Deutschland in den Schatten 1- Das zerissene Land

Hans Joachim Alpers

Mit der Trilogie „Deutschland in den Schatten“ erweiterte Hans Joachim Alpers das genreübergreifende Pen & Paper Szenario der amerikanischen Spielserie „Shadowrun“ auf Deutschland. In den USA erschien „Shadowrun“ 1989 und damit auf dem vorläufigen Höhepunkt der Cyberpunk Science Fiction. Neben den bekannten nihilistischen Aspekten einer von Konglomeraten statt Regierungen beherrschten Erde; einer semikriminellen Hackerszene und vor allem der kontinuierlichen Umweltverschmutzung, allerdings ohne den japanischen Siegeszug, den William Gibson so propagierte, führte das Spiel magische Elemente wie Drachen, Elfen, Zwerge oder Trolle ein. Damit unterschiedlich sich „Shadowrun“ deutlich von einer Reihe anderer Rollenspiele wie zum Beispiel das ebenfalls von Hans Joachim Alpers mitgestaltete „Das schwarze Auge“, in dem es versuchte, zwei Genres nicht immer konsequent, aber zumindest ansatzweise miteinander zu kombinieren.

Hans Joachim Alpers ist im Spielbereich kein Unbekannter. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller unter anderem einer Reihe von Science Fiction Jugendbüchern mit Ronald M. Hahn agierte er als Herausgeber der Moewig Science Fiction Reihe. 1983 gründete er mit Werner Fuchs – er betreute zu dieser Zeit die KNAUR Science Fiction Reihe – und Ulrich Kiesow den Verlag Fantasy Productions und arbeitete neben der Entwicklung/ des Vertriebes des schon angesprochenen Rollenspiels „Das schwarze Auge“ auch an der deutschen Übersetzung des bekanntesten Rollenspiels „Dungeons & Dragons“.

Neben der „Deutschland in den Schatten“ Trilogie für den Heyne Verlag, der auch die amerikanischen Originalsausgaben publizierte und später Nachdrucke aus der "Fantasy Productions" deutscher Autoren übernahm verfasste er eine Reihe von Büchern, die in der Welt des „schwarzen Auges“ spielten.

Für den ersten und den dritten Band der „Deutschland in den Schatten“ Trilogie ist Hans Joachim Alpers jeweils für den Kurd Laßwitz Preis als bester Roman des Jahres ausgezeichnet worden.  Die Aufsplitterung auf den ersten und dritten Teil der Serie ist wahrscheinlich mit dem ursprünglichen Erscheinen und nicht mangelnder Qualität in Zusammenhang zu setzen, denn der erste und zweite Roman erschienen fast zeitgleich im Jahre 1994; der dritte Teil ein Jahr später 1995. Der erste Teil ist in der Heyne Sonderreihe "Warp" 7 ein zweites Mal aufgelegt worden.  2003 erfolgte eine Neuveröffentlichung in einem umfangreichen Taschenbuch mit einem quasi neuen, das Titelbild des ersten einzeln veröffentlichten Romans überarbeiteten Cover. In seinem langen Prolog hat Hans Joachim Alpers diese Szene als eine Art Wendepunkt in seinem Kosmos ausführlich beschrieben.

Es ist nicht notwendig, sich mit dem Spieltechnischen Hintergrund auszukennen. In „Das zerrissene Land“ speziell, in allen drei Romanen jeweils als Einleitung zu einem neuen Kapitel bringt Hans Joachim Alpers die Leser nicht nur auf den notwendigen Wissensstand, sondern geht expliziert auf die sozialen wie wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland ein. Natürlich lassen sich Überschneidungen nicht verhindern, aber die Einführung ist stringent geschrieben und setzt quasi auf beiden Seiten – Spielwelt und deutsche Geschichte – notwendige Akzente.  

Interessant ist, dass Hans Joachim Alpers nicht auf die erste Version des Spieles zurückgreift.  Robert N. Charette, Paul Hume und Tom Dowd haben für die amerikanische Firma FASA Corporation 1989 eine Version entwickelt, die im Jahr 2050 spielt. Drei Jahre später überarbeiteten die Drei ihre erste Fassung und präsentierten Shadowrun im Jahr 2053 spielend. Auch wenn Hans Joachim Alpers mit langen Zeitleisten von der Gegenwart - die frühen neunziger Jahren - bis in das Jahr 2053 die historischen Lücken füllt, endet seine Geschichte quasi zum Zeitpunkt der zweiten Fassung.  Vier Jahre nach Hans Joachim Alpers Romanen erschien eine dritte Version, die im Jahre 2060 spielt. Auf diese Fassung nimmt auch das inzwischen angebotene Computerspiel "Shadowrun Return" Bezug.

Die jeweiligen Kapitelüberschriften aller drei Romane sind allerdings pure Vergangenheit. Mit sichtlichem Vergnügen zitiert der Autor die Titelzeilen einer Reihe bekannter wie unbekannter Rock Ohrwürmer.

Der Plot des ersten Romans „Das zerrissene Land“ wird vom getriebenen Protagonisten Thor Warlez gut zusammengefasst. Erst hat er auf seinen Missionen kein Glück, dann kam hinsichtlich seiner weiblichen Begleiter auch noch Pech dazu. Sowohl Hans Joachim Alpers als auch der Protagonist Thor Warlez sind sich des Deja Vus durchaus bewusst. Die Wiederholung von Ereignissen macht einen Teil des Reizes des stringent geschriebenen, von einem hohen Tempo geprägten Romans aus.

Seine Lebensgeschichte ist eng mit dem Schicksal Deutschlands verbunden. Neben den ökologischen Veränderungen hat der Eintritt der Schatten, der Magie beginnend mit den gigantischen Drachen das Land verändert. Deutschland ist in Kleinstaaten zerfallen. Die Konglomerate beherrschen das Land, wobei sie sich wie in William Gibsons „Neuromancer“ erbittere Duelle hinter den Kulissen liefern. Daten sind das Gold der Zukunft und Thor Warlez ist nach seiner Tätigkeit als „Icemacher“ für einen Konzern inzwischen ein freiberuflicher Shadowrunner, der meistens zusammen mit einem Team in die EDV Anlagen der Konzerne eindringt und Daten per Auftrag inzwischen freiberuflich stiehlt.

Die erste in dem Roman beschriebene Mission scheitert, einzelne Mitglieder seines Teams kommen ums Leben. Thor Warlez beginnt an sich selbst zu zweifeln und sieht nicht mehr alles als Pech an. Es kommt für ihn überraschend, als man ihn quasi „entführt“ und zwangsverpflichtet. Aufgrund seiner früheren Tätigkeit für einen der ganz großen Konzerne in Deutschland sind seine Standardzugangsdaten nicht gelöscht, sondern nur vergraben worden. Mit diesen rudimentären Informationen als Sprungbrett soll er mit einem neuen Team eine im Grunde Selbstmordmission starten und einen Chip stehlen, der wahrscheinlich ein Türöffner zu fast allen anderen Konzernen der Welt ist.

Hans Joachim Alpers ist sich handlungstechnisch bewusst, dass er viele Klischees streift. Das Pech klebt Thor buchstäblich an den Fingern, wobei er mit einer Mischung aus Zweifeln und Selbstüberschätzung selbst sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Die zweite, den Roman dominierende Mission wäre für ihn ein idealer Ausstieg angesichts der überdurchschnittlich hohen Bezahlung. Um sicher zu gehen, dass er diese Mission auch erfüllt, wird ihm eine langsam wirkende, tödliche Droge gespritzt. Beide Ideen kommen dem Leser aus anderen Büchern und Filmen wie „Die Klapperschlage“ ohne Frage bekannt vor und Alpers negiert diese Vertrautheit auch nicht.

Selbst die Ausgangsbasis der Mission wird klassisch vorbereitet. Ein Team exzentrischer Einzelgänger, die mittels eines komplizierten Plans zusammenarbeiten müssen. Gleich zu Beginn wird Thor Warlez innerhalb der Anlage ausgerechnet von einer alten Freundin erkannt. Damit droht zumindest seine Identität aufzufliegen und egal wie der Coup abläuft, wird sich jemand dran erinnern, dass Thor Warlez zum ersten Mal seit acht Jahren ausgerechnet an dem Tag auf dem Gelände gewesen ist, in dem eingebrochen worden ist.

Die zweite Hälfte des Buches besteht aus einer kontinuierlichen Flucht vor den Kräften, die Thor Warlez mit seinem Einbruch geweckt hat. Allerdings hat in diesem Punkt Hans Joachim Alpers ein fatalistisches Ass im Ärmel und zeigt nachdrücklich auf, dass auf der einen Seite Thor Warlez weiterhin das Pech an den Stiefeln klebt, auf der anderen Seite die Frauen immer noch zu ihm stehen, sowie als drittes Element er nicht immer das Ziel der Jäger ist.

Während der Plot in einem hohen Tempo teilweise mechanisch abläuft, fasziniert „Das zerrissene Land“, wie die ganze Serie aus anderen Gründen.

Die Zeichnung der Protagonisten ist zwar teilweise pragmatisch und erinnert manchmal ein wenig zu sehr an die Schemata, auf denen William Gibson seine Protagonisten aufbaute. Selbst die Spiegelbrille darf bei Tag oder Nacht nicht fehlen, Aber vor allem den Nebenfiguren gibt Alpers immer wieder kleine Momente, in denen sie aus dem vom Tempo geprägten Korsett ausbrechen können und einen längeren Eindruck als gedacht im Gedächtnis der Leser hinterlassen.  Thor ist selbst überrascht, dass sich Frauen in ihn verlieben können oder bereit sind, sich für ihn quasi zu opfern. Das schmeichelt ihm, belastet aber auch seine Psyche. Kritisch gesprochen könnte der Leser sagen, dass Alpers ganz bewusst zwei vergleichbare Ideen in einen Plot einbaut. Aber Alpers ist sich dieser theoretischen Schwäche bewusst und dreht das fast ausschließlich aus Thor Warleczs ablaufende Szenario auf den Kopf. Das bedingt aber zusätzlich, das vor allem der erste Band der Trilogie handlungstechnisch unfertig erscheint und der Plot eher aufhört als das er abgeschlossen wird. Genauso abrupt ist der Einstieg in den zweiten Band der Serie.    

Die eigentliche Stärke aber nicht nur dieses Buches, sondern der ganzen Trilogie ist die Zeichnung „Deutschlands in den Schatten“.

Das beginnt mit dem historischen Ablauf, der sich aus einer Abfolge von ökologischen Katastrophen wie mehreren Sturmfluten, welche die ganze Küstenlandschaft verändert haben, aber auch wirtschaftlichen Veränderungen wie dem Zusammenbruch der klassischen Schwerindustrie im Kohlenpott zusammensetzt.  Immer wieder unterbricht Hans Joachim Alpers den Handlungsbogen, um objektiv als übergeordneter Erzähler oder subjektiv vor allem aus Thor Warlezs Perspektive die jeweilige Situation und den entsprechenden historischen Hintergrund zu erläutern. Dadurch ergibt sich ein faszinierendes verzerrtes Bild dieses postmagischen Deutschlands, dessen Detailliebe an die Romane Thomas Zieglers erinnert.

Die magischen Ideen werden beginnend mit den allerdings im Off erwähnten Drachen eher effektiv eingestreut. Ein Zwergenreich, das seit Jahrtausenden tief unter den Kohlenschächten des Ruhrgebiets existiert und die menschlichen Hinterlassenschaften eher als Ein- oder Ausstieg nutzt. Dazu Trolle und Zwerge, wobei Hans Joachim Alpers bei den Trollen eine Idee der Wild Cards Serie von George R.R. Martin aufgreift. Anscheinend hat ein Virus die Menschen teilweise verändert. Inzwischen lebt im Jahr 2050 mehr als eine Generation mit diesen körperlichen Veränderungen. Die Elfen mit ihren Bogen sind dagegen aus einem Parallelreich, das nichts mit der reinen Cyberpunk Schattenwelt zu tun hat, quasi hinübergestiegen und verdingen sich als professionelle wie stoische Menschenjäger.

 Die Zauberer werden ambivalent eingesetzt. Sie erinnern manchmal an modernisierte Versionen von Gandalf mit ihrem umfangreichen Wissen. An einer anderen Stelle beteiligen sie sich an den Selbstmissionen und sind elementarer Bestandteil eines von den Deckern initiierten Shadowruns in die von Gibson so meisterhafte postulierte Cyberpunk virtuelle Realität. Alpers setzt ihre Macht aber nicht allumfassend ein, sondern sie wirken wie ein effektiv eingesetztes, aber ambivalent charakterisiertes Puzzlestück, das aus dieser magischen Parallelwelt quasi in dem postindustriellen Spielszenario abgelegt worden ist.

Bezeichnend ist, dass der alte „Zauber“ der Zigeuner dreidimensionaler beschrieben wird als das seltene, aber in der Theorie Plot entscheidende der „echten“ Magier.      

Die Missionen in die Computersysteme erinnern aus heutiger Sicht an die „Matrix“ Filme. Hans Joachim Alpers hat sich lange vor der amerikanischen Blockbuster Trilogie am amerikanischen Cyberpunk orientiert. Auch wenn jeder einzelne Roman über ein entsprechendes Glossar verfügt, das eine Vielzahl von Begriffen und Namen zusätzlich erläutert, könnten die rasant beschriebenen Szenarien Leser verwirren, die sich mittels William Gibson schon in diese Welt eingetaucht sind. Die Visualisierung der Vorgänge überzeugt. Hinzu kommt, das Alpers mit dem auf einem Klischee aufbauenden Prolog weit über den ersten Roman vorgreift und  den eher bodenständig pragmatischen  Thor Warlezs an seinem Verstand zweifeln lässt. Es sind diese langen Passagen, welche nicht nur die Trilogie, sondern das ganze Spielszenario mit mehr als bislang sechzig eigenständigen Romanen der Science Fiction zuordnet und die Fantasy Elemente in den eher notwendigen, aber relevanten Hintergrund drückt.

Die erste komprimiert erscheinende Mission bereitet quasi den Boden für den langen Showdown, der mehr als Zweidrittel des Buches einnimmt und gleichzeitig ein Ende wie auch einen Neuanfang darstellt. Auch wenn Alpers bei Details gerne auf Wiederholungen zurückgreift und nicht immer in der Lage ist, das Tempo weiterhin zu steigern und/oder das Bremspedal bis zum Anschlag gedrückt zu halten, umfasst seine Actionszenario eine Reihe von überzeugend beschriebenen Klassikern: die Flucht aus einer streng gesicherten Fabrikanlage; die Verfolgungsjagd über die Autobahn mit einem Tanklastzug als entscheidenden Bremsklotz; die freie Flucht durch die Wälder und über die kleineren Berge bis schließlich zu einer ausweglosen Situation, wo die Hilfe in letzter Sekunde quasi von außen kommt. Aber Hans Joachim Alpers hat einen letzten Pfeil im Köcher und relativiert während des angesprochenen Epilogs in einer Hinsicht: Thor Warlezs ist nicht der Mittelpunkt dieser fiktiven Welt.  

„Das zerrissene Welt“ ist unabhängig vom Spielhintergrund ein klassischer Cyberpunk Roman mit einem sympathischen, auf sich alleine gestellten, gesellschaftlich sich selbst isolierenden Rebellen „without a Case“, keinem stilisierten James Dean, aber auch keinem grundlegenden Zyniker, wie in Bruce Sterling oder William Gibson so gerne beschrieben haben. Das beschriebene Deutschland – wobei die Einschübe zu den einzelnen Kapiteln auch wiederholende Elemente beinhalten -  ist die eigentliche Stärke dieses auch heute noch lesenswerten, allerdings auch ein wenig archaisch wirkenden Romans.