Das Gedankennetz

Herbert W. Franke

„Das Gedankennetz“ ist die erste offizielle Romanveröffentlichung Herbert W. Franke und steht deswegen auch als zweiter Band der Werksausgabe des Verlags p.machinery zur Verfügung. Insgesamt mindestens mehr als dreißig Bände sollen erscheinen mit dem ersten verfassten, aber erst später unter Pseudonym veröffentlichten Roman in der Reihenfolge ihrer Publikation als zum Beispiel fünften Band dieser von Thomas Franke so passend illustrierten Reihe. Alle Bände der Werksausgabe sind mit ergänzenden Informationen ausgestattet. Ulrich Blode geht auf die unterschiedlichen Veröffentlichungen und Auflagen dieses Buches individuell bebildert ein, während Hans Esselborn auf den Begriff der Virtualität in Herbert W. Frankes nicht nur literarischen, sondern künstlerischen Werk eingeht.

 „Das Gedankennetz“ ist zusammen mit dem ebenfalls 1961 verfassten Der Orchideenkäfig“ nicht unbedingt eine klassische Auseinandersetzung mit virtuellen Welten, sondern zeigt auf, wie leicht mittels in diesem Fall extrapolierter Verhörmethoden das menschliche Individuum zerlegt, kontrolliert, neu systemkonform zusammengesetzt oder schließlich im Fall eines Misserfolgs lobotomiert werden kann. Herbert W. Frankes Buch ist ein typisches Produkt seiner Zeit, beeinflusst von „1984“ allerdings ohne den großen Bruder und der „schönen, neuen Welt“. Wie viele der frühen Frankebücher leidet der Fugenroman unter einer eindimensionalen Zeichnung der Protagonisten. Erst später wird der erfahrene Herbert W. Franke eine perfektere Balance zwischen seinen nicht selten leidenden Protagonisten in höflich gesprochen herausfordernden Welten und den phantastischen Hintergründen finden. Positiv gesprochen ist diese Balance auch nicht nötig, denn der Autor impliziert, dass die „Wirklichkeit“ nur Teil einer absoluten Manipulation des oder der Protagonisten nicht.

 Dem Leser fällt es schwer, in dem Buch einen wirklichen Aspekt zu finden. Selbst die Befehle einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Politikern basierend auf ihren Diskussionen und den aus ihrer Sicht zu interpretierenden Testergebnissen könnten nur eine weite Zwiebelschale in einer absurden dystopischen Gesellschaft sein. Abschließende Antworten verweigert der Autor und trägt damit zur Desorientierung bei, unter welcher seine Protagonisten Eric und Janet leiden.

 Der Roman setzt sich aus für den Leser anfänglich nicht zu erkennenden Episoden zusammen. Dabei spielt Herbert W. Franke zu Beginn der Geschichte mit klassischen Science Fiction Elementen wie der ersten Begegnung einer angeblich ins All entsandten Crew mit einer fremden Intelligenz. Nach und nach werden die Szenarien verbunden durch den „Protagonisten“ Eric bodenständiger und nähern sich den Elementen der klassischen Anti- Utopie an.

 Anscheinend ist Frankes Zukunftsgesellschaft auf Perfektion getrimmt. Nicht nur Perfektion der Oberschicht, der Hochbegabten, sondern eine Art gesichtslosen Masse. Individuen, die aus unterschiedlichen Gründen wie Emotionalität, Intelligenz oder in anderer Richtung das System unterminierender Dummheit sowie Faulheit auffallen, werden ausgesondert und in einem sehr umständlichen, im Grunde nur in der Theorie der Literatur funktionierenden Art und Weise „untersucht“, in dem sie anscheinend in einer virtuellen, von den Wissenschaftlern gesteuerten „Realität“ verschiedenen Tests unterworfen werden. Die Struktur des Romans zeigt aber, dass diese Tests im Grunde selbst für die Experten schwierig zu bewerten sind. Anstatt auf eine Reihe einfacher Szenarien zurückgreifen und damit dem Leser die Absurdität dieser Gesellschaftsnorm vor Augen zu halten, entwickelt Herbert W. Franke ambitioniert bis an die Grenze der Übertreibung derartig herausfordernde, nicht zu erfüllende Szenarien, die isoliert betrachtet absolut lesenswert und interessant sind, aber das vom Autoren formulierte Ziel fast überschreiten. 

 Die Systemtreue soll genauso geprüft werden wie die Bindung des Menschen an eine Art Konsumgesellschaft, deren Hintergründe Herbert W. Franke allerdings nur rudimentär extrapoliert und damit den Kern seine kapitalistisch orientierten Gesellschaft nicht zufrieden stellend offen legt.

 Zu Beginn sind zwei eher klassisch zu nennende First Contact Geschichten. Die Auflösung der Szenarien durch den Protagonisten Eric wird diskutiert, allerdings konzentriert Herbert W. Franke in der Struktur seines Episodenromans die Ausgangsbasen derartig, das der Leser wie auch die später die Auflösung diskutierenden Wissenschaftler an eine Quadratur des Kreises glauben muss. Vielleicht ist das auch eine der bizarren Ideen dieses Buches. Die Herausforderungen sind Moebiusbänder, es gibt keine zentralen Lösungen und die einzelnen Protagonisten in den Mühlen des Systems gefangen haben keine Chance, der ihnen zugedachten Erlösung – viele Leser sehen es wie Huxley oder Orwell als drakonische Bestrafung – zu entkommen. Die einzelnen Tests scheinen tatsächlich nur dazu zu dienen, das unausweichliche Schicksal nicht unbedingt hinauszuzögern, sondern für eine gesichtslose Kontrollinstanz erklärbar zu machen. In dieser Hinsicht sind die Entscheider genauso Opfer.

 Herbert W. Franke verzichtet auf eine mögliche Simulation in der Simulation und folgt nicht dem Weg Galoyes in seinem herausragenden Werk und von Rainer Werner Fassbinder so genial verfilmten Werk „Simulacron 3“, aber Janets Flucht mit Eric zu den Außenseitern, die unter primitiven Umständen in der Nähe des Abwassers dahin vegetieren deutet so etwas an. Eine vorläufige Rückkehr in die Arme der Gesellschaft ist nur durch die Aufgabe des Widerstands und damit den „Tod“ in der Simulation möglich. Die Wahrscheinlichkeit, das ein Mensch dieses Sturz in die Tiefe, zurück in den Mutterleib, ins endlose dunkle Nichts überleben könnte, erscheint in der Realität gering. Bei Franke ist es aber die Einbahnstraße zurück. Wie der Autor aber klar macht, ist diese Eisenbahnstraße sinnlos. Die Bestrafung, die Entscheidungen stehen schon lange fest und werden in dem ein wenig abrupten Ende umgesetzt.

 Auch wenn die einzelnen Episoden interessant und spannend verschiedene klassische Themen der Science Fiction beginnend mit einem First Contact und endend in einer primitiven vielleicht sogar postnuklearen Gesellschaft streift, sind die Übergänge ein wenig abrupt. Die Gesichtslosigkeit der Protagonisten passt zu der kargen kalten zukünftigen Gesellschaft, allerdings arbeitet Herbert W. Franke zu wenig die Möglichkeit aus, dass im Grunde „drei“ Tests ablaufen. Auf der einen Seite wird Eric immer wieder mit verschiedenen Szenarien konfrontiert, später Janet. Die finale und längste Episode soll ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und die Bereitschaft, selbst Opfer zu erbringen, um den anderen zu retten, untersuchen. Die Zusammenhänge zwischen den Protagonisten und damit auch die Ziele der Wissenschaftler bleiben in dieser in Herbert W. Frankes so signifikanten distanzierten Stil geschriebenen Szenarien vage. Damit fordert er auf der einen Seite ohne Frage seine Leser heraus, entsprechende Antworten zu suchen, auf der anderen Seite verweigert der Autor für den Erzähler auch wichtige Aspekte seines Szenarios und unterminiert ein wenig das nihilistische Ende.

 Herbert W. Frankes  Kritik an den Auswüchsen nicht nur eines Überwachungsstaats, sondern dem Versuch in der Orwell und Huxley Tradition, eine perfekte emotionslose, aber im Grunde auch nur theoretisch funktionierende Gesellschaft zu erschaffen ist auf der einen Seite ohne Frage zeitlos, auf der anderen Seite von der pervertierten Gegenwart schon eingeholt werden. Wie die Antiutopien einer Reihe von deutschen Autoren nicht selten basierend auf den Folgen einer atomaren Auseinandersetzung ist Frankes Frühwerk der Versuch, den plakativen amerikanischen Space Operas eine intellektuelle Gedankenschwere entgegenzusetzen und vor Exzessen zu warnen. Wie Hans Esselblohm in seinem Nachwort klar macht, fokussiert sich Franke in seinem Gesamtwerk auf einzelne Entwicklungen und kehrt gerne zu den Ausgangsszenarien in variabler Form zurück, um sie am Zeitgeist zu prüfen und zu justieren. „Das Gedankennetz“ ist ein Roman der sechziger Jahre, die heute vielleicht wie viele Antiutopien eher im Geiste denn in der Ausführung aktuell ist. Aber als Ausgangspunkt einer einzigartigen Werksausgabe und vor allem als Schlüssel einer neuen Lesergeneration zu Herbert W. Frankes umfangreichen, über vierzig Jahre umfassenden literarischen Werks führt kein Weg an diesem labyrinthisch aufgebauten aber klassisch strukturierten Buch vorbei.              

Herbert W. Franke
DAS GEDANKENNETZ
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke, Band 2
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
AndroSF 51
p.machinery, Murnau, Dezember 2015, 184 Seiten, Paperback
Softcover – ISBN 978 3 95765 050 4 – EUR 10,90 (DE)
Hardcover (limitierte Auflage) – ISBN 978 3 95765 051 1 – EUR 18,90 (DE)