Clarkesworld 182

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke spricht in seinem Vorwort von der Bezahlung der Autoren, deren Gehaltserhöhungen in erster Linie zur Lasten der Marge der Herausgeber gehen. Trotzdem sieht er zehn bis zwölf Cents pro Woche noch nicht als angemessen an. Der sekundärliterarische Artikel geht dieses Mal unter die Haut, da der Autor von der Erkrankung der eigenen Tochter schreibt.

Arley Sorg hat zwei sehr unterschiedliche Interviews mit noch relativ unbekannten Autorinnen zusammengestellt. Xueting Christine Ni berichtet nicht nur über die Situation in China im Allgemeinen und die Besonderheiten, eine Anthologie zusammenzustellen, sondern auch über Erfahrungen, sowohl in London als auch China verwurzelt zu sein. Charlie Jane anders ist eine junge expressive Autorin, die vor allem über ihren bisherigen literarischen Werdegang spricht.

 Insgesamt zwei Noveletten und fünf Kurzgeschichten mit einer offiziellen Übersetzung, aber Autoren von verschiedenen Kontinenten hat Neil Clarke zusammengestellt.

 Will McIntosh eröffnet die Ausgabe mit „Mom Heart“, in welcher ein Mann mit dem Verlust seiner Ehefrau, aber noch schlimmer der Tatsache konfrontiert wird, wie er es seinen beiden Töchtern beibringen soll. Eines der Mädchen ist Autistin. Der Mann eine provozierende, aber für das kranke Mädchen abschließend rettende Idee. Will McIntosh geht aber in seiner Geschichte noch einen Schritt weiter, in dem das Umfeld des Mannes dessen orthodoxe Vorgehensweise zumindest diskutieren, wenn schon nicht kommentieren darf, ohne zu einer anderen Lösung zu kommen. Intelligent, emotional ohne Pathos mit einem alltäglichen Problem im Mittelpunkt des Plots.

 Anna Martino präsentiert mit „This Stich, This Time“ eine humorvolle Story über eine Frau, dessen  Großmutter am Anzug von Neil Armstrong für die Mondlandung mit genäht hat. Jetzt erzählt sie eine wichtige Aufgabe und will sich der Herausforderung stellen. Sie scheint zu ahnen, dass die bevorstehende Reise zum Mars in einer Katastrophe enden kann, aber wer will schon einer Näherin Glauben schenken. Die Ausgangsprämisse erscheint lächerlich und absurd, aber Anna Martino kann mit ihren dreidimensionale Figuren und vor allem den pointierten Dialogen den Leser in dieser Hinsicht ablenken, zumal die Science Fiction Elemente am Ende von Phantasie, nicht aber Fantasy an den Rand gedrängt werden.    

 Rebecca Campbells „The Language Birds Speak” ist einer der beiden Novellen. Ein Junge hat Probleme mit jeglicher Form der Sprache. Nur wenige Worte kann er sagen. Dafür gibt er andere Laute von sich. Seine Mutter schreibt ihn auf einer besonderen Schule ein. Die Entwicklung des Jungen, die Besonderheit der Schule und vor allem die Entwicklung des persönlichen Hintergrunds von Mutter und Tochter dominieren die erste Hälfte der Geschichte  Alle Figuren sind glaubhaft gezeichnet, vor allem die einzelnen Situationen erscheinen alltäglich. Die phantastisch utopischen Elemente können vom Leser komplett ignoriert werden. Später fügt die Autorin die fast obligatorische Geheimorganisation inklusiv einer kleinen besonderen Gruppe von Menschen der Geschichte hinzu. Dadurch wirkt der Text schematischer und vor allem im Groben stereotyper. Die feinen Nuancen zu Beginn der Geschichte werden fast komplett überdeckt und die Hintergrundstory erscheint konstruiert. Vor allem, weil die Autorin es sich in einer Hinsicht einfach macht. Die fehlenden Worte, die beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten werden durch „Freiflächen“ gekennzeichnet, so dass sich der Leser entweder selbst Gedanken und die Lücken füllen kann oder er lässt es. Dadurch wirkt der Text allerdings deutlich distanzierter  und einzelne Charaktere geraten unnötig in den Hintergrund.

 L. Chans „The Death Haiku of the Azure Fire“ reiht sich titeltechnisch sehr gut in diese Ausgabe ein  Viele der Kurzgeschichtentitel sind emotionaler und vor allem eingängiger als die eigentlichen Texte. Verschiedene künstliche Intelligenzen erzählen von einem intergalaktischen Krieg gegen andere künstliche Wesen. Dazwischen schreiben sie Haikus. Im Gegensatz zu einer zweiten künstlichen Intelligenz Geschichte dieser „Clarkesworld“ Ausgabe – „Dark Waters Still Flow“ – sind weder die Perspektive noch die Anzahl der beteiligten künstlichen Intelligenzen klar erkennbar. Der Hintergrund wird von der Autorin als gegeben angenommen, der Leser findet auch über die Haikus keinen echten Zugang zum Geschehen.    

 Wie schon erwähnt ist Alice Toweys „Dark Waters Still Flow“ die zweite Geschichte mit einer künstlichen Intelligenz im Mittelpunkt. Sie kontrolliert die Wasserversorgung einer kleinen Kolonie auf einer fremden Welt. Auf der anderen Seite möchte sie gerne ein Mensch sein. Dabei verführt sie die kontinuierliche Lektüre menschlicher Literatur. Als plötzlich Störungen auftreten, muss die künstliche Intelligenz mit einem menschlichen Techniker zusammenarbeiten, dessen Hintergrund allerdings nicht klar durchschaubar ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Storys ist es Alice Toweys gelungen, den Plot nicht nur aus der Perspektive der weiterhin fremdartig erscheinenden künstlichen Intelligenz zu erzählen, sondern vor allem ihre Motivation überzeugend darzulegen. Dabei ist sich die Protagonistin ihrer „Absonderlichkeit“ klar bewusst. Sie widerspricht jeglicher Maschinenlogik, erscheint ihr aber auch unwiderstehlich.

 Die Schwäche der Geschichte ist die eher menschliche Motivation. Es ist ein schmaler Grat zwischen der Demonstration der eigenen Meinung und damit der Sicht als Repräsentant des ursprünglichen Volkes und der Vernichtung nicht nur der „Fremden“, sondern im Grunde durch die Destabilisierung der ganzen Wasserversorgung aller Menschen auf diesem Planeten. Auch braucht die künstliche Intelligenz im Gegensatz zu den Lesern zu lange, um entsprechende Muster zu erkennen.

 Die einzige Übersetzung ist „City of Eternity“ von Pan Haitian. Es handelt sich um eine reine Fantasy Geschichte ohne Science Fiction Elemente. Ein Soldat begleitet ein Prinzessin, die als einzige den Untergang ihres Landes überlebt hat. Das wirkt auf  den ersten Blick ein wenig überzogend, aber Pan Haitian beschreibt immer wieder die barbarische Grausamkeit des Krieges. Die Prinzessin befindet sich eher auf einer Odyssee als einer Flucht. Durch den Genuss von Früchten können sie den Aufstieg und Untergang mikroskopisch kleiner Nationen verfolgen und damit deren Schicksal auf die eigene Vergangenheit übertragen. Pan Haitian versucht mit dieser Traumreise den bodenständigen Sword and Sorcery Hintergrund seiner Geschichte aufzulockern, verzettelt sich aber in Vergleichen und führt den Plot abschließend nicht zufrieden stellend zu Ende.

 Shari Paul ist die Autorin der zweiten Novellette dieser Sammlung. „Between Zero and One There is Infinity“ verfügt über einen ausführlich entwickelten Hintergrund. Außerirdische übernehmen eine im Sterben begriffene menschliche Kolonie auf dem Mars. Beide Rassen kommen im Grunde gut miteinander aus, die Außerirdischen werden auch eher als Helfer denn als Bedrohung angesehen. Natürlich gibt es menschlichen Widerstand, der angesichts der Notsituation der Menschen per se absurd und undankbar erscheint. Eine weitere Kraft im Hintergrund möchte die Außerirdischen aus anderen Motiven töten.  Vor diesem Hintergrund wird beschrieben, wie das Bewusstsein eines menschlichen Kindes in einen Roboterkörper übertragen wird. Das Kind ist allerdings bei den Außerirdischen aufgewachsen. Damit schließt sich ein kleiner Kreis zur ersten Geschichte, wo ja ein Roboter quasi an Elternstatt versucht hat, die Trauer des autistischen Mädchens zu heilen.

 Das Tempo der Geschichte ist ausgesprochen hoch. Die verschiedenen Handlungsebenen werden gut miteinander verbunden, wobei die Autorin auch sehr viel Wert drauf legt, alle Seiten entsprechend zu charakterisieren und vor allem auch keine reinen schwarzweiß Motivationen zu präsentieren. Auch wenn die Handlungen der Menschen in der vorliegenden Form nicht immer nachvollziehbar sind, beschreibt sie die Autorin abseits der fanatischen Klischees, die gegenwärtig nicht selten die Presse beherrschen. Die Auflösung ist eine reine sehr lange aber auch zufrieden stellende Actionsequenz, an deren Ende nicht alle Konflikte gelöst, aber zumindest einige der Ausgangsprämissen nicht nur den Lesern, sondern vor allem auch den Charakteren klarer werden. Eine spannende, vielschichtige und vor allem auch vielen Klischees ausweichende Geschichte.

 Zusammengefasst präsentiert Neil Clarke für den November eine erstaunlich kraftvolle Mischung aus thematisch irgendwie miteinander verknüpften Storys. Der Herausgeber legt mehr Wert auf Emotionen, auf menschliche Elemente denn nachvollziehbare und logischer Technik. Zusammen mit dem schönen Titelbild eine lesenswerte Ausgabe, auch ideal zum Einstieg geeignet.  

cover

E Book, 122 Seiten

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