Clarkesworld 171

Neil Clarke (Hrsg.)

Neben Neil Clarkes ambivalenten Vorwort, das auf das Corona 2020 zurückblickt und ein wenig Hoffnung für die Zukunft verströmt, findet sich gleich zu Beginn mit Fiona Moores „The Island of Misfit Toys“ eine echte Weihnachtsgeschichte.

 Die Protagonistin ist in der USA einer näheren Zukunft heimatlos und wird von Jugendlichen aus sadistischem Vergnügen zusammengeschlagen. Der einzige echte futuristische Effekt liegt in der Tatsache, dass in dieser Zukunft künstliche Intelligenzen alltäglich sind und in alle Werkzeuge oder Haushaltsgeräte oder schließlich auch Spielzeuge eingebaut worden sind. Die Protagonistin landet schließlich auf einer Insel, wo die Zivilisation die Reste der Spielzeuge mit künstlichen Intelligenzen ablädt. Sie beginnt sie zu reparieren.

 Die Kurzgeschichte ist immer am Rande des Kitsches, aber der Autorin gelingt es, eine realistische und doch fremdartige Zukunft zu beschreiben, deren Wurzeln wie die alltägliche Gewalt gegen Außenseiter der Gesellschaft klar auch in der Gegenwart der Leser zu erkennen sind.

 Lisa Nohealani Morton präsentiert auf jeden Fall den längsten Kurzgeschichtentitel des Jahres. „Things That Happen When You Date Your Ex`s Accidentally Restored Backup from Before the Divorce” ist eine komödiantische Geschichte, deren politische Hintergrund sehr aktuell ist. Anscheinend hat einer der gewählten Präsidenten der USA die politischen Regeln anders interpretiert und sich zu einer Art Diktator gemacht. Die Protagonistin ist Mitglied des Widerstandes. Die Perspektive wechselt zwischen ihrer aufkommenden Beziehung zu einem Klon ihres Ex Freundes und den Aktionen gegen die Regierung. Die entwickelte Technik ist interessant und die Autorin hat bestehende Regeln des Genres geschickt extrapoliert und vor allem intelligent hinterfragt. Dadurch wirken die wenigen kitschigen Szenen auch nicht so erdrückend. Abschließend stellt sie stellvertretend für den Leser allen Protagonisten eine im Grunde sehr einfache Frage, deren Beantwortung aber unendlich schwer ist. Wie weit geht man, um seine Ziele zu erreichen? Die Entwicklung der Protagonistin überzeugt mehr als in den anderen Geschichten dieser Sammlung, auch wenn Mortons politische Ansicht sich sehr gut mit Fiona Moores sozialen Hintergrund deckt.

 Michael Swanwick „The Last Days of Old Night“ ist eine klassische Fantasygeschichte, wie sie vor allem Poul Anderson geschrieben hat. Lange vor Odin in den nordischen Mythologien angesiedelt beschreibt der Autor die Reise dreier Brüder, die schließlich aus ihrem gottgleichen Exil aufbrechen und versuchen, den wahrscheinlich ökologischen Veränderungen zu entkommen. Am Ende müssen sie erkennen, dass ihre Kräfte in einer anderen Welt eher beschränkt sind. Mit jeder neuen Erkenntnis kommt aber auch neue Verantwortlichkeit. Dabei stellt sich die Frage, ob eine neue Welt die Nachkommen der alten Götter überhaupt noch brauchen kann? Intensiv geschrieben in einem eloquenten Stil mit zahlreichen Anspielungen auf markante und bekanntere nordische Götterfiguren spannt Michael Swanwick in dem relativ kurzen Text einen sehr weiten Bogen.

 Die längste Geschichte oder besser Novelle stammt von Robert Reed und spielt in seinem „Giant Ship“ Universum.  Sie ist ein perfekter Einstieg für neugierige Leser. Das gigantische Schiff wird in allen Geschichten, Novellen oder Romanen weiterentwickelt. Dabei hat der Leser in letzter Zeit auch den Kapitän und seine ambivalente Mission kennen lernen können.

In dieser Geschichte geht es um die Menschen, die „relativ spät“ an Bord des Raumschiffs gekommen sind und im Grunde eine untergeordnete Rolle spielen. Wie die Mitglieder aller Völker, denn dazu ist das Raumschiff zu gigantisch. Robert Reed setzt sich mit verschiedenen, schon einmal angesprochenen Themen auseinander. Dabei reicht der Bogen von allgemeinen Exkursen in Richtung relative Unsterblichkeit aufgrund der gigantischen Geschwindigkeit, mit welcher das Raumschiff das All durchpflügt bis zu persönlichen Konflikten zwischen den allerdings ein wenig schematisch charakterisierten Menschen. „Conversation to the Dark“ ist beginnend beim ambivalenten Titel eher eine Art Reisebegleiter als eine klassische Geschichte, in welcher der Leser mehr über den allerdings unbestimmt und variabel gehaltenen Hintergrund erfährt als die eigentlichen Charakter oder auch der Herkunft des Raumschiffs auch nur einen kleinen Schritt näher kommt.

 Aus dem Chinesischen von John Chu übersetzt stammt „No Way Back“ aus der Feder Chi Huis. Auch wenn die Geschichte etwa sechzig Jahre in der Zukunft spielt, ist die soziale Kritik klar erkennbar. Der Ich- Erzähler ist eine Art Superhacker, der die Zusammenhänge des neuen World Wide Net kennt und deswegen mit einem schrecklichen Geheimnis leben muss. Die Auflösung der Geschichte ist aus der Sicht eines versierten Cyberpunk Lesers dann allerdings nicht so aufwühlend oder schrecklich wie es der Autor impliziert. Der Plot wird in erster Linie von den auch gut übersetzten Dialogen angetrieben.

 Die beiden letzten Geschichten „Forward Momentum and a Parallel Toss“ von Anamaria Curtis wie auch „Songs of Activation“ von Andy Dudak passen thematisch zusammen. In näheren Zukunft setzen sie sich mit dem Thema der Ausbildung, aber auch Bildung auseinander. Dabei reisen Anamaria Curtis Charaktere aufs Land, um den Menschen dort ihre Technik zu zeigen. Dabei ahnen sie nicht, dass die Farmer im Grunde ihre Seelen an eine gigantische Konglomeratfirma verkauft haben, um ihr Land weiter zu bestellen. Es ist ein klassischer Konflikt zwischen der Gewinnsucht der allerdings gesichtslosen Konzerne und dem Individualismus einer jungen Generation, die opportunistisch  Veränderungen für alle Menschen anstoßen möchten.

 Die zweite Geschichte spielt zwar an der Universität eines riesigen intergalaktischen Imperiums, das alles Wissen angesammelt hat und das von dieser Evolutionsstufe im Grunde nur noch unten in die Dekadenz fallen kann. Ein Lied wird zu einem neuen Suchbegriff. Während Andy Dudak sich auf das Große konzentriert und wie Anamaria Curtis den unauffälligen Fortschritt aus dem Kleinen heraus zelebriert, wirkt Anamaria Curtis Geschichte zugänglicher. Andy Dudak dagegen versucht einen Zukunftsentwurf auf wenige Seite zu konzentrieren, der mehr als eine Kurzgeschichte, sondern eher einen Roman wert ist. In dieser Hinsicht hat ihm vielleicht auch Robert Reed mit seinen interaktiven Geschichten um das Große Schiff einen Weg gezeigt, eine Zukunft zu beschreiben, die von Einzelnen weiter geschrieben werden muss, auch wenn es auf den ersten Blick nichts mehr zu erzählen, zu erforschen oder auch nur zu finden gibt.     

 Neben Neil Clarkes Einleitung und einem Essay über viktorianische Geistergeschichten, die an und/ oder um Weihnachten spielen, aber alle irgendwie mit Charles Dickens zu tun haben, endet die „Clarkesworld“ Ausgabe wieder mit zwei sehr unterschiedlichen Interviews. Tim Pratt ist ein erfahrener Horrorautor, der gute und schlechte Zeiten hinter sich hat. Stina Leicht ist dagegen eine sich noch entwickelnde Stimme. Beide Interviews entstanden schon während der Coronazeit, so dass ein aufmerksamer Leser auch die Veränderungen in der Welt freiberuflicher Autoren ablesen kann.    

 Der Jahresabschluss 2020 „Clarkesworlds“ ist ein bunte Mischung aus unterschiedlichen Themen. Im Gegensatz zur 170. Nummer mit einem Schwerpunkt Epidemie und Post Doomsday streift Herausgeber Neil Clarke eine ganze Bandbreite von Themen mit einigen sehr guten Geschichten (Robert Reed, Andy Dudak und Annamria Curtis), die bekannte Themen individuell umgestalten und neue Ideen in einem spannenden und stilistisch auch ansprechenden Rahmen präsentieren. Das Titelbild ist in mehrfacher Hinsicht zusätzlich ein echter Blickfang. 

cover

E Book, 112 Seiten

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