Humanoid 2.0

Gabriele Behrend

Die im Februar 2013 veröffentlichte Sammlung „Humanoid“ präsentiert insgesamt zwölf aus heutiger Sicht frühe Geschichte Gabriele Behrends, die beginnend mit dem auffälligen dem Grundthema der Sammlung entsprechenden Titelbild von Alexander Preuss gut illustriert worden sind. Der größte Teil der Texte ist verstreut über verschiedene Magazine schon einmal veröffentlicht worden. Die Konzentration in einer Ausgabe ermöglicht es aber, den positiv gesprochen roten Faden in Gabriele Behrends Werk zu finden und aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Dabei ist der Titel der Sammlung „Humanoid“ – er ist extra ausgewählt worden – Programm. 

 Acht Jahre später veröffentlicht der P. Machinery Verlag eine erweiterte Neuauflage. Fünf neue, allerdings ebenfalls schon publizierte Storys sind hinzugefügt worden. Weiterhin hat Gabriele Behrend die ursprüngliche Reihenfolge der zwölf Ausgangsstorys in wenigen Fällen verändert. Zeitgleich erschien mit „Die Liebesmaschine“ eine zweite Sammlung mit Storys aus den Jahren 2014 bis 2021. Der Verlag hat die Optik der beiden Bücher angepasst. So musste das auffallende Titelbild von Alexander Preuss einer schlichteren Covergestaltung weichen. Um Erst- und Neuauflage zusätzlich voneinander zu unterscheiden gab es den Hinweis auf 2.0. 

 In den meisten der hier gesammelten Geschichten geht es um Wünsche, Sehnsüchte bis hin zur Obsession. Der Grat zwischen krankhaftem Verlangen und Befriedigung der Sinne ist schmal. Gabriele Behrend will auch keine nachhaltigen Antworten geben, aber im Gegensatz zu vielen anderen Autoren sind ihre stringenten, fokussierten Storys so angelegt, dass der Leser eine persönliche Antwort den Texten entnehmen und interpretieren kann.

 Mit „Infusion“ als neue Geschichte wird „Humanoid 2.0“ eröffnet. Die frühen Arbeiten Gabriele Behrends legten mehr Wert auf Stimmungen und Impressionen als eine konsequente Handlung. Für den Leser ist es schwer, sich ein abschließendes Bild zu machen. Die Beschreibungen sind auf der einen Seite kraftvoll, auf der anderen Seite absichtlich auch offen für eine Reihe von Interpretationen. Am Ende findet der Leser schwer einen Bezug zum „Ich- Erzähler“.

 Die vierte neue Geschichte „Staubzeit“ ist ähnlich aufgebaut. Ein fragmentarischer Hintergrund; keinen klassischen Handlungsaufbau und Vertrauen auf die Stimmungen. Trotzdem wirkt „ Staubzeit“ effektiver, zugänglicher, weil Gabriele Behrend sich bemüht, zumindest eine rudimentären Spannungsbogen zu entwickeln und die Charaktere dem Leser zugänglicher zu machen.  

 „Erntezeit“ ist in dieser Hinsicht zugänglicher. Zwei Handlungsebenen – eine Art Traumwelt, dann die Realität – laufen abschließend zusammen. Der Leser weiß nicht, ob die Probanten im Schlaflabor wirklich nur geträumt oder möglicherweise in eine andere Welt, eine andere Bewusstseinsebene übergewechselt ist. Auch wenn eine Zusammenfassung den Text in Hinblick auf die Konstruktion vertrauter erscheinen lässt, als er abschließend ist, gelingt es Gabriele Behrend, das Vage offen zu halten und keine Antworten zu geben.

 Grotesk, verstörend und irgendwie auch schön ist die beste der fünf neuen Geschichten. „Vulcaniella Pomposella“ ist die Metamorphose einer besonderen Frau, gepflegt von einem devoten Mann. Ob das Ergebnis von Beginn an geplant worden ist, lässt Gabriele Behrend in dieser wie ein Fiebertraum erscheinenden Geschichte offen. Es ist schwer, sich den Figuren zu nähern. Es ist auch unnötig. Lange Zeit treibt die Autorin die perverse Phantasie der Leser vor sich her. Am Ende könnte das Opfer tatsächlich auf eine unvorhersehbare Art und Weise Erfüllung finden. Es ist schwer, diese Geschichte zusammenzufassen oder die konsequente Pointe ohne zu viel zu verraten intensiver zu sezieren. Der Leser sollte einfach der Einladung der Autorin folgen und diese so perverse Art der Liebesbezeugung goutieren.

 „Patchwork“  ist ebenfalls eine verstörende Geschichte. Auf den ersten Blick eine kranke Protagonistin, die sich aus ihrer subjektiven Perspektive zu heilen sucht. Eine normale  Ausgangssituation mit einem Date, das brutal endet. Dank der zweiten Handlungsebene ist der Leser darauf vorbereitet, dass etwas passieren kann oder muss. Die Story endet mit einem Paukenschlag. Dank des Titels hat Gabriele Behrend aufmerksame Leser schon ausreichend vorbereitet. Es sind diese tiefen Blicke in die menschliche Abgründe, welche ihre Storys aus der Masse der Body Fiction herausheben. Sie wertet nicht, sie verurteilt nicht, im Grunde beschreibt sie nur. Dabei verzichtet sie allerdings nicht auf eine emotionale Ebene. Der Leser kann zwar nicht in die kranken Köpfe ihrer Protagonisten eindringen, aber sie sperrt die Leser auch nicht mit Distanz oder gar einem belehrenden Stil aus. Das macht Storys mit „Vulcanielle Pomposella“ oder auch „Patchwork“ so einzigartig, so wieder erkennbar.

 „Feierabend“ stellte den Auftakt der ersten Anthologieauflage dar. Wie einige andere Texte sind die phantastischen Elemente ein reines Mittel zum Zweck, die Plots könnten auch ohne sie gut funktionieren. Ein biederer, wahrscheinlich verklemmter Mann bricht aus seinem perfekt geordneten Leben aus und geht in die schmuddelige Vorstadt. Am Ende weiß der Leser nicht, ob der Drang zur Gewalt wirklich in ihm geschlummert hat oder absichtlich provoziert worden ist. Das Ende ist ein typisches Science Fiction Moment, das aber angesichts der guten Extrapolation und vor allem der stimmungsvollen Beschreibung nicht aufgesetzt erscheint.

 Befriedigung der eigenen oder anderer sexueller Gelüste stehen im Mittelpunkt anderer Texte. Nachdenklich stimmend durch seine ambivalente, nicht verurteilende, aber auch nicht wirklich abschließend zu verstehende sadomasochistische Beziehung ist „Puppenspieler“. Eine Frau gibt sich willentlich einem Sadisten hin. Erklärungen scheinen in ihrer Kindheit zu liegen, aber gänzlich stimmig ist diese Beziehung nicht. Dafür wird der gewalttätige Psychopath nach den bekannten Regeln dieser irregeleiteten Gattung als Charmeur und brutaler Schläger mit Minderwertigkeitskomplexen in seinem sonstigen Leben gut beschrieben. Das MacGuffin ist eine Science Fiction Idee, die es beiden Partnern ermöglicht, ihre jeweiligen Gelüste auszuleben. Das Pointe ist vielleicht früh erkennbar, aber trotzdem zynisch genug. Nachdenklich stimmt, das Gabriele Behrend sich vor allem in das Innenleben des „Opfers“ hineindenkt, die Widersprüche aufdeckt und trotzdem nicht den einfachen Weg geht, einen Ausgang aus dem erdrückenden Kreislauf zwischen Schmerz und Lust anzubieten.

 In umkehrter Reihenfolge ist „Das Schreizimmer“ zu verstehen. Eine Folterkammer, in welche der „Betroffene“ von seiner Frau eingewiesen worden ist. Die Geschichte steht höchstens impliziert in einem Zusammenhang mit den Texten wie „Puppenspieler“, aber im Verlaufe des sehr kompakten Plots wird dem Leser klar, dass die präsentierten Informationen aus einer gänzlich anderen Perspektive gesehen werden müssen. In einer von der Grundidee gänzlich anderen, aber komplizierter strukturierten Geschichte Improvisationen für S.“ geht es auch um objektive wie subjektive Empfindungen, aber in diesem Text scheint die Autorin den Bogen ein wenig zu sehr überspannen zu wollen. Vor allem schafft sie es wie leider in einigen anderen Storys dieser Sammlung nicht zufrieden stellend, ein direktes Verhältnis zwischen dem Plot, den Protagonisten und den Leser aufzubauen, so dass die Texte ein wenig zu stark aus sich selbst heraus konstruiert als nachhaltig erzählt wirken.   

 Die längste Geschichte der Sammlung „Sunny“ könnte auch ohne die phantastische Idee eines Seelenfängers im buchstäblichen Sinne funktionieren. Zwei aus unterschiedlichen Gründen gebrochene Figuren, eine perfide Rachgeschichte, sexuelle Nötigung bis schließlich eine devote fast gleichgültige Haltung gegenüber dem Geschehen auf der einen Seite; auf der anderen Seite ein psychotischer Serienkiller mit einem ausgesprochen Fetisch. Wie zwei Lokomotiven gleiten diese beiden unterschiedlichen Protagonisten aufeinander zu. Rückblicke ermöglichen es dem Leser, diese bis an den Rand des Klischees stilisierten kranken Persönlichkeiten kennen zulernen. Die eigentliche Handlung mit der finalen Konfrontation wird in den Hintergrund gedrückt. Es ist eine dunkle, vieles nur implizierende Geschichte, deren nihilistische Atmosphäre und eindrucksvolle Figuren dem Leser länger im Gedächtnis bleiben als die perfide Pointe mit einer eben auf der eingangs erwähnten phantastischen Idee beruhenden Komponente.

 „Soft Skills, Hard Days“ zeigt kurz und prägnant auf, wie sehr die Firmen der Zukunft sich anonymisiert, aber autorisiert um die Lüste ihrer Angestellten kümmern, damit sie dem alltäglichen Druck standhalten können. Kurzweilig geschrieben, vieles der Phantasie der Leser überlassend wirkt die Geschichte für sich alleine genommen interessant, direkt neben der Story „Puppenspieler“ platziert verblasst aber ein wenig deren Intention.  

 Auch „Gefühlsecht“ zeigt eine auf den ersten Blick minutiös geplante Arbeitswelt, in welcher aufgrund der „Ausstrahlungen“ die Gefühlswelt der Angestellten erkannt werden kann. Die Freundin der Protagonistin ist Pressesprecherin eines Konzerns, sie selbst wird im Bereich der Public Relation angestellt. Bis die große Katastrophe stattfindet und es sich zeigt, dass diese Außenansicht auch auf Täuschungen beruhen kann. Die Grundidee ist interessant, die Pointe effektiv, aber nicht abschließend überzeugend. Ob eine derartige Täuschung angesichts der angedeuteten technischen Möglichkeiten wirklich über einen so langen Zeitraum aufrechterhalten werden kann, wird nicht überzeugend genug hinterfragt. Es spielt auch keine Rolle, da die Pointe nur ein kleiner Teil einer Industriegesellschaft ist, deren Erfolg auf Täuschung und Betrug, Bestechung und Stillschweigen basiert. Das ist aber keine wirklich neue Idee, so dass „Gefühlsecht“ vielleicht als ausgearbeitete Novelle noch mehr überzeugt hätte. 

 „Lichtgestalten“ ist eine weitere Arbeit, die sich allerdings mit einem besonderen Zweig der Arbeit auseinandersetzt. Hier versteht es die Autorin gut, die Glamourwelt der Gegenwart in die Zukunft zu übertragen und diese kurzen hell brennenden Starlichter noch nachhaltiger, noch brutaler zu zeichnen. Dazu der Kontrast zwischen den Ghettos, die gerne als Hintergrundkulisse genutzt werden und der nur vordergründig so viel tiefgründigeren Welt der Reichen, des Establishments. Die Figuren sind gut gezeichnet, die Atmosphäre dunkel, aber nicht nihilistisch.

 Wie auch „Schattenkabinett“, in dem den Politikern eine perfekte lebende Kopie als Ersatz im Krisenfall zur Verfügung gestellt wird. Natürlich scheinen diese mit zahlreichen Pflichten, aber auch einigen Rechten ausgestatten Kopien mehr als nur eine Schattenherrschaft anzustreben. Die Grundidee ist gut, allerdings ist die Pointe auch sehr schnell erkennbar und wenig überraschend.

 In „Lebendfleisch“ - ursprünglich erschienen in Nova 19 - arbeitet die Autorin an einem Trip in die angeschlagenen Psychen, der sich erst im Verlaufe der eher sprunghaften Handlung als neuartige, natürlich bislang wenig erprobte Behandlungsmethode herausstellt. Die Kraft ihrer auch sprachlich überzeugenden Bilder kann die Autorin nicht durchhalten, gegen Ende mit weitergehenden aber subjektiven Erläuterungen verliert „Lebendfleisch“ ein wenig an Faszination, auch wenn sie in der Kombination herausfordernder Erzählstil in enger Verbindung mit einigen guten, sehr überzeugend in die Handlung integrierten Ideen ein wenig an ihre damaligen Grenzen als Autorin stößt. 

 „Jiddhais Nachbarn“ ist eine weitere der kürzeren Geschichten, in denen Gabriele Behrend auf der einen Seite das Thema Zivilcourage anspricht und propagiert, bei der sich aber die einzelnen Elemente nicht unbedingt zusammenfügen. Das liegt an der Beschäftigung des Protagonisten, der als geschickter Einbrecher für ein Verbrechersyndikat agiert. Das gestohlene Gut wird ihm wiederum gestohlen, was in ihm eine Welle der Empörung auslöst, die basierend auf einer zufälligen Begegnung in den öden Fluren seines Wohnblocks schließlich die Nachbarn aufrüttelt und wieder zu einer Gemeinschaft werden lässt. Der Funke hinsichtlich der Charakterisierung des Opfers will nicht wirklich überspringen, zumal die auslösende Tat auch noch vom „Opfer“ verursacht worden ist.

 Den Abschluss der Sammlung bildet „Letzte Tage“. Eine geheimnisvolle Seuche rafft die Menschheit hin, wobei das Schicksal der Prostagonistin in einem engen Zusammenhang mit den Ursachen der Pandemie steht. Gabriele Behrend bleibt hinsichtlich wichtiger Handlungsstränge eher ambivalent und versucht zu verschleiern anstatt den Plot dramaturgisch nachhaltiger aufzubauen und die Ausgangsidee effektiver, vor allem auch origineller zu nutzen. Wie einige andere Kurzgeschichten dieser Sammlung wirken die Texte noch ein wenig ungeschliffen und längere Fassungen könnten durchaus ihr Potential heben. 

 Durch ihre stilisierte Form ergänzen sie Gabriele Behrends dunkle Zukunftswelt überzeugend. Auch wenn nicht alle Geschichten in ihrer jeweiligen Gänze überzeugen, bilden sie doch ein interessantes provozierendes Bild einer wenig humanen menschlichen Zukunft. Gabriele Behrend konzentriert sich in den Texten auf das Schicksal individueller Menschen und strebt nicht in die Tiefen des Alls. Nicht selten sind die Wurzeln in der Gegenwart ausgesprochen gut zu erkennen. Vor allem in der nicht selten ein wenig belehrend schwerfälligen deutschsprachigen Science Fiction vereint sie mit den zwölf hier gesammelten Storys nachdenklich stimmende Unterhaltung mit einer konsequenten Entmenschlichung – gewollt oder unbeabsichtigt ist dabei nicht die Frage – ihrer Protagonisten während deren verzweifelter Suche nach Anerkennung oder manchmal auch nur ein wenig Geborgenheit.

 Neben dem neuen Titelbild hat Gabriele Behrend für alle Geschichten ein kleines graphisches Leitmotiv gestaltet. Wer „Humanoid“ noch nicht besitzt, sollte sowohl „Humanoid 2.0“ als auch die gleichzeitig veröffentlichte Sammlung „Die Liebesmaschine“ ohne Einschränkungen kaufen, um eine der besonderen deutschen Kurzgeschichtenautorinnen der Phantastik und weniger der reinen Science Fiction kennen zu lernen. Wer „Humanoid“ gekauft hat, muss selbst entscheiden, ob die fünf neuen, teilweise überragenden Kurzgeschichten und die Graphiken neben der einheitlichen Optik der beiden Anthologiebände einen Erwerb wert ist.  

 

HUMANOID 2.0: SF-Geschichten (AndroSF: Die SF-Reihe für den Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD))

  • Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (15. April 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • Taschenbuch : 248 Seiten
  • ISBN-10 : 3957652405
  • ISBN-13 : 978-3957652409