Der Zeittorpedo

Antoni Slonimski

Antoni Slonimskis „Der Zeittorpedo“ stammt aus den zwanziger Jahren. In seinem langen Essay legt sich Stanislaw Lem auch nicht unbedingt genau fest. Viel mehr ergeht sich der Pole in einer Definition des Science Fiction Genres im Kontrast zur gehobenen Literatur und schlägt erst spät den Bogen zur Thematik der Zeitreisegeschichten mit H.G. Wells als verbindendem Glied und eben dieser ungewöhnlichen Science Fiction Story.

 Der Stoff ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Der Auftakt erinnert ein wenig an eine klassische Pulpsituation, wie sie Burroughs, Howard und Jahre später auch Raymond in seinen „Flash Gordon“ Comics beschrieben haben. In einem Buch ohne Helden verunglückt der amerikanische Reporter in einem unwegsamen Gelände, schlägt sich zu einer abgeschieden gelegenen Hütte durch und wird zufällig Zeuge des dort vorzubereitenden Experiments. Mittels eines Zeittorpedos und der entsprechenden Ausrüstung will ein kleine Gruppe in die Vergangenheit reisen. Nicht unbedingt als passive Beobachter oder Opfer einer Zeitfalle oder eines Experiments, sondern gezielt, um der Menschheit durch geschickte Manipulation in einer wichtigen Epoche die grausamen Weltkriege zu ersparen.

 Dabei sind sich die Protagonisten durchaus bewusst, dass ihre Gegenwart überschrieben wird. Aber wie so oft erhoffen sie sich, dass das Schicksal Einzelner vielen Millionen Anderer Segen bringt.

 Das Schlüsselereignis soll die Zeit zwischen der französischen Revolution als Beginn einer demokratischen Bewegung allerdings mit brutalen Exzessen und dem Aufstieg Napoleons sein. Allerdings verschätzen sie sich um ein Jahr und landen zu Beginn des Italienfeldzugs Napoleons.

 Slonimskis Protagonisten verfügen über ein umfangreiches Handwerkszeug. Die Waffen sind ausschließlich futuristisch. Aus der Entfernung können sie jeden Sprengstoff, jede Munition in die Luft jagen. Mit einer anderen „Pistole“ ist es ihnen möglich, einen Menschen oder ein Tier auf eine unbestimmte Zeit einfrieren zu lassen. Abschließend haben sie Schlafgas zur Verfügung. Fortbewegen können sie sich mit kleinen Gleitern.

 Die Landung knapp ein Jahr vor der geplanten Ankunft setzt eine Reihe von Missverständnissen in Gang. Getreu einer frühen Slapstickkomödie folgt auf jede Katastrophe eine Weitere. Sie lernen schnell, dass alleine die Manipulation der Zeit und die Veränderung wichtiger Ereignisse nicht zu den gewünschten Zielen führen können, da immer wieder subversive oder einfach nur strohdumme naive Kräfte eine Gegenbewegung auslösen. So wird der Anführer der Gruppe gezwungen, direkt die Regierungsgewalt in Frankreich zu ergreifen und quasi als demokratischer Diktator in dem Land für Frieden zu sorgen. Die umliegenden Länder sind nicht unbedingt mit dieser Entwicklung einverstanden und planen, den Hort der Volksherrschaft abschließend auf eine sehr geschickte Art und Weise zu eliminieren.

 Der Autor wandelt auf einem sehr schmalen, aus der Sicht der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts aber auch bemerkenswerten Pfad. Auf der einen Seite stellt er sich auf die Seite der Demokraten und zeigt nachdrücklich auf, dass die Monarchie oder zumindest die Oligarchie der falsche Weg sind. Wahrscheinlich noch unter dem Eindruck des zu Ende gegangenen Esten Weltkriegs malt er ein Schreckensbild und hält den naiven Politikern den Eulenspiegel ins Gesicht. Nicht umsonst wird kritisiert, dass die patriotischen Naiven niemals die Sterbenden und Toten auf den Schlachtfeldern gesehen haben, die ihrer Polemik zum Opfer gefallen sind. Die Helden versuchen Schlachten zu verhindern, in dem sie die Heere einschläfern oder die Munition vorzeitig sprengen. In der finalen Auseinandersetzung wird sich zeigen, dass der gewalttätig primitive Geist der Menschen aber diese Klippe umschiffen kann. Das Ergebnis sind Schlachten, die mehr den primitiven Auseinandersetzungen des Mittelalters ähneln.

 Hinter den Kulissen fällt es schwerer, die entsprechend aufgeklärten Menschen zu erreichen. Napoleon zieht sich relativ früh aus dem zeitpolitischen Geschehen auf eine idyllische Insel zurück. Ohne den großmannssüchtigen Kaiser sind es die verschiedenen politischen Kräfte, die sich dem Druck des einfachen wie abergläubischen Landvolkes geschuldet selbst zerreiben.

 Auch wenn die Zeitreisenden über ausreichende Mittel verfügen, den Verlauf der Geschichte nachhaltig zu stören, aber wie abschließend erkannt wird, nur bedingt zu verändern sind sie nicht allmächtig. Als ein Mitglied ihrer Crew im Suff das Versteck verlassend viele wichtige Energiequellen mitnimmt, sind sie gezwungen, mit ihren „Gaben“ zu haushalten. Es ist diese menschliche Schwäche, welche eine Reihe von Katastrophen auslöst und das Zeitgeschehen wie bei einer langen Flussschleife wieder zurück in das bekannte Bett führen könnte.

 Der Roman ist ausgesprochen kompakt geschrieben. Auch wenn die Dialoge pointiert und doppeldeutig sind, ergreift Antoni Slonimski nicht selten das Ruder selbst. Er fasst wichtige Ereignisse zusammen, weißt selbstironisch darauf hin, dass guter Willen und Entschlossenheit keine Garantie für richtige Ergebnisse sind und macht überdeutlich, dass die Zeitreisenden hinsichtlich ihrer Macht und vor allem in Kombination mit ihren menschlichen Schwächen aus eingeschränkt sind.

 So ist es ein englischer Wissenschaftler namens Wright, der ohne die Hintergründe zu kennen, einen der Zeitreisenden isoliert und gleichzeitig ausnutzt. Spannungstechnisch hätte der Autor aus diesem Seitenszenario noch mehr machen können, aber in der vorliegenden Form des teilweise distanzierten Berichts ist es ausreichend, um die Hilflosigkeit der verbliebenen Reisenden  zwischen Aufgeklärtheit und Aberglaube aufzuzeigen.

 Das Finale ist klassisch und dramaturgisch wenig überraschend. Es ist die einzige Szene, in welcher der Autor auf die amerikanische Pulp Science Fiction nicht nur zugeht, sondern einzelne Sequenzen vorwegnimmt.

 Es ist passend, dass der Roman mit einem Zeitparadoxon endet. Aus dieser Idee hätte der Autor mehr machen müssen, da es nicht nur eine Handvoll der zurückgekehrten Protagonisten betreffen kann, sondern die Auswirkungen viel größer hätten sein müssen. Auch über die neue Zeit erfährt der Leser zu wenig und ein Blick in den packenden Erlebnisbericht – für eine Reportage erscheint das Geschehen zu phantastisch – wird ihm verwehrt. Zumindest für einen der Protagonisten scheint sich gar nichts geändert zu haben, denn kaum zurückgekehrt – nur wenige Stunden nach ihrem Abflug – will er seinen Arbeitgeber über die Ereignisse informieren. Unwahrscheinlich, aber möglich dass es für ihn so wenig Veränderungen gibt.

 Für ein Buch aus den zwanziger Jahren liest sich der kompakte Stoff mit der Länge einer Novelle auch heute noch ausgesprochen gut. Die Protagonisten sind interessant gezeichnet, wobei der Autor anscheinend auch nebenbei die romantisch verklärte Frauenliteratur parodiert. Wie der Leser müssen die Protagonisten in der Vergangenheit lernen, dass mit sehr viel Macht noch mehr Verantwortung einher geht. Jeder Fehler wird umgehend und teilweise auf eine sehr groteske Art und Weise bestraft. Diese Ambivalenz hinsichtlich der großen Verschiebungen im Zeitlauf lassen „Der Zeittorpedo“ auch heute noch aktuell und spannend erscheinen. Vor allem ist es wegen der geplanten Unbekümmertheit der Protagonisten gegenüber der Vergangenheit und ihrem Drang, das Vergangene positiv zu verändern, um eine lebenswertere und vor allem auch demokratischere Zukunft zu erschaffen ein erstaunlich progressives, aber im Kern nicht aggressives oder gar belehrendes Buch. Der Autor bleibt den damals noch ungeschriebenen Gesetzen des Genres irgendwie treu und im Gegensatz zu H.G. Wells verfremdet er sie in Kenntnis des britischen Buches auch augenzwinkernd.

 Wie einige andere osteuropäische Zeitreisegeschichten ragt „Der Zeittorpedo“ aus der Masse der utopisch technischen Geschichte späterer Linientreue durch einen frechen, teilweise humorvollen, aber auch packenden Grundton positiv heraus und verdient eine Neuauflage egal bei welchem Verlag.     

Verlag/Jahr/Seiten: Suhrkamp Verlag / 1987 - 144 Seiten
Reihe: Suhrkamp Taschenbuch 1028 - Phantastische Bibliothek 131
ISBN: 3-518-37528-8     ISBN13: 978-3-518-37528-0
Übersetzung: Klaus Staemmler