leben ist von Abenteuern auf fernen Planeten symbolisiert durch das Besteigen der jeweiligen Berge geprägt worden. Katherine hat lange mit ihm zusammengelebt. Sie war immer eine Wissenschaftlerin, neugierig auf das Fremde. Die einzigen Außerirdischen, denen die Menschen jemals begegnet sind, heißen Ardissians. Sie haben eine bestimmte Art, ein Leben nach dem Tod als Geister zu bestreiten, welche mit den Lebenden vor allem verbal interagieren können. Katherine möchte Lucian auf diese Art ein Weiterleben ermöglichen. Sie will aber gleichzeitig ihre Theorie beweisen, dass sie Ardissians und die Menschen sich näher stehen können als beide Rassen vermuten. Dabei kommen sich die beiden wieder näher, auch wenn der „Tod“ inzwischen eine Barriere zwischen ihnen aufgebaut hat und Lucian sich mehr denn je an seine einzige Bezugsperson klammert.

Schließlich beginnt Lucien, aus Langeweile die Bewohner eines Planeten zu unterrichten. Hier bricht der Handlungsfaden ab und endet in einer Art militärischen Konflikt. Die Realität scheint auch den manchmal wunderbar zynisch mit dem Leser kommunizierenden Geist einzuholen. Hinzu kommt, dass Katherine auch stirbt und dadurch ein interessanter Punkt der ganzen Geschichte plötzlich flach fällt.

Die zweite Hälfte ist solide geschrieben und präsentiert auch noch gute Ideen, aber die überzeugende souveräne Brillanz des ersten Handlungsabschnitts wird leider nicht mehr erreicht, so dass sich im Leser ein Gefühl der Leere ausbreitet.

Zwei Nachdrucke präsentiert Neil Clarke in dieser Februarausgabe. Die kürzere Geschichte stammt aus dem Jahr 2018, ein Jahr vor dem Nachdruck. Sie ist auch die bessere der beiden Arbeiten, vielleicht sogar die beste Geschichte der ganzen Ausgabe.

In einer dunklen Zukunft können die Menschen ihr Wissen verkaufen. Das bedeutet allerdings auch, dass die Erinnerungen aus dem Gedächtnis des Verkäufers gelöscht werden. S. Qiouyi Lu stellt in den Mittelpunkt ihrer Geschichte „Mother Tongues“ eine Mutter, die in der Bay Area das Geld für die Ausbildung ihrer Tochter in Stanford zusammenbringen möchte. Ihr Englisch ist zu schlecht, also muss sie ihre Muttersprache Mandarin für eine exorbitante Summe verkaufen. Niemand soll von ihrem Opfer wissen. Die Autorin zeichnet auf der einen Seite eindrücklich nach, wie wichtig diese Sprache mit die ganze Familie, aber vor allem auch die sich sorgende Mutter gewesen auf. Auf der anderen Seite ist sie ihr einziges wertvolles Gut, um eine bessere Zukunft für ihre Tochter zu ermöglichen. Immer wieder fließen einzelne Sätze in Mandarin in die Geschichte ein, um zu verdeutlichen, wie es später der Protagonistin gehen wird. Isoliert trifft sie alleine die Entscheidung, wobei unabhängig von der überzeugenden Emotionalität des Plots die Frage eher rudimentär und nicht nachvollziehbar beantwortet wird, dass die Vorlage zwangsläufig gelöscht werden muss. Das wirkt nicht überzeugend, dass eine derartig fließende Muttersprache ja immer wieder kopiert und damit mehrfach verkauft werden kann. Der individuelle Preis wird sinken, die Gesamtsumme für beide Seiten aber eher höher sein.

„Digging“ von Ian McDonald stammt aus der Anthologie „Life on Mars“ und ist eher eine Youth Adult Story. Sie passt aber auch sehr gut in das Universum seiner „Mond“ Trilogie.  Die zentrale Idee ist das Terraforming des Mars mit allen Herausforderungen und Gefahren. Kim Stanley Robinson hat über das Thema eine ultimative Trilogie geschrieben, so dass der technische Hintergrund eher ambivalent zu betrachten ist. Ian McDonald erweitert dieses Spektrum durch die Idee, ein ganz tiefes Tal zu graben, in dem sich Atmosphäre sammeln kann. Dadurch wird es für Menschen bewohnbar. Die Grundprämisse ist faszinierend und mit Tash verfügt Ian McDonald über eine derartig dreidimensionale Protagonistin, das man mit ihr fühlt. Sie kann mit der Erde nichts anfangen, der Mars ist ihre Heimat. Am Ende kommt es zu einer Katastrophe, die lange nach hält und alle Menschen inklusiv der Leser erschüttert. Es ist eine solide kurzweilig zu lesende Geschichte um ein bekanntes Thema mit allerdings auch neuen Facetten und einem souveränen Erzähler, der sichtlich Spaß hat, sein eigenes Tal zu erschaffen.

Die Februar Ausgabe von „Clarkesworld“ verfügt über einige sehr gute Geschichten. Dabei handelt es sich um Nachdrucke und Erstveröffentlichungen. Einige der kürzeren Texte erscheinen schwächer, aber alleine die Anzahl der lesenswerten Texte eingeleitet von einem stimmungsvollen Titelbild unterstreicht, dass Neil Clarke das am Ende des Jahr 2018 taumelnde Flagschiff seines Verlages wieder in ruhigeres Fahrwasser gesteuert word