Ist da jemand?

Philippe Curval

Mit „Ist da jemand?“ hat der Heyne Verlag in den achtziger Jahren einen interessanten Science Fiction Thriller des Franzosen Autoren Philippe Curval aufgelegt. Ein Jahr später folgte mit „Das Wunschgesicht“ ein weiterer Roman.  Es lohnt sich, „Ist da jemand?“ mit Jörg Weigands Nachwort anzufangen. Auf wenigen Seiten geht der Frankreichkenner nicht nur auf die Entwicklung der französischen Science Fiction, sondern vor allem auch auf Philippe Curvals erste Arbeiten mit außerirdischen Invasoren inklusiv einer pazifistischen Lösung ein. Ungewöhnliche Wege hat der französische Autor immer gesucht. Curvals Werk ist auch sozialkritischer geworden.

Die Faszination der Geschichte liegt aber aus heutiger Sicht im geschichtlichen Hintergrund, der während der Entstehungszeit des Romans sehr viel aktueller gewesen ist. Die Modernisierung des altes Paris; der Versuch vom Großkapital, mit Immobilienneubauten und einhergehend entsprechenden Abrissen das Gesicht der Stadt nicht nur zu verändern, sondern sehr viel Geld mit dem Elend der „einfachen“ Pariser zu verdienen und der sich bildende Widerstand ausgehend von den Studenten und Intellektuellen gegen diese Vernichtung von Bausubstanz und die Entwurzelung ganzer Viertel.

Diese Idee durchzieht den ganzen Roman, manifestiert sich im furiosen Finale, in dem der Autor seine phantastische Grundhandlung eben mit den sozialen Konflikten verbindet.   Vor allem präsentiert der Autor eine radikale anarchistische Lösung, die den Wurzeln der Grünenbewegung entspricht. Dabei werden keine Kompromisse eingegangen. Natürlich handelt es sich in diesem Roman um einen fiktiven Gegner, aber diese dienen eher wie zum Beispiel in John Carpenters „They Live“ als schwache Versatzstücke für klar erkennbare kapitalistische Gegner.

Der politische Kontext zeichnet sich erst nach einer langen Odyssee durch das Paris der siebziger Jahre ab. Ausgangslage der Geschichte ist das Verschwinden von Clement Volgres Frau Nina nach einem schweren Streit während der Implosion einer Reihe von Fernseher in einem Pariser Geschäft.  Clement Volgre ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Im grunde ist er ein ehemaliger Tagträumer, der sich mit Gelegenheitsjob seine persönliche Freiheit/ Freizeit erkauft hat. Inzwischen vertritt er als Immobilienverkäufer das Establishment, das mit Neubauten das Gesicht der französischen Hauptstadt verändern möchte. Zumindest offen nach außen. Auf der anderen Seite hilft er seinen Schwiegereltern als letzte Mieter eines Mehrfamilienhauses beim Widerstand gegen die Kündigung der Wohnung und deren Räumung. Als Insider.

Clement ist aber auch ein treuloser Alkoholiker, der ab einer bestimmten Promillegrenze die Kontrolle über sich verliert. So betrügt er seine Frau Nina, die  sich umgehend rächt. Er verschwindet manchmal im Suff für mehrere Stunden, ohne dass jemand weiß, wo er sich aufhält. Curval gibt sich sehr viel Mühe, ihn als unsympathischen Egoisten zu zeichnen, der irgendwie auf der Suche nach grenzenloser Liebe ist, aber nichts mit ihr anfangen kann. Im Verlaufe des Buches baut der Autor den Lebemann Charakter kompromisslos, wenn auch stellenweise ein wenig stark konstruiert um. Er wächst quasi mit seinen Aufgaben, wobei lange Zeit nicht klar, ob es eine wirkliche Herausforderung ist, ob es sich um den perfiden Plan seiner Freundin handelt oder Clement die Schwelle zum Wahnsinn aufgrund seines Alkoholkonsums überschritten hat.

Die eigentliche Suche unterteilt sich im Grunde in eine äußere Recherche nach seiner verschwundenen Freundin und eine innere Sehnsucht nach dem alten, wahrscheinlich auch glorifizierten Paris, in dem der Protagonist aber nicht aufgewachsen ist.

Der Autor versucht anfänglich noch ein realistisches Bild der Viertel zu zeichnen, die es in dieser Form heute ja nicht mehr gibt. Deswegen ist die Science Fiction Geschichte vor allem auch eine Reise in die Vergangenheit. Die schmierigen Tavernen, die Bars; die Mehrfamilienblöcke mit ihren intakten familiären Strukturen; die aus heutiger Sicht hässlichen Neubauten mit ihrer langweiligen Geometriestruktur auf modern getrimmt. Dazu draußen schon die Trabantenstädte als soziale Brennpunkte und die Fassade einer alten Kirche als Trutzburg für die neue „Zeit“. Überall wird gebaut, auch wenn ein Fortschritt nicht wirklich zu erkennen ist. Dazwischen mit Clement Volgre ein Alkoholiker, der sich anfänglich eher zwingen muss, nach der von ihm vermissten Nina zu suchen.  Wie auch seine Nina findet Clement das Paris nicht, das er sich in seiner schrägen Phantasie vorgestellt hat. 

Die zweite wichtige Prämisse des Romans ist seine Beziehung zu Nina. Der Leser lernt sie nur zu Beginn des Buches kennen. Abschließend fügt er noch eine erschreckende Prämisse hinzu, die aber aufgrund des hohen Tempos seiner Geschichte fast untergeht. Nina liebt ihn, auch wenn er im Grunde ein klassischer Machoverlierer ist, der sich an ein Image klammert, das er selbst nicht darstellt; zu viel trinkt und die Schuld immer bei anderen Mitmenschen sucht. Aber diese Schwäche wird er am Ende des Buches abgelegt haben.

Da der Leser die Ehe der beiden Menschen fast ausschließlich aus Clement Volgres Perspektive kennenlernt, kann er nachvollziehen, wenn Nina sich in einem opportunen Moment aus dessen Leben geschlichen hätte. Wie zum Beispiel in dem Film „The Vanishing“ ist die Antwort aber viel zynischer und brutaler. Ohne zu viel vom grundlegenden Geheimnis zu verraten, präsentiert Curval für ein altbekanntes Sujet des Science Fiction Genres eine bizarre Lösung.

Clement Volgre läuft bei Ninas Freunden und Arbeitskollegen auf. Sie scheinen nicht wirklich beunruhigt zu sein, auch wenn sie keine Antworten haben oder haben wollen.  Immer wieder streut der Autor bedrohliche Ideen ein. So verfolgen Clement Volgre Menschen in Regenmäntel und Pullovern, auch wenn es in Paris einer der heißtesten Sommer seit vielen Jahren ist. Ein Freund hat einen Autounfall. Er denkt, einen Menschen überfahren zu haben. Es wird kein Körper gefunden. Die Beschädigungen deuten eher auf einen Zusammenstoß mit einem Betonmast hin. Später trifft Clement Volgre eine junge Frau, deren Verhalten Nina gleicht, auch wenn sie keine Ähnlichkeit haben.  Sie hat einen Lippenstift mit unbekannten Schriftzeichen.

Als Nina endgültig in die eheliche Wohnung zurückkehrt, ist sie eine sterbende Frau. Kurz vor ihrem Tod gesteht sie ihrem Mann die ganze entsetzliche Wahrheit. Und Clément macht sich auf, den Untergang der Menschheit zu verhindern.

Die Grundstruktur des Buches ist ein klassischer Thriller. Roman Polanski hat später mit „Frantic“  im Grunde ein nicht phantastisches Szenario entwickelt. Der Autor legt aber weniger Wert auf Action und Tempo, sondern Atmosphäre. Volgre fühlt sich auch nicht unter Druck gesetzt und Dynamik ist ein Fremdwort. So geht er auch nach Ninas Verschwinden am nächsten Tag erst einmal zu der inzwischen von ihm gehassten Arbeit, die ihm aber mittels Konsumentenkredite und einer Baufinanzierung auf der Eigentumswohnung das Leben in der Bourgeoisie erst ermöglicht.  Die Stimmung wird bedrohlicher, als seine Schwiegermutter brutal ermordet wird. Diese Szene sticht ein wenig negativ aus dem ganzen Buch hervor, weil sie im Grunde unnötig zu viel Aufmerksamkeit auf eine Bedrohung lenkt, die sich zwar auf den ersten Blick wenig subtil, aber effektiv verbreitet hat. Und das weit über die Grenzen von Paris hinaus.

Am Ende versprüht der Autor einen fatalistischen Optimismus. Das Buch endet mit einem kleinen Triumph vielleicht auch im übertragenen Sinne der Arbeiter gegenüber dem allgegenwärtigen Kapital ausgerechnet auch noch auf kirchlichen Grund. Es ist ein wie mehrfach erwähnt impliziert sozialkritischer Science Fiction „Thriller“ mit eckigen kantigen Charakteren, einer interessanten Variation eines allerdings sehr bekannten Science Fiction Themas und ein Streifzug durch die Stadt der Liebe der revolutionären siebziger und achtziger Jahre.

  • Herausgeber : München : Heyne, (1. Januar 1982)

  • Sprache : Deutsch
  • Broschiert : 222 Seiten
  • ISBN-10 : 345330845X
  • ISBN-13 : 978-3453308459