Clarkesworld 174

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke verkündet in seinem Nachwort die Leserpool Gewinner des letzten Jahres. Sekundärliterarisch setzt sich Julie Novokova mit den Schwierigkeiten auseinander, tatsächlich irgendeine Form von Leben im All zu finden.

Die beiden Interviews von Arley Sorg sind mit relativ jungen Autorinnen. Elly Bangs hat bislang eine Handvoll Kurzgeschichten und einen Roman veröffentlicht, Becky Chambers begann im Crowdfunding mit ihrer ersten Romanarbeit und hat sich inzwischen als Autorin etabliert. Wie immer sind die Gespräche ausführlich und persönlich. Arley Sorg geht auf die jeweilige Ausgangslage der beiden unterschiedlichen Schriftstellerinnen ein und versucht herauszuarbeiten, was welche mindestens zu relativen Erfolgen führen können. Dabei stehen die beiden Frauen ihren eigenen Arbeiten bodenständig kritisch gegenüber und sehen die bisherigen Erfolge eher als kleine Abschnitte denn Meilensteine.

 Neben einer Novelle präsentiert die Märzausgabe von Clarkesworld insgesamt sechs Kurzgeschichten. China ist wieder mit einer Übersetzung vertreten. Das Thema der Kurzgeschichten ist deutlich breiter als in den letzten Ausgaben.

 D.A. Xialon Spires eröffnet den Reigen mit „Mamaborg´s Milk and the Brilliance of Gems“. Es ist die Geschichte einer Frau, die in einem Exoskelett lebt. Über den Hintergrund erfährt der Leser wenig bis gar nichts. Auf der Flucht mit ihrer kleinen Tochter stiehlt sie immer wieder verschiedene Dinge aus automatisierten Warenhäusern. Schwierig wird es, das Neugeborene mit Muttermilch zu versorgen. Ein schmerzhafter, im Grunde fast unmöglicher Prozess. Das Brustfüttern ist auch der rote Faden der Geschichte. Der Plot wird nicht abgeschlossen, wie eingangs erwähnt werden weder die einzelnen Protagonisten sorgfältig entwickelt noch ein durchgehender Handlungsfaden abgeschlossen. Daher wirkt der Text eher wie ein Stillleben, eine Art Fingerübung für eine Novelle.

 Isabel J. Kims „Homecoming is Just Another Word for Sublimation of the Self“ präsentiert den letzten Kurzgeschichtentitel dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Vom Potential beginnend mit der ursprünglichen amerikanischen Verfassung hätte es die kraftvollste Geschichte dieser Nummer sein können. Wie bei einigen anderen Texten wird die Ausgangsidee aber nicht abschließend entwickelt und Isabel J. Kim verzettelt sich trotz sehr guter Ansätze in zu vielen Kleinigkeiten. Die Welt könnte unsere sein. Historisch hat die Entwicklung von Duplikaten eine Veränderung in den geschichtlichen Abläufen bewirkt. Hintergrundinformationen gibt es nicht. Es ist auch kein technologisch ausgeprägter Vorgang, da schon im 18. Jahrhundert die geistige Erstellung von perfekten Duplikaten für die auswanderungswilligen Menschen möglich gewesen ist. Wenn sich Original und Duplikat allerdings treffen und einen körperlichen Kontakt eingehen, kommt es zu einer anscheinend unfreiwilligen Verschmelzung wahrscheinlich wieder auf das Original.

Die Ausgangsidee ist genauso wie der historische Hintergrund der Geschichte faszinierend. Auf der emotionalen Ebene hat sich die Autorin auf die Rückkehr der Enkelin nach dem Tod des Großvaters in die Heimat konzentriert. Ein für den Leser gut zu verfolgender Plot. Eingestreut sind bekannte Geschichten/Legenden, die auf diese Duplikatewelt umgeschrieben worden sind und plötzlich einen anderen Gehalt aufweisen. Es ist schade, dass der futuristische Hintergrund ihrer Geschichte derartig oberflächlich entwickelt worden ist, daß das ganze Potential im Grunde durch den inhaltlich Schornstein geblasen wird. Ein Roman wäre das adäquate Medium für diesen wirklich interessanten Plot.

 Aus dem Chinesischen übersetzt wirkt „The Orbiting Guan Eye“von Wang Zhenzhen wie ein Rückfall in die alte chinesische Science Fiction oder die klassischen Plotgeschichten, die Magazine wie Analog vor allem in der Zeit des Golden Age mit einer technischen Lösung so gerne präsentiert haben. Zwei Astronauten im Erdorbit untersuchen seltsame, nicht gemeldet Satelliten. Sie finden einen Fisch, der quasi in seinem Aquarium eingefroren worden ist, aber noch lebt. Andere Satelliten scheinen aus dem Nichts heraus zu explodieren. Der Fisch sichert ihnen allerdings nicht als Nahrung das Überleben, während eine flapsige Bemerkung den Schlüssel der Lösung beinhaltet.

Kurzweilig geschrieben mit pointierten Dialogen und einem direkten Hinweis auf eine bekannte, aber nicht unbedingt gute Arthur C. Clarke Kurzgeschichte wundert es allerdings, das die Astronauten von der Ausgangssituation der Satelliten nichts vor ihrem Abflug von der Erde erfahren haben.        

 Isabel Lees „55 Plagues“ verfügt über eine gute, überzeugende und aktuelle Prämisse. In regelmäßigen Abständen seit dem Jahr 1879 treten immer wieder Seuchen außerirdischen Ursprungs auf, ohne das wirklich ein Erstkontakt stattgefunden hat. Nach mathematischen Berechnungen ist das Jahr 2021 – keine Überraschung – ein weiteres Seuchenjahr. Die Autorin erzählt den Plot aus der Sicht einer Lehrerin, die ihre Schüler über die historischen Zusammenhänge informiert und gleichzeitig die Leser auf den entsprechenden Wissenstand bringt. Isabel Lee versucht die soziale Konflikte zwischen den Anhängern dieser Theorie und den obligatorischen Verweigerern ausführlich zu beschreiben. Dabei verzichtet sie auf eine abschließende Stellungnahme. Der Geschichtsunterricht könnte eine Allegorie auf die Evolutionstheorien sein, deren Lehren auch von vielen dogmatischen Fanatikern abgelehnt werden. Die Autorin bietet keine Erklärung, auch keine Auflösung an. Allerdings wirken die einzelnen Fronten ein wenig zu stereotyp, zu eindimensional beschrieben, als das sie abschließend überzeugen können.

 Auch Wole Talabi konzentriert sich eher auf den Titel als auf den Plot. „Comments on Your Provisional Patent Application for an Eternal Spirit Core“ ist eine sehr humorvolle Story in Form eines eingereichten Dokuments, in welchem um die Erlaubnis gebeten wird, dass die Probanten quasi die Erfahrungen der gerade Verstorbenen – ideal wird die verstorbene Mutter als Testobjekt ausgesucht – per Simulation teilen können. Die Kommentare zu dem ernst gemeinten Antrag sind dabei die Höhepunkte. Die Pointe ist klar im Vorwege erkennbar, neue Ideen werden nicht präsentiert. Es ist schade, dass die Konstruktion der Geschichte besser als der eher rudimentäre Plot ist. Dadurch wird sehr viel Potential verschenkt.

 Sarah Paulings „To Study the Old Masters in the Prado at the End of the World“ spielt im Spanien der näheren Zukunft. Außerirdische landen auf der Erde und übernehmen einzelne religiöse Orte als ihre Zentrale. Auf der einen Seite wird die Geschichte vor allem einer Kathedrale über die menschliche Geschichte beschrieben, auf der anderen Seite die Kunstschätze, welche dort aufbewahrt werden. Das macht den nicht unbedingt originellen Plot trotz der verschiedenen Querverweise vor allem auf H.G. Wells ein wenig interessanter. Wie bei einigen anderen Kurzgeschichten dieser Ausgabe kann die Autorin allerdings keine zufrieden stellende Auflösung ihres Plots präsentieren und die Handlung verläuft sich im Nichts.    

 Zu den insgesamt teilweise sehr kurzen Storys gesellt sich mit Arula Ratnakars eine herausfordernde Novelle. „Submergence“  besteht nicht nur aus dem in der Zusammenfassung deutlich stringenter als in der Realität wirkenden Plot, sondern die Autorin hat sich Mühe gegeben, einen bizarren aus verschiedenen zusammen geflochtenen Ideen bestehenden Hintergrund zu entwickeln. Junge Leute weigern sich, entweder zu sprechen oder Emotionen zu zeigen. Eine Art stiller Protest, der in einer interaktiven Gesellschaft archaisch erscheint. Eine „geheime“ Sprache wird entwickelt, die auf Musik basiert. Damit soll der Überwachungsstaat ausgetrickst werden.

 Wie die Neurotechnologie ist auch die Biologie ausgesprochen gut entwickelt worden. Dabei werden die relevanten Informationen nicht als Informationswüste dem Leser dargereicht, sondern effektiv ohne belehrend zu sein in die laufende Handlung eingebaut. Die Protagonistin hat Zugriff auf die Erinnerungen einer kürzlich verstorbenen Frau. Anscheinend ermöglicht die Neurotechnologie diesen auch unfreiwilligen Erinnerungsaustausch, er wird aber nicht wirklich forciert. Die Frau hat eine neue Lebensform auf dem Meeresboden entdeckt. Aus den Erinnerungen kann die Protagonisten ablesen, dass diese Lebensform in ihrem Körper Antistoffe gegen eine neu grassierende Krankheit entwickelt hat. Damit wird sie zu einem neuen Jagdobjekt für die Menschen.

 Neben den Erinnerungen muss sich die Protagonistin auch noch mit dem Liebhaber der verstorbenen Frau auseinandersetzen, aber auch deren Tochter. Die Autorin streift souverän und das hohe Tempo dieser Novelle nicht einschränkend im Grunde alle klassischen zwischenmenschlichen Themen von Verlust, Liebe, Verrat und schließlich auch Selbsterhaltungstriebe. Neben diesen emotional wichtigen Aspekten ist der technologische Hintergrund der allerdings auch herausfordernd zu lesenden Novelle überzeugend und nicht um seiner Selbst Willen herausgearbeitet. Alle Handlungen sind für den Leser jederzeit auf Augenhöhe nachvollziehbar. Die verschiedenen Zeitebenen verlangen allerdings eine sehr aufmerksame Lektüre. Nicht selten müssen nicht nur von der Protagonistin, sondern auch dem Leser relevante Fakten förmlich aus dem dichten Handlungsgeflecht herausgearbeitet werden, damit deren Wichtigkeit auch nachhaltig erkannt werden kann. Stilistisch überzeugend mit dreidimensionalen Charakteren, die vor schwierige Entscheidungen gestellt werden. Sie hinterfragen diese immer wieder und müssen erkennen, dass sie die beste aller schlechten Entscheidungen getroffen haben.     

 Der März im „Clarkesworlds“ Jahr präsentiert sich unabhängig vom wieder sehr schönen Titelbild ausgesprochen ambivalent. Die längeren Arbeiten inklusiv der herausragenden provokanten Novelle überzeugen mehr als die kürzeren Geschichten. Vielen fehlt ein stringenter inhaltlicher Faden, auch wenn die teilweise extrem langen Titel etwas Anderes implizieren.

cover

E Book, 112 Seiten

www.wyrmpublishing.com