Das jüngste Gericht

Hermann Ganswindt

Der Titel – nicht vom Herausgeber ausgewählt – der neusten sekundärliterarischen Veröffentlichung des Lüneburger Kleinverlages Dieter von Reeken ist nicht unbedingt passen. Weder werden biblische Themen angerissen, noch steht jemand vor einem tatsächlichen Gericht. Verbrechen – zumindest neutral betrachtet – finden auch nicht statt. Viel mehr schließt der Herausgeber eine weitere Lücke bei der theoretischen Betrachtung der technischen Grundlagen, auf denen noch heute die Weltraumfahrt mit dem Rückstoßprinzip basiert. Der Originaltext aus der Feder Hermann Ganswindt ist das letzte Mal als die hier vorliegende zweite vermehrte Auflage 1899 erschienen.

 Dieter von Reeken stellt in seinem kurzen Vorwort den Autoren vor. Hermann Hanswindt hat nicht nur in seinen ersten Arbeitsjahren zahlreiche Geräte und Verfahren entwickelt, sondern auch sich mit der fabrikmäßigen Produktion von Fahrrädern auseinandergesetzt. Zahlreiche seine Zeichnungen und einige seiner Patente werden im Original abgebildet bzw. die Einreichungen an das Patent nachgedruckt. Die breite Masse wird das weniger interessieren, aber es gibt auch guten Überblick über die Tiefe und vor allem auch den Umfang, den das Einreichen selbst eines einfachen Patents benötigt.

 Seit 1883 beschäftigt sich Ganswindt mit lenkbaren großen Luftschiffen auseinandergesetzt und entsprechende Vorträge gehalten.  Einer dieser Vorträge ist zu Beginn der Studie bildtechnisch, aber am Ende als vollständig vorhandener Text nachgedruckt worden. Er stammt von einer Aufführung aus dem Jahr 1892. Der Vortrag sollte in einem engen Zusammenhang mit der Zeitungskritik gesehen werden. Im Gegensatz zu vielen angestaubten Forschern hat sich der Autodidakt Hermann Ganswindt einiges einfallen lassen, um sein Publikum zu unterhalten. So handelte es sich um Concert Vorträge, in denen Ganswindt Klavier spielte. Enthusiastisch, aber nicht unbedingt erfolgreich, wie die Kritik am Ende dieser kleinen Studie feststellt.

 Den Hauptabschnitt bilden die beiden langen Vorträge, in denen Hermann Ganswindt die Entwicklung von Raketen und damit auch die Besiedelung/ Eroberung des Weltalls als ein wichtiges zukünftiges Problem der Menschheit sieht. Wie Dieter von Reeken in seinem Vorwort ausführlich darstellt,  scheiterte Hermann Ganswindt nicht nur an seinem schwierigen Wesen, sondern einzelne Ideen konnten das Dickicht aus Patentanmeldungen und Gebrauchmusterwesens nicht überstehen. Fälschlich des Betrugs angeklagt ruinierten die Prozesse schließlich seine finanziellen Reserven und der Erfinder geriet in Vergessenheit. Sein in der altdeutschen, aber mit ein wenig Mühe gut lesbaren altdeutschen Schrift wiedergegebener Vortrag zeigt auf, dass Hermann Ganswindt eine Reihe von richtigen Wegen in dieser Hinsicht eingeschlagen hat.  Auf der anderen Seite war Hermann Ganswindt aber auch stur. So war er überzeugt, dass ein Flüssigtreibstoffbehälter nicht dem Druck eines Starts und dem Flug in die Erdatmosphäre standhalten kann. Zu dieser Zeit entwickelten andere praktische Pioniere wie der früh ums Leben gekommene Max Valier – auch seine Studie ist vor vielen Jahren im Verlag Dieter von Reeken neu aufgelegt worden – oder Oberth theoretische Ideen praktisch weiter. Unterstützung fanden sie durch die Popularität des Fritz  Lang Films „Frau im Mond“. Dieter von Reeken ist der Ansicht, das die Rolle des verbitterten exzentrischen Erfinders auf Hermann Ganswindt basiert. Auch Franz Neher versucht später den lange Zeit in Armut lebenden Mann dem Vergessen zu entreißen.

 Neben den zahlreichen Informationen über dessen Leben konzentriert im Vorwort dargestellt und den vielen Abbildungen und Fotos sind es die Vorträge bzw. Artikel, welche den Reiz der Studie ausmachen. Dabei ist es wichtig, die Texte im Augenblick ihres Entstehens zu sehen und nicht aus heutiger Sicht belehrend drauf zu blicken und technische Unzulänglichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Vor allem handelt es sich bei Hermann Ganswindt um einen Mann, der alleine quasi in der stillen Kammer seine Theorien entwickelt und dann auf wie schon erwähnt originelle Art und Weise der Öffentlichkeit dargestellt hat. Alleine dieses theatralische Element hebt ihn von der Masse der anderen Forscher ab.

 Die Seltenheit der Texte alleine ist diese exemplarische quasi Neuveröffentlichung wert. Vor allem weil dadurch die sehr frühe Geschichte der Weltraumfahrt noch als theoretische Möglichkeit vervollständigt ist und eine wichtige Lücke zwischen den Dichtern wie Jules Verne/Wells oder quasi später Oberth/Goddard und einem der wenigen nicht deutschen Ziolkowski geschlossen werden konnte. Keine der Ideen Hermann Ganswindt hätte alleine der Entwicklung von Raketen und Raumstationen revolutioniert  und seine Ignoranz den Flüssigtreibstoffen gegenüber hat ihn technisch in eine früh veraltete Ecke gedrängt, aber die Visionen, die Kraft seiner Ideen und vor allem auch das Sendungsbewusstsein strahlen aus den hier gesammelten Texten hervor. Es empfiehlt sich, einzelne Passagen durchaus laut zu lesen. Dafür sind die Vorträge gedacht gewesen und die teilweise doch sehr theoretischen Fakten werden angesichts der angedeuteten Visionen in den Hintergrund gedrückt.

 Wie alle Texte aus dem Hause Dieter von Reeken ist die Sammlung sorgfältig zusammengestellt, reichhaltig bebildert und vor allem für Studenten der Raumfahrt eine Pflichtanschaffung. 

 

Das jüngste Gericht: Das Weltenfahrzeug und andere Erfindungen mit Illustrationen und Gutachten

  • Herausgeber : Reeken, Dieter von; 1. Edition (29. März 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • Taschenbuch : 137 Seiten
  • ISBN-10 : 3945807581
  • ISBN-13 : 978-3945807583
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