Wilde Saat

Octavia Butler

Der Heyne Verlag legt mit „Wilde Saat“  den vierten, aber chronologisch ersten Roman ihrer „Patternist“ Serie neu auf. Die Amerikanerin Octavia Butler hat ihrer literarische Karriere 1976 mit dem ersten Roman “Als der Seelenmeister starb“ begonnen.  Acht Jahre später beendete sie die Serie mit dem nicht mehr vom Bastei Verlag ins Deutsche übersetzten Roman „Clay´s Ark“.

Auch wenn „Wilde Saat“ viele Ideen und einzelne Figuren aus den ersten Büchern übernimmt, ist die Geschichte – die Hassliebe zwischen zwei im Grunde Mutanten – autark und alleinstehend. Über die ambivalenten Fähigkeiten der beiden dreidimensionalen Protagonisten muss die Autorin gleich zu Beginn des Buches neue Leser informieren, so dass der Auftakt der Geschichte auch ein wenig unruhig und holprig erscheint.  Der Leser verfügt aus den anderen Romanen ggfs. über ein entsprechendes Vorwissen. Aber diese Schwierigkeit zeigt sich nicht nur im vorliegenden Roman, auch der „letzte“ publizierte Roman ist handlungstechnisch im Grunde in der Mitte der Serie angesetzt.

Wie in „Kindred“ setzt sich die Autorin mit diversen Themen auseinander, die eng auch mit ihrer afrikanischen Herkunft in Zusammenhang stehen. Dabei scheut sie sich nicht, auch Kritik an den Landsleuten zu äußern. In einer dramaturgisch fast nebensächlichen Szene stellt ihre Protagonistin Anyanwu fest, dass ehemalige Sklaven noch grausamere Sklavenhalter sein können, sobald sie selbst frei werden.

Der Handlungsbogen spannt sich über fast einhundert Jahre. Politische Themen werden nur bedingt gestreift. Selbst wenn die Veränderungen in der neuen Welt einen Einfluss auf die diversen kleinen Dörfer bzw. Zuchtstationen Doros haben, konzentriert sich Octavia Butler eher auf klassische zwischenmenschliche Themen, wobei Macht und Unterdrückung bis an die Grenze des Sadismus dominieren.

„Wilde Saat“ – der Titel ist gleichzeitig auch Programm – ist die Geschichte zweier Unsterblicher. Der Antagonist Doro ist fast eine Art Geist, ein Vampir der mystischen Art. Er ist nur unsterblich, weil er andere Körper übernehmen und deren Geist „töten“ kann. Dabei ist es ihm egal, ob er Frauen oder Männer übernimmt.

Doro ist eine Art fliegender Holländer, der in der Nähe von Kush im alten Ägypten zur Zeit der Pharaonen geboren worden ist. Er ist ein Mutant. Sein Ziel ist es, eine neue Rasse von Supermenschen mit besonderen  Fähigkeiten zu züchten, die seinem absoluten Gehorsam unterstehen. Mit deren Fähigkeiten will er quasi mit jeder Übernahme seine Fähigkeiten ausbauen und zu einer Art Gott werden. Gleichzeitig sieht er die Männer und Frauen auch als eine Art Harem. Doro ist ein einsamer Wolf, bis er Anyanwu begegnet, die ihn fasziniert und die er im Grunde nicht abschließend beherrschen kann, ohne sie zu verlieren.

Octavia Butler beschreibt Doro als eine Art Kontrollfetischist mit einer klaren Ziellinie. Doro ist bis zum Ende ein opportunistischer Egoist, dem Menschen nicht viel bedeuten. Allerdings achtet er pedantisch darauf, dass sie seine Regeln einhalten und ihm gegenüber devot sind.

Um zu überleben muss Doro töten. Auf der anderen Seite unterliegt er immer der Versuchung, Menschen auch als austauschbar anzusehen. Es gibt Phasen, in denen er die Körper nicht wechselt, weil dieser verbraucht ist, sondern weil er einen anderen Körper begehrt. Teilweise setzt er seine Fähigkeit auch als Drohgebärde ein, um Anyanwu seine Macht zu demonstrieren. Damit erreicht er allerdings das Gegenteil.  Interessant, aber zu selten ausgespielt ist die Tatsache, dass Anyanwu stärker ist als Doro und ihn abschließend und endgültig töten könnte.

Doro verkörpert auch das implizierte Science Fiction Element dieses Romans.  Doro sieht sich als Wegbereiter einer neuen Rasse und betreibt eine stringente genetische Zuchtauswahl. In Deutschland kein leichtes Thema, aber Octavia Butler umschifft diese Klippe, in dem auch Anyanwu schwerkranke Kinder erlösen kann. Sie geht aber an dieses Sujet aus der Perspektive einer Heilerin an, Doro erinnert fast an die Methoden der Nationalsozialisten. Anyanwu sieht auch Vorteile in einer Vereinigung mit Doro. Allerdings hofft sie, dass ihre Kinder und deren Enkel widerstandsfähiger werden. Im Kleinen hat sie es auch in ihrem Dorf durchgeführt, allerdings ohne Doros Hintergedanken.

Im Gegensatz zu Octavia Butlers “Xenogenesis“ Trilogie sind die Zuchtgedanke und die Angst vor einer genetischen Manipulation deutlich ausgeprägter und es regt sich immer wieder allerdings auch fruchtloser Widerstand gegen Doros Pläne.

Auch wenn die Autorin den Roman auf einer versöhnlichen Note enden lässt, verfügt sie mit Anyanwu nicht nur über eine der besten dreidimensionalsten farbigen weiblichen Charaktere des ganzen Genres, sondern wie Delaney denkt sie die Herkunft ihres Volkes beginnend auf dem afrikanischen Kontinent ausgesprochen konsequent zu Ende.

Sie hat im Laufe der Jahre im Grunde alles gesehen. Geschickt ist, dass Doro sie in die neue Welt mitnimmt und ihr zeigt, wie ihre afrikanischen Landsleute dort gequält werden. Aus ihren Augen hält Octavia Butler den Lesern das Leid der Sklaven emotional ansprechend, aber auch nicht verklärt direkt vor Augen. In „Kindred“ wird sie dieses Thema konsequent auf die Spitze treiben und quasi das „Roots“ der Science Fiction publizieren.

Obwohl sie eine entschlossene und in sich gekräftigte Frau ist, steht sie nicht nur in einem offenen Konflikt mit Doro, sie ordnet sich ihm widerwillig auch phasenweise unter. Dabei versucht die Autorin ein ambivalentes Bild ihrer Entscheidungen zu zeichnen. Kritisch gesprochen könnte man auch davon sprechen, dass Anyanwu auch eine Art Nymphomanin ist, die ihre moralischen Widerstände immer sehr schnell  überwindet. Den Bogen weiter spannend könnte ihre Handlung auch in der Hinsicht interpretiert werden, dass sie für die Menschheit das kleinere Übel wählt und sich selbst „opfert“, um Doro zumindest phasenweise unter Kontrolle zu halten und das Töten einzudämmen.  Aber diese Position macht sie als Figur in den Details angreifbar.

Unabhängig davon hat die Autorin einen faszinierenden Charakter erschaffen.  Sie ist in Afrika geboren worden. Sie ist eine natürliche Unsterbliche und ist ein Gestaltwandler. Sie kann Menschen und Tiere nachahmen. Sie baut deren Zellen nach. Sie nutzt die Metamorphose, um ihren Stamm, ihre Verwandten und auch sich selbst zu schützen. Nur einmal verwandelt sie sich in ein Raubtier, um einen Menschen aktiv zu töten und den eigenen Sohn zu retten.

Sie gilt als Hexe und Heilerin zu gleich. Sie ist aber im Gegensatz zu Doro nur wenige hundert Jahre alt, wirkt aber weiser und gereifter.

Isaac ist Doros Lieblingssohn. Er besitzt telekinetische Fähigkeiten. Doro bringt schließlich mit viel Überzeugung und Drohungen Anyanwu – sie ist zu diesem Zeitpunkt eine seiner vielen Geliebten – dazu, Isaac zu heiraten. Diese Verbindung ist im mittleren historischen Abschnitt des Buches angesiedelt der Wendepunkt. Doro erkennt, dass eine Beziehung aus mehr als Machtspielen besteht.

 Die große Stärke nicht nur dieses Romans, sondern der vielschichtigen auf diversen Charakterschicksalen basierenden Serie ist die Kombination aus Fantasy, historischem Hintergrund und einer Art archaischen Science Fiction, die nicht auf Wissenschaft, sondern Wissen aufgebaut ist. Neben den einzigartigen Charakteren und einer Handvoll überzeugend gezeichneter Nebenfiguren ist es die auch in der deutschen Fassung extrem dichte Erzählstruktur. Natürlich provoziert Octavia Butler auch mit mehreren allerdings diskret beschriebenen Inzestszenen,. Die Gewalt basiert auf historisch realistischen Hintergründen.  Die Offenheit, mit welcher vor allem Doro Menschen in mehrfacher Hinsicht braucht und missbraucht, hinterlässt ein desorientierendes Gefühl, bis sich der Leser daran gewöhnt, dass Doro im Grunde eine mystische Inkarnation eines besonderen Vampirs ist, der töten muss, um zu überleben. Dass die Autorin ihm trotzdem sympathische Züge verleihen kann, unterstreicht noch einmal die Stärke des Buches.  

Grundsätzlich ist vor allem dieser Roman eine Liebesgeschichte. Zwei unterschiedliche Menschen, deren Gegensätze sich im Grunde anziehen. Es sind aber Übermenschen, die ihre Stärken kontrollieren müssen, um als Menschen unter Menschen zu leben bzw. zu überleben. Der Titel „Wilde Saat“  bezieht sich vor allem auf Anyanwu, deren Herkunft im Grunde anfänglich in Doros Planungen eine Art radikales freies Element darstellt.

Nach dem New Wave haben Autoren wie Octaviy Butler die erschaffene Basis weiterentwickelt. „Wilde Saat“ ist ein exzellenter Einstieg für eine neue Lesergeneration, das intellektuell stimulierende, aber niemals belehrende viel zu schmale Werk dieser herausragenden Erzählerin kennenzulernen und der Roman gehört ohne wenn und aber zu den Meisterwerken der Science Fiction oder besser der Science Fantasy. 

  

Wilde Saat: Meisterwerke der Science Fiction - Roman von [Octavia E. Butler, Will Platten]

  • Originaltitel : Wild Seed
  • Taschenbuch : 250 Seiten
  • ISBN-10 : 3453534891
  • ISBN-13 : 978-3453534896
  • Herausgeber : Heyne Verlag (12. Juli 2021)
  • Sprache: : Deutsch