Später

Stephen King

„Later“ ist Stephen Kings dritter Roman nach „The Colorado Kid” und “Joyland” für die amerikanische Hard Case Crime Reihe. Auch wenn deren Schwerpunkt vor allem auf vergessenen Autoren wie Donald Westlake, Lawrence Block oder Nachdrucken von Max Allan Collins liegt, haben die Herausgeber auch Platz für übernatürliche Geschichten, deren Auslöser nicht selten ein Verbrechen ist.  Vor allem ist „Later“ ein Beweis, dass es Stephen King um Geschichten geht. „The Colrado Kid“ erschien bei Hard Case Crime, weil Stephen King den Verlag auf deren Bitte nicht mit einer Art Werbetext auf dem Titelbild eines Romans unterstützen wollte, sondern den Herausgebern einen ganzen Roman versprach. Dieses Versprechen hielt er 2005, führte es 2013 fort und präsentiert mit „Later“ 2021 seinen bislang besten „Hard Case Crime“ Roman, vielleicht sogar eine seiner besten und intimsten Geschichten seit vielen Jahren.   

Jamie Coklin erzählt seine Geschichte als zweiundzwanzig jähriger junger Mann.  Die meisten Episoden spielen in seinem Alter von sechs und dreizehn Jahren. Von Beginn an macht Jamie aber deutlich, dass er eine Geistergeschichte erzählen wird. Dabei verweist er auf den Film mit Bruce Willis. Wie der Junge in dem Film kann Jamie Coklin tote Menschen sehen.  Er kann auch mit ihnen sprechen. Aber Stephen King verfeinert die aus „The sixth Sense“ bekannte Idee. So sind die Toten nur wenige Tage nach ihrem Verscheiden noch sichtbar. Sie wissen, dass sie tot sind. Sie können auf direkte Fragen nicht lügen.  Sie halten sich entweder in der Nähe ihres Sterbeortes auf oder an markanten Plätzen. Auch auf Friedhöfen allerdings bei den eigenen Beerdigungen sind sie für Jamie Coklin zu sehen. Aber lange Zeit ist er der einzige, der sie sehen/spüren kann.

Wie es sich für eine Stephen King Geschichte gehört, werden später die Prämissen verändert.   Da die Geschichte auch mittels Rückblenden ausschließlich aus Jamie Coklins subjektiver Perspektive erzählt wird, sucht der Protagonist einzelne Erklärungen für seine nicht unbedingt segensreiche Fähigkeit. Es gibt keine pseudowissenschaftlichen Erklärungen. Stephen King vertraut seinem Gespür als routinierter Erzähler, um die Leser vor allem über seine dreidimensionalen Charaktere und einen sehr ruhigen Handlungsaufbau in das Geschehen einzuführen. Es ist eine klassische Stephen King Geschichte um das Erwachsenwerden, um die Konfrontation mit „gut“, „ böse“, aber auch den zahlreichen Graustufen. Es geht  aber vor allem auch die Verletzlichkeit der Familie und die Angst von Heranwachsenden, alleine mit einer Welt fertigzuwerden, die sie nicht verstehen oder verstehen können. Wenn dann auch noch übernatürliche Phänomene hinzukommen, droht alles aus den Fugen zu geraten.   

Unabhängig von den übernatürlichen Elementen ist „Later“ vor allem eine Familiengeschichte. Jamie lebt mit seiner Mutter in New York. Sie führt eine literarische Agentur, die sie von ihrem an Alzheimer erkrankten Bruder übernommen hat. Nur hat der Bruder niemals Steuern bezahlt und die Reserven sind bei einem Ponzi Schema buchstäblich verschwunden. Die einzige Hoffnung ist der letzte Roman einer kitschigen Serie von schwülstigen Abenteuerstoffen, für welche Jamies Mutter schon ein Honorar kassiert hat. Nur stirbt der Autor eines natürlichen Todes lange vor Fertigstellung des Werkes. Voller Verzweiflung bittet Jamies Mutter den Jungen, ihr zu helfen.

Sieben Jahre später wird die Geliebte seiner Mutter – eine Polizisten – Jamie auch um einen Gefallen bieten. Ein Bombenleger tyrannisiert die Stadt seit vielen Jahren.  Kurz vor der Verhaftung durch die Polizei begeht er Selbstmord. Als Abschiedsgeschenk hat er eine Bombe platziert und das Geheimnis mit in den Tod genommen, wie er denkt.

Natürlich sind die übernatürlichen Fähigkeiten für seine noch nicht erwachsenen Protagonisten ein Fluch. Stephen King schlägt den Bogen weit zurück in seiner literarischen Geschichten bis zu „The Shining“. Die Spätfolgen hat er schließlich in „Doctor Sleep“ verarbeitet. „Later“ versucht diese beiden Aspekte zusammenzufassen. Jamie Coklins macht deutlich, das für einen zweiundzwanzig Jahre alte Jungen sowohl sechs als dreizehn Jahre Ewigkeiten entfernt sind. Trotzdem bildet jeder dieser Lebensabschnitte auch einen tiefen Einschnitt. Spannungstechnisch macht es Stephen King geschickt, in dem er den Titel des Buches zum Programm macht. Wichtige Informationen präsentiert Jamie Coklins eben „later“ oder ergänzende Erfahrungen macht er „later“. Das „Later“ ist nicht nur ein dramaturgisches Element, um die Leser bei der Stange zu halten. Genau wie der Hinweis, es handelt sich um eine Geistergeschichte. Aus diesen Mosaikstücken setzt sich eine an sich schon faszinierende Familiengeschichte zusammen.

Jamie ist ein interessanter Charakter. Von Beginn an hat der Leser das Gefühl, seine Geschichte aus seinem Mund zu hören und nicht zu lesen. Bei einem Kaffee, einen Bier, vielleicht auch für die übernatürlichen Elemente einem Joint. Deswegen kommt er auch so lange mit seinen Andeutungen durch, in dem er einzelne Aspekte einfach mit einem Einschub, einer kleinen Bemerkung auf „later“ also später verschiebt.

Das Verhältnis zu seiner Mutter, seiner einzigen wirklichen Bezugsperson ist überzeugend beschrieben worden. Sie ist zwar eine gute Mutter, aber nicht perfekt. Ihre Ängste und Nöte, ihr Kampf gegen die böse Welt (wirtschaftlich) da draußen, ihr an Alzheimer erkrankter und damit auch entflohener Bruder; die Beziehung zu einer Polizisten und schließlich Jamies übernatürliche Fähigkeit. Auch wenn der Tod nicht unbedingt allgegenwärtig ist, nimmt er einen gewaltigen Raum ein. Erstaunlich ist, wie pragmatisch Jamie das sieht. Bis auf die Angst, dass seine Mutter auch sterben könnte. Stephen King beschreibt die Welt dreidimensional und vor allem auch überzeugend aus der Perspektive eines Heranwachsenden, der aber früh gelernt hat, auch auf den eigenen Füßen zu stehen.  

Stephen King hat eine Reihe von markanten Charakter erschaffen. Die lesbische Polizistenfreundin seiner Mutter oder der Nachbar, der zu Beginn des Buches zum Witwer wird. Selbst der exzentrische Schriftsteller. Auf wenigen literarischen Metern werden sie lebendig. Selbst der für den Krimigehalt obligatorische Schurke erscheint brutal, paranoid, verrückt und rachsüchtig. Aber dieser Herausforderung muss sich der junge Jamie in einer auch für Gespenstergeschichten eindrucksvollen Art und Weise stellen.

Daneben überzeugt auch die laufende Handlung des Buches. Jamie versucht Menschen Gefallen zu tun. Manchmal freiwillig wie der Mann, der gerade seine Frau verloren hat. Manchmal aus Liebe, wie seiner Mutter gegenüber mit dem finalen Gespräch mit ihrem Bestsellerautoren. Manchmal auch nur aus Respekt gegenüber der ehemaligen Freundin ihrer Mutter. Seine Handlungen haben unterschiedliche Auswirkungen im Diesseits, wie auch auf der übernatürlichen Handlungsebene im Jenseits. Sie sind aber immer glaubwürdig. Wie „The Shining“ ist „Later“ eine auf einer sehr eng gefassten Idee basierende Geistergeschichte. Ohne dieses übernatürliche Element würde die Story nicht funktionieren.

Dabei definiert Jamie rückblickend aus der Gegenwart im Grunde die Regeln der Geistergeschichte selbst. Manches ist möglich, vieles wird erfahren, aber lässt sich nicht definieren. Es ist natürlich logisch, dass ausgerechnet der Schurke die bisherigen Regeln durchbricht und nicht nach wenigen Tagen verschwinden will. Die Erklärung verschiebt Jamie auch in einem engen Zusammenhang mit seiner Mutter wieder auf „later“. Aber Jamies Angriff im Treppenhaus inklusiv der entsprechenden Entladung ist der Wendepunkt des Buches. Das bislang geruhsame, aber niemals langweilige Tempo zieht deutlich an; Jamies Welt verändert sich ein weiteres Mal.  

Es gibt zwei Höhepunkte. Der eine betrifft die Familie und Jamies Vater. Auch wenn Jamie seine besonderen Fähigkeiten in einen direkten Zusammenhang mit seinem Erzeuger stellen möchte, hinterlässt das Ende eine süßsaure Note, welche ihn enger mit seiner Mutter verbindet, aber auch ein schwieriges Thema erstaunlich offen und progressiv ohne eine generelle Amnestie darstellt.

Der eigentliche Showdown führt fast alle Protagonisten zusammen. Er ist blutig, wirkt aber auch ein wenig mit einem im mittleren Abschnitt etablierten „Deus Ex Machina“ Ausweg konstruiert.   Dabei kann Jamie keine Erklärung für das Verhalten eines Geists liefern. Hinzu kommt, dass die Geister auf direkte Fragen nicht lügen dürfen.  Aber sie dürfen bei von ihnen initiierten Aussagen die Unwahrheit sagen. Auch können sie bis zu einem gewissen Grad eine Antwort verweigern. Sie antworten dann mit „Ich will nicht“. Warum an einer Stelle die bisherige Gesetzmäßigkeit eines passiven Verweilens durch eine Art Knoten/Geist/ Masse im Inneren einer Inkarnation aufgelöst wird und das sogar zu einer Art Gefallen führt, wird von Stephen King nicht weiter erläutert. Es rettet Jamie. Aber dieser Punkt war von Beginn des Buches an klar, da der zweiundzwanzig Jahre alte Jamie seine Geschichte erzählt.

Es ist die einzige, aber typische King Schwäche eines ansonsten kurzweilig zu lesenden, von wie angesprochen dreidimensionalen Charakteren bevölkerten Buches mit einigen originellen Ausgangsprämissen hinsichtlich des so oft gescholtenen klassischen Geistergenres und einer in fast allen Punkten überzeugenden Coming-of-Age Geschichte.  

Später

  • Herausgeber : Heyne Verlag (15. März 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • Gebundene Ausgabe : 304 Seiten
  • ISBN-10 : 3453273354
  • ISBN-13 : 978-3453273351
  • Originaltitel : Later
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