Corvus

Neal Stephenson

Neal Stephensons neuer Roman „Corvus“ ist für sich alleinstehend. Neal Stephensons „Corvus“ ist aber auch die charakterliche Fortsetzung zu seinem schon 2011 veröffentlichten High Tech Thriller „Error“. Was im ersten Moment wie ein Widerspruch wirkt, lässt sich auf den zweiten durchdringenden Blick leichter klassifizieren. Aus dem geradlinigen, aber nicht weniger umfangreichen „Error“ hat der Autor zwei Charaktere und eine grundlegende Idee übernommen. In „Error“ entwickelte er dank des Spielerentwicklers und inzwischen Milliardärs vor dem Hintergrund eines Massively Multiplayer Online Role- Playing Game eine neue Welt, in welche nicht nur die Spieler schlüpfen konnten, sondern die sich noch in den Gesetzmäßigkeiten des Programmierers zu verselbständigen begann. In „Corvus“ geht es um die Idee, für den menschlichen Geist, also die Seele eine virtuelle Welt zu erschaffen, in welcher die Menschen unsterblich werden.

Nach dem „Tod“ eingefroren und damit in der Zukunft wieder erweckt zu werden, vielleicht sogar von Krankheiten geheilt, ist keine neue Idee des Genres. Von H.G. Wells bis Robert A. Heinlein sind die Autoren immer davon ausgegangen, dass die zukünftige Welt zwar anders, aber immer besser sein wird. Auch wenn sich wie bei Heinlein das Geschlecht des Schläfers veränderte, sollten diese immer körperlich wieder erweckt werden. In „Coervus“ geht es auf der technisch realistischen Handlungsebene darum, die Voraussetzungen für derartige komplexe virtuelle Welten zu erschaffen und schließlich die Seelen, aber nicht alle Erinnerungen, nicht das klassische Bewusstsein mittels einer Scanmethode in diese künstlich erschaffenen und sich quasi selbst weiter entwickelnden Welten zu versetzen.

Auf der anderen, die zweite Buchhälfte dominierenden, aber leider auch sehr viel Tempo und Realismus aus dem Roman entziehenden Ebene beschreibt der Autor, die die Protagonisten mit diesen neuen Erfahrungen zurechtkommen und wie in bei einem Rollenspiel ihre eigene Welt weiterentwickeln. Religiöse Bezüge wirken dabei aufgesetzt, denn auch wenn „Adam“ und „Eva“ ihre Welt erkunden, sind sie weder die ersten Menschen in der Simulation, sondern handelt es sich um das Paradies. Äpfel sind allerdings vorhanden.

Aus „Error“ übernimmt Neal Stephenson Richard Forthrast und seine adoptierte Nichte Zula. Es ist nicht unbedingt notwendig, „Error“ vorher gelesen zu haben, aber der High Tech Thriller gibt einen guten, einen überzeugenden Einblick in die Welt des Exzentrikers Richard Forthrast, der durch das Online Spiel ein Multimilliardär geworden ist. Gleich zu Beginn von „Corvus“ stirbt Forthrast bei einem Routineeingriff. Sein umfangreiches Testament sieht vor, dass sein Körper eingefroren und sein Geist schließlich in die virtuelle Welt übertragen werden soll, sobald die Kapazitäten und vor allem auch die Technik reicht. Dazu will er den Großteil seines Vermögens in einen entsprechenden Trust übertragen.    Sein Geld reicht nicht alleine. Auch ein beruflicher Widersacher beginnt sich für die Sache zu interessieren, zumal seine bisherige Technik für diese Prozesse als nicht ausreichend angesehen wird.

Zula wird zur Generalbevollmächtigten der Stiftung ernannt. In „Error“ war es ihr krimineller Freund, der den Rechner eines Verbrechers mit einem neuartigen Computervirus infizierte und damit eine Reihe von Verfolgungsjagden auslöste. Zula ist aber nur ein schwaches Glied in der Kette. Sie bleibt aber die wichtigste, nicht selten im Hintergrund überfordert agierende Bezugsperson der Leser, während ihre Tochter dank ihrer überragenden Computerfähigkeiten, aber auch der Sehnsucht nach ihrem Onkel die Entwicklung eines virtuellen Horts entschlossen vorantreibt.

Enttäuschend ist, dass die virtuelle Simulation, der imaginäre Himmel am Ende eines langen Schöpfungsprozess eher wie die Widergabe eines Videospieles mit mittelalterlichen Wurzeln und vor allem sehr vielen mystischen Hinweisen wie sprechenden Raben - der Titelcharakter - aussieht. Zu Beginn scheint Neal Stephenson noch den Versuch zu unternehmen, eine eigene Welt zu erschaffen, die aber wenig mit den Lebenden zu tun hat. So werden die Seelen oder Bewusstseine auch nicht für den Leser wiedererkennbar im die Simulation übertragen, sondern gescannt. Erinnerungen gehen dabei verloren, Charakterzüge sind weiterhin peripher vorhanden. Ob diese Art des Weiterlebens wirklich als Unsterblichkeit angesehen und mit Milliarden von Dollarn bezahlt werden muss und sollte, bleibt als Frage offen.

Neben Adam und Eva mit Sex ist die Idee, dass es in dieser Welt Helden - die "Guten" aus der Realitätsebene -, aber auch Schurken - ein konträr denkender und rücksichtslos handelnder Milliardär - gibt nicht unbedingt neu, aber zumindest lesenswert unabhängig von den spürbaren Längen vorgetragen. Auch impliziert Neal Stephenson, dass diese Welt oder besser Welten sowohl den Tod, die Löschung und damit eine erneute Wiedergeburt innerhalb der virtuellen Welt kennen, als auch diese Welten bald schon nicht mehr von außen gesteuert sich weiter entwickeln. Der Zeitablauf ist ohne weitere Erklärungen deutlich beschleunigt, so dass die Menschen außen  ganze evolutionäre und vor allem zivilisatorische Prozesse verfolgen können. Spätestens mit der Quest am Ende des Buches gerät diese Handlungsebene allerdings zur Farce und enttäuscht.  Viele hätten sich das Jenseits anders vorgestellt. Als Videospiel ohne Frage nachvollziehbar, als hochtechnische künstliche Welt eher bieder. Auch in "Error" hat Neal Stephenson in der zweiten Hälfte seines Buches mehr und mehr auf die Videospielszenarien zurückgegriffen, diese aber einer mehr als einhundert Seiten umfassenden fortlaufenden Actionszene gegenübergestellt, so dass in "Error" die Realität aus James Bond artiger Perspektive brutaler, aber auch faszinierender gewesen ist als die künstliche erschaffene Welt.

Etwas Vergleichbares lässt sich auch über "Corvus" sagen. Je weiter der technische Fortschritt abläuft, um so schwerer wird es mit den gängigen Mitteln, den unglaublichen Energieverbrauch der Server zu decken und leider nur als Streifzug wirkt die Idee einer Übertragung der Seele in eine andere Welt sich auf das alltägliche, mehr und mehr das Risiko bis zur Isolation scheuende Leben der reichen oder superreichen Menschen aus. Neal Stephensons Bücher "Error" und "Corvus" streifen zwar die normalen Menschen, spielen aber ausschließlich im kapitalistisch geprägten Milieu der absoluten Oberschicht.  

Den "Schwächen" stehen aber auch sehr viele gute Ideen gegebenüber.  Technischer Fortschritt ist bei Neal Stephenson immer Teamwork. Dabei kommt es nicht nur auf das Geld im Hintergrund an, sondern die Menschen an der Front. Herkünfte irritieren den Autor eher. Die grundlegende Idee der Konservierung wird von Neal Stephenson exemplarisch extrapoliert. Mehr und mehr unterscheidet der Autor zwischen dem im  Grunde zu einem Perpetuum Mobile werdenden virtuellen Universum, das nicht nur neue Landschaften, sondern bald auch neue Seelen unabhängig von den tausenden von "Toten" erschafft. Hinzu kommt, das aus diesem virtuellen Universum heraus in mehrfacher Hinsicht eine Art Blasenfortschritt gesteuert wird. Serverkapazitäten müssen erschaffen und erkauft werden. Dazu agieren bald Roboter auf der Erde und riesige Solarkraftwerke im Erdorbit auf Gehieß der Toten und nicht mehr der Leben, das Schauspiel faszinierend beobachtenden Menschen. Die gewaltigen finanziellen mittel der drei Gründer sind inzwischen zu einem Tropfen auf dem heißen Stein geworden. Algorithmen erschaffen durch Sekundentrading mehr und mehr Gewinne und damit inflationiertes Geld. Neal Stephenson ignoriert bei dieser Idee, das irgendwann es nicht mehr an den Märkten und Börsen Mensch gegen Maschine ist, sondern Maschine gegen Maschine. Da dürfte es nur noch Sieger und keine Verlierer geben. Das könnte allerdings auch bedeuten, dass die Aktien und Rohstoffkurse sich noch mehr als in der Gegenwart vor jeglicher Realität abheben und die fiktiven Gewinne in reale Investitionen umgesetzt werden, ohne das die Ausgangsmenge Geld noch einen Sinn ergibt. Es gibt anscheinend in der Theorie Neal Stephensons kein dummes Geld mehr. Mit einer Exkursion in der Alltagsleben der stetig mehr und mehr um ihre Gesundheit und damit das aktive Jenseits fürchtenden Menschen hat die Maschine die Kontrolle übernommen und der Mensch hat sich in seinen jeweiligen Wohnungen oder Häusern eingeigelt, abseits von anderen Menschen.

Noch eine weitere Idee wird gleich zu Beginn des Buches vom Autoren angerissen, aber niemals zufriedenstellend vollendet. Anscheinend gibt es einen Atombombenanschlag auf eine kleine Gemeinde in den USA. Im amerikanischen Hinterland. Keine Nachrichten dringen mehr durch zu diesem Ort. Es gibt Handyaufnahmen von Augenzeugen. Verstümmelte Berichte, das Militär riegelt die Gegen weiträumig ab.   Die Auflösung ist verblüffend und verstörend zu gleich. Sie gibt einen Hinweis auf den zweiten Teil des Buches mit der virtuellen wie isolierten Welt, die autark funktionieren soll, aber sich trotzdem widerwillig den profanen menschlichen Regeln inklusiv eines inzwischen nicht mehr exzentrischen Milliardärs, sondern eines „gottgleichen“ archaischen Herrschers unterwerfen soll.

Die simpelste Botschaft des Romans könnte sein, dass sich in der menschlichen Geschichte alles wiederholt und viele Menschen aus nicht mal der eigenen Vergangenheit wirklich was lernen. Aber damit würde der Leser den spannenden Abschnitten des Buches nicht gerecht. Die moralisch technische Seite sollte den Plot dominieren, wird aber mehr und mehr zu Lasten oder zu Gunsten der endlos erscheinenden, von philosophischen Dialogen in einem wirklich langweiligen Jenseits zur Seite gedrängt.

Wie „Error“ ist „Corvus“ vielleicht keine einfache Lektüre in einem allerdings stringent gestrickten Korsett. „Error“ konnte einige  Schwächen zu Gunsten der langen Actionszenen überdecken. Am Ende von „Corvus“ muss sich der Leser fragen, ob die Mühe der Protagonisten, ein Paradies für die lebenden vergeistigten Seelen der Toten zu erschaffen, in dieser Hinsicht wirklich die Mühe wert gewesen ist. Oder ob sich die Menschen/ Akteure mehr zu Lebzeiten auf die wenigen vergänglichen Freuden konzentriert hätten. Das Verbindungsglied zwischen beiden Büchern ist Zula, die im ersten Roman von ihrem Freund verraten worden ist, im zweiten Buch mehrfache persönliche Verluste erleiden muss und trotzdem mit Einschränkungen standhaft stoisch der ihr auferlegten Aufgabe nachgegangen ist. Zu Lasten des eigenen Lebens.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Goldmann Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (26. Juli 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 1152 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3442315425
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3442315420
  • Originaltitel ‏ : ‎ Fall, Or Dodge in Hell
  • Corvus: Roman