Das Theodizee- Problem

Ron Müller

Ron Müller debütiert mit dem nihilistischen Science Fiction Thriller „Das Theodizee- Problem“ im Verlag p. machinery.  Die bisherigen Arbeiten des 1976 in der Lausitz geborenen jetziger Cottbuser erscheinen im Eigenverlag.

Der Roman ist eine grundsätzlich überzeugende Mischung um das im Laufe der Handlung auch ausführlich diskutierte, aber nicht abschließend gelöste Theodizee- Problem mit einer einleitenden Prämisse, welcher der Autor leider auch die Schärfe nimmt. In dieser Hinsicht reiht sich der Roman neben „Land unter“ ein. In beiden Fällen machen es sich die Autoren unnötig schwer, ihre wirklich interessanten Szenarien von Beginn an realistisch zu entwickeln und die Leser beginnend mit einem unscheinbaren Puzzlestück in ihre Szenarien einzubeziehen. Natürlich lässt sich weiterhin diskutieren, das die Autoren ihre fiktiven Welten von Beginn an gestalten, aber die Stärke eines Thrillers oder eines sozialkritischen Science Fiction Romans basiert auf der Möglichkeit, dass ein derartiges Szenario eintritt.

Der Roman wird auf insgesamt drei zeitlich versetzten Ebenen erzählt. Die finale Ebene fließt erst im letzten Drittel des Buches in die Handlung ein und impliziert einige Antworten auf die Fragen, welche sich die Charaktere in der dominanten mittleren Handlungsebene im alltäglichen pervertierten „Überlebenskampf“ stellen müssen.

Ausgangspunkt ist das Jahr 2023. Eine afrikanische Terrororganisation hat mit mehreren Selbstmordanschlägen und schließlich einem Angriff auf ein Atomkraftwerk in Europa die Strukturen erschüttert. Während die Selbstmordanschläge noch akzeptabel sind, wirkt der Angriff auf das Atomkraftwerk mittels Artillerie ein wenig konstruiert. Auch die in Europa schwelenden Konflikte mit einer Allianz zwischen Schweden und Russland sowie Grenzkonflikten zwischen Dänen sowie den Schweden in der Ostsee erscheinen stark konstruiert. Warum nutzt ein Autor, wenn er die Wurzeln seines Szenarios nahe der Gegenwart ansiedelt, nicht die Sprungbretter, die ihm leider die gegenwärtige Lage auch in Europa präsentiert? Der Konflikt um die Ukraine ? Oder die Situation in der Türkei mit den Auseinandersetzungen in Syrien. Alles Szenarien, die außer Kontrolle relativ schnell eine begrenzte atomare Auseinandersetzung in Europa auslösen könnten.

Die im Jahr 2023 spielenden Szenen erscheinen in dieser Hinsicht überambitioniert, auch wenn sie die einzige große Schwachstelle des Romans darstellen. Der Leser erfährt die Informationen über diese Zeit relativ kompakt durch den Besuch einer Klasse in einem interaktiven Museum.  Mit diesem Kniff fasst der Autor nicht nur die allerdings unglaubwürdigen Ausgangsereignisse sehr gut zusammen, sondern gibt einen Einblick in die „Gegenwart“ mit seinen Restriktionen.

Die Menschen dürfen höchstens eine Stunde pro Tag allerdings mit Masken und Regencapes geschützt nach draußen. Die Infrastruktur ist im Grunde zusammengebrochen und die 18 Millionen noch lebenden Deutschen sind erbguttechnisch überwiegend so geschädigt, dass fast keine gesunden Kinder mehr geboren werden.   

Die nur noch auf dem Papier demokratische deutsche Regierung plant einen brutalen Schlag, um die Rasse fortbestehen zu lassen. Sie plant besondere Distrikte, in denen die erbguttechnisch gesunden Menschen mindestens einhundert Jahre abgeschirmt und streng bewacht leben sollen, während die minderen Menschen aktiv ausgelöst werden.

Eigentlich setzt sich die Theodizee Frage mit der Gerechtigkeit oder Rechtfertigung Gottes auseinander. Ob das Leiden der Welt mit der Annahme zu vereinbaren sei, dass ein Gott allmächtig und gut zugleich sein kann. Dabei werden Übel als Mangel an Gutem gedeutet.

Ron Müller geht in dem gewichtigen und besten Punkt seiner Studie sogar noch einen Schritt weiter. Auch wenn seine Politiker exzentrisch und extrem gezeichnet worden sind, ihre Lösungsansätze unmenschlich erscheinen und keiner der politisch handelnden mit einem ominösen Kanzler im Hintergrund sympathisch erscheinen, stellt sich unwillkürlich die Frage, wieviel Böses darf man tun, um etwas Gutes zu erreichen? Ist es noch opportun, viele Leben absichtlich zu opfern, um langfristig eine Überlebenschance zu haben? Oder reguliert die Natur auch den atomaren Eingriff in ihre „natürliche“ Evolution und reagiert mit Mutanten als Präventivventil auf diese Situation?

Hinzu kommt eine weitere Ebene. Ein im Grunde unscheinbarer Wissenschaftler hat herausgefunden, dass Wesen in Gefangenschaft sich erstens weniger stark vermehren und zweitens Geisteskranken überhand nehmen. Dabei reicht das Spektrum von den Zootieren mit einem Schwerpunkt Menschenaffen zu den Kriegsgefangenen.

Die Grundidee der Politiker, mindestens einen isolierten Elfenbeinturm zu schaffen und dort durch Rückgriff auf  nicht verseuchte Gene quasi den Fortbestand des Volks zu sichern, kann seiner Ansicht nach nicht funktionieren.  Mit diesen Thesen weckt er die Aufmerksamkeit der Politiker, die seine Tochter entführen und in einen Distrikt sperren. Er selbst soll mit einem Team quasi Wege finden, um diesen Rückfall erst auf ein dekadentes, depressives Niveau zu verhindern und gleichzeitig den Gefängniskoller mindern, damit gute Menschen geboren werden.

Ron Müller reißt diese provokanten und vielen bisherigen Ideen des Genres – dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschichten in Atombunkern oder auf Generationenraumschiffen spielen – widersprechenden Thesen nur an. Der Blick in die Zukunft impliziert, dass Mensch im Grunde ironisch zwei Wege gefunden haben muss, um überleben zu können.

Hinzu kommt, dass er seinen Spannungsbogen in der zweiten Hälfte des Romans immer am Rande des Klischees aufbaut, aber nicht den Fehler macht, die entscheidende Grenze zu übertreten. Das beginnt beim wankenden Protagonisten, der mit seiner Tochter aus dem „Gefängnis“ entkommen möchte, obwohl er weiß, dass es draußen noch schwerer wird, zu überleben. Hilfe bekommt er von einer Programmiererin, die vieles kann, aber nicht alles aus dem Weg schaffen wird.

Auf der anderen Seite gibt es die „Rebellen“, die Ausgeschlossenen, die sich draußen sammeln und mindestens die im Handlungsmittelpunkt stehende Bastion erstürmen wollen. Auch hier ist der Psychologe quasi der Schlüssel.

Das Militär agiert in einem sehr engen Rahmen. Ron Müller lebt bei Dialogen Sperrbuchstaben, um Emotionen, aber auch eine störrische Hilflosigkeit vor allem der stupiden militärischen Anführer auszudrücken. Das Ziel erreicht der Autor nicht. Die pragmatische Rücksichtslosigkeit der einzelnen Politiker und Militärs unterstrichen durch ihre Handlungen überzeugt in dieser Hinsicht sehr viel mehr.

Der Leser scheint den Handlungsverlauf wie angedeutet ahnen zu können. Aber Ron Müller bewegt sich gut zwischen dem Vertrauten und einigen wenigen überraschenden Wendungen. Hinzu kommt, dass er den Spannungsbogen nicht zu Ende führt. Wie angedeutet ist es der Blick aus der Zukunft indirekt zurück in die „Gegenwart“, welcher aufzeigt, was vielleicht funktioniert hat und was nicht. Aber die einzelnen Fragmente muss sich der Leser selbst zusammenbauen, wobei Ron Müller bzgl.   der Geschichte des HIV Virus ohne Not den Bogen überspannt und plötzlich zu viele Ideen in seinen nihilistischen Thriller einbaut.  

Auch frustriert aus objektiver Sicht ein wenig, dass Ron Müller einige der relevanten aufgeworfenen Fragen nicht beantwortet. Gibt es in isolierten Räumen eine menschliche Grenze, ab welcher Frustration, Degenerierung und schließlich auch Depressionen nicht eintreten? Haben die Rebellen eine Art von Erfolg? Was bedeutet die Begegnung an der polnischen Grenze?

Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Autor bewegt. Ohne Frage ist „Das Theodizee- Problem“ mit seinem dunklen, konsequenten Unterton eines der Bücher, das provoziert, zum Nachdenken anregt und für manche Leser auch offen faschistisch wirkt, ohne es wirklich zu sein. Bei der Entwicklung des atomaren Schlagabtauschs enthält sich der Autor Wertungen. Auch die Handlungen der Militärs werden ausschließlich aus der Perspektive der Opfer erzählt, wobei die Politiker selbst was wie Karikaturen erscheinen und der Autor das Problem eines „Führers“, eines Diktators mit Sendungsbewusstsein durch den nur im Off agierenden Kanzler elegant umschifft.

Das Buch ist nicht gänzlich befriedigend, da es abrupt endet und die Offenheit sich positiv wie negativ rückblickend niederschlägt. Positiv, weil dem Leser die Chance gegeben wird, selbst über die weiteren Ereignisse nachzudenken; negativ, weil Ron Müller auf die am meisten relevante wie interessante These eines Buches auch keine befriedigende Antwort gibt. Vielleicht gibt es sie schlicht und ergreifend auch nicht.

Zusammenfassend ist der futuristische Thriller trotz einiger kleinerer Schwächen anders ohne selbstgefällig zu sein. Der Autor spielt nicht mit bekannten Versatzstücken wie einem klassischen Postdoomsday Sujets, sondern er sich eigene ohne Frage auch positiv provozierende Wege, um nachdenklich stimmend zu unterhalten.

Ron Müller
DAS THEODIZEE-PROBLEM
AndroSF 125
p.machinery, Winnert, November 2020, 260 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 221 8
E-Book: ISBN 978 3 95765 875 3