Die Berechnung der Sterne

Mary Robinette Kowal

Mit „Die Berechnung der Sterne“ legt die amerikanische Autorin Mary Robinette Kowal viel mehr als eine literarische Mischung aus „The Right Stuff“ und „Hidden Figures“ in einem stilistisch sehr ansprechend geschriebenen Buch. Viel mehr ist es eine Auseinandersetzung mit rassischen und geschlechterspezifischen Vorurteilen ohne einen Kevin Costner, der einfach von der weißen Frauen vorbehaltenen Toilette bei der NASA das Schild abschlägt.  Stephen Baxter hat sich in seinem Roman "Mission Ares" ebenfalls an einer etwas anderen Chronologie der Weltraumgeschichte versucht. Bis auf die Ich- Erzählerperspektive und den ein wenig flapsigeren Ton könnten die beiden Romane Baxters und auch Kowals gleichberechtigt und qualitativ überdurchschnittlich in Regal der alternativen Science Fiction stehen. 

Der Roman ist eine Prequel zu der schon 2014 veröffentlichen Kurzgeschichte „The Lady Astronaut of Mars“, für den sie 2014 den HUGO erhalten hat. Noch drei andere Kurzgeschichten spielen in diesem Universum. Es ist nicht notwendig, diese Text vor der Lektüre des mit allen wichtigen Preisen ausgezeichneten Romans „Die Berechnung der Sterne“ zu kennen.

Vor ihrer Karriere vor allem als Science Fiction Schriftstellerin hat Mary Robinette Harrison verheiratete Kowal als Puppenspielerin unter anderem für Jim Henson Produktionen gearbeitet.  Neben dem John W. Campbell Award 2008 als beste Newcomerin sind ihre Arbeiten mehrfach für den HUGO nominiert worden. Beginnend mit ihrer Kurzgeschichte „Evil Robot Monkey“  und endend mit einer weiteren Nominierung für den zweiten Teil von „Die Berechnung der Sterne“ – „The Relentless Moon“. Auch wenn ein wichtiger Handlungsbogen im vorliegenden Buch abgeschlossen worden ist, gibt Mary Robinette Kowal in ihrem Nachwort zu, dass aus dem geplanten einen Buch schließlich ein Doppelband werden musste, um nicht nur dem Thema Raumfahrt, sondern auch der drohenden Klimakatastrophe nach Einschlag eines Meteoriten gerecht zu werden. Von den historischen Nebenkriegsschauplätzen von der Diskriminierung von Frauen und Nichtweißen einmal ganz abgesehen.   

Ausgangspunkt der Geschichte ist ein verheerender Meteoriteneinschlag in den USA in den fünfziger Jahren. Schon vorher hat Mary Robinette Kowal die Weichen zu einer dezenten Veränderung der bekannten Vergangenheit gestellt, in dem sie einen eher Raumfahrt freundlicheren Präsidenten als Truman die Wahl hat gewinnen lassen. Neben Zehntausenden von Toten inklusiv der Auslöschung Washingtons und der amerikanischen Regierung droht der Welt durch die in die Atmosphäre entwichenen Wassermassen erst mehrere Jahre ein Winter, später eine kontinuierliche Erhitzung der Erde.  Mary Robinette Kowal gibt in ihrem Nachwort zu, dass sie das Thema der globalen Erwärmung nicht außeracht lassen wollte. Die Erde wird immer schwerer zu bewohnen und die Zukunft der Menschen muss im All liegen.  Im Laufe der Geschichte taucht zwar die Idee der ökologischen Folgen des Kometeneinschlags genau wie der Verlust von vielen Menschen immer wieder auf, drängt sich aber auch nicht wirklich auf. Die agierenden Menschen der oberen sozialen Schicht Amerikas leider keine wirkliche Not. Viel eindringlicher erscheint, dass die Amerikaner erst aus dem Einschlaggebiet alle Weißen gerettet und die Schwarzen in ihren Ghettos zurückgelassen haben. Die Schwierigkeiten im alltäglichen Leben kann der Leser an Lebensmittelmarken, vielleicht auch dem sündhaft teuren Champagner erkennen, aber die Idee einer zweiten Basis, damit die Menschheit per se überleben kann, wird mehr und mehr mit fortschreitendem Astronautentraining und dem Mond als Ziel in diesem Buch zurückgedrängt. Es ist gut möglich, das die Autorin dieses Thema wieder im zweiten Buchteil aufgreift, aber alleine "Die Berechnung der Sterne" betrachtend gehen wichtige und zeitlose Aspekte der Handlung im wahrsten Sinne des Wortes unter und räumen den Platz für den altbekannten Konflikt zwischen arroganten/ selbstverliebten Männern und Frauen, die um Gleichberechtigung jeden Meter kämpfen müssen.  

Die Ausgangsbasis ihres Szenarios skizziert die Autorin auf wenigen dramaturgisch gut geschriebenen Seiten gleich zu Beginn des Buches.   Der Leser verfolgt das Geschehen ausschließlich aus der Perspektiv Elma Yorks, welche auch im Mittelpunkt der Novelle „The Lady Astronaut of Mars“ steht. Zusammen mit ihrem Mann wollte sie in der Einsamkeit der Wälder einige schöne Tage verbringen, als ihre Welt aus den Fugen gerät.

 Im Laufe des weiteren Plotverlaufs konzentriert sich die Autorin auf zwei Handlungsbögen. Einmal den Geschlechterkonflikt und parallel die ersten Schritte ins All. In unterschiedlichen Funktionen stehen dabei Elma York und ihr Mann in erster Reihe. Dabei bedient die Autorin natürlich auf der Realität basierend auch einige aus heutiger Sicht Klischees. Im Nachwort macht sie aber deutlich, dass sie sich soweit es irgendwie es geht an der Realität orientiert hat. Eine explodierende Rakete, die allerdings rechtzeitig selbstzerstört werden konnte und nicht auf die Erde stürzte. Eine Astronaut mit einer Nackenverletzung, welche ihn mehr als ein Jahr zurückwirft, auch wenn es in der Realität kein klassischer Antagonist gewesen ist. Das Problem, das sich eine Schleuse wegen eines verkanteten Teils nicht schließt oder die Idee, Starts eher in der Äquatornähe durchzuführen. Die Szenen basierend alle auf Fakten. Dadurch wirkt das Raumfahrtprogramm inklusive der Ausbildung des Astronauten auch authentisch und überzeugt deutlich mehr als der anfänglich dominierende, anschließend in den Hintergrund tretende ökologische Aspekt.    

Es ist ein schmaler Grat, auf sich die ehemalige Pilotin und Mathematikerin Elma York hier bewegt. Sie will, dass die Menschheit das All erreicht. Ohne Frage. Mehr und mehr schiebt sich aber auf der Geschlechterkonflikt in den Vordergrund. Sie will auch, dass im All Kolonien entstehen und dazu braucht man auch Frauen. Sie will, dass es nach den Qualitäten und nicht dem Geschlecht geht. Gleichzeitig muss sie aber auch erkennen, dass die amerikanische Gesellschaft – auch wenn es sich um eine globale Mission handelt, steht Amerika mit seinem Rassismus im Mittelpunkt der Handlung und damit auch der Kritik – moralische Grenzen überwindet. Dabei muss sie selbst lernen, dass sie als Jüdin auch noch einen weiten allerdings unbewussten Weg gehen muss.        

Das wird ihr zum Beispiel von einer Gruppe farbiger Pilotinnen verdeutlich, da in mehrfacher Hinsicht trotz überragender Qualitäten benachteiligt sind. Das wird ihr vorher klar, als Amerika seine Schwarzen in den Ghettos vergessen hat. Auch wenn diese Szene dramaturgisch eindringlich ist, widerspricht sie wahrscheinlich jeglicher Realität. Angesichts der Auswirkungen erscheint es unwahrscheinlich, dass nur Weiße aus den Krisengebieten geholt werden und die Farbigen quasi auf Rettung warten müssen. Viele Menschen haben es auch mit Fahrzeugen und zu „Fuß“ geschafft.

Am Ende wird Elma York als Lady Astronaut gegen ihren Willen zum Gesicht des neuen Programms, aber inhaltlich auch nicht zum einzigen Hoffnungsträger. Am Ende steht sie allerdings doch für ein Novum in dem Programm.

Neben dem pragmatischen Thema, die Menschheit braucht eine zweite Basis, und dem technisch gut veranschaulichten Raumfahrtprogramm steht ein dritter Punkt auf der Agenda des Romans.

Die Zeichnung von dreidimensionalen Charakteren, ohne welche die Geschichte nicht funktionieren könnte. Elma York ist zu Beginn eine junge Frau verheiratet mit einem Traummann, die ihre fast ihre ganze Familie durch den Meteoriteneinschlag verliert. Sie muss sich anschließend nicht nur mit dem Verlust auseinandersetzen, sondern lebt unter einfachen, aber niemals primitiven Umständen in der Nähe der neuen Raketenbasis. Im Zweiten Weltkrieg hat sie Flugzeuge überführt und ist als Tochter des Generals mit ihrem damaligen Vorgesetzten aneinander geraten. Natürlich ist dieser Vorgesetzte auch im Raumfahrtprogramm ihr potentieller Feind, dem es weniger um Respektlosigkeit gegenüber Frauen im Allgemeinen, sondern den Konflikt mit Elma York im Besonderen geht. Elma York ist eine brillante Mathematikerin. Sie leidet unter Nervosität und hat Angst, von ihrem Umfeld nicht ernst genommen zu werden. Deswegen hat sie sich als Teenager umbringen wollen. Ein Satz aus dem Nichts, dem wie an einigen anderen Stellen zu wenig Gehalt folgt. Am Ende der Geschichte irgendwo zwischen Baum und Borke ist aus der nur reagierenden sympathischen Frau ein Charakter geworden, dessen negative Aspekte zu sehr um Vordergrund stehen, als das sie wirklich nur sympathisch sein kann. An den Ecken und Kanten feilt die Autorin zu wenig und die sarkastischen, das Geschehen kommentierenden Bemerkungen wirken plötzlich arrogant und genauso despektierlich wie die Machokommentare der Männer gegenüber den Lady Astronauts, die inzwischen in den USA eine gigantische Fangemeinde haben. Ihre größte Schwäche scheint ein Jugendtrauma zu sein, das sie nur mit anfänglich abgelehnten Medikamenten bekämpfen kann. Natürlich wird es während der Astronautenausbildung zu einer offenen Flanke, die sich dann allerdings auch wieder in Luft auflöst.   

Ihr Mann Nathaniel ist die perfekte, wie unrealistische Inkarnation eines Mannes. Er ist verständnisvoll, unterstützt seine Frau trotz aller Launen; er ist ihr Gatte und gleichzeitig Vorgesetzter. Im Bett eine wahre Pracht. Er unterstützt Elma selbst zu Lasten der eigenen Karriere und am Ende verzeiht er ihr selbst, wenn sie überfordert ihren Teil der Hausarbeit nicht macht. Natürlich hat Elma angesichts dieses fast erdrückenden Verständnisses ein schlechtes Gewissen.  Auch wenn die beiden Sex haben und sich wirklich überdurchschnittlich bis fast langweilig perfekt verstehen, fliegen keine romantischen Fetzen. Emotional findet die Autorin keinen  Zugriff auf ihre wichtigsten Protagonisten, Auf der anderen Seite erliegt sie dadurch auch nicht der Versuchung, eine klassische Soap Opera zu schreiben.  

Der „Schurke“ ist der Ex Flieger und jetzt Leiter des Astronautenprogramms Parker zusammen mit einem Senator, der seine Scheuklappen bis vor die Stirn trägt. Parker ist von Elma York im Krieg angezeigt worden. Auf ihn hat die Anzeige wegen sexueller Belästigung Karrieretechnisch Wirkung gezeigt, auch wenn er hoch gefallen hat. Trotzdem werden auch in den fünfziger Jahren Frauen belästigt. Am Ende des Buches hat der Leser aber auch das unbestimmte Gefühl, als wenn sich Frauen nur als Frauen fühlen, wenn ihnen die Männer ein überdurchschnittliches sexuelles Interesse entgegenbringen. Parker muss am Ende im Grunde zum handlungstechnisch richtigen Zeitpunkt seinem Körper Tribut zollen und die „Gegner“ stehen plötzlich auf der gleichen Seite. In einem Film wäre eine derartige Sequenz mit kitschiger Musik untermalt worden.

Um diese wichtigen Charaktere herum hat die Autorin eine Reihe von pragmatischen Figuren platziert, die immer sehr nahe am Klischee sind. Die intelligente, aber auch unglaublich hübsche Brasilianerin; die Frau eines Senators mit einem nicht endenden wollenden Vorrat als Alkohol, Tabletten auf Rezept und guten Ratschlägen oder der Franzose mit seinem auch in der Übersetzung erkennbaren französischen Akzent. Die Asiatin hat Herzprobleme. Die farbigen Pilotinnen, die alle mehr Erfahrung als Elma York in Kampfflugzeugen, aber nichts Jets haben zeigen ihr alltäglich die Diskriminierung der Farbigen im amerikanischen Alltag. Elma Yorks schlechtes Gewissen hält aber nur für ein Kapitel. 

Einige der wenigen Szenen, in denen sich die zukünftigen Astronautinnen befreit fühlen, ist der Klatsch & Tratsch über den potentiellen Sex im All. Schließlich soll sogar ein Ehepaar demnächst zur Orbitalstation fliegen. Natürlich Franzosen. 

In einem Punkt wirkt "Die Berechnung der Sterne" aber konträr. Elma York begegnet mehrfach Werner von Braun. Sie erkennt in ihm gleich den Nazi, den Handlanger des Terrors. Auch wenn Deutschland in vielen Punkten blind gewesen ist, hat Rainer Eisfeld erst in mühevoller Kleinarbeit in den neunziger Jahren von Brauns nationalsozialistische Vergangenheit herausgearbeitet. Auch wenn Elma York eine hochintelligente und gebildete jüdische Frau ist, kann sie angesichts ihres fehlenden Zugangs zu Geheimarchiven diese Informationen zu Beginn der fünfziger Jahre nicht gehabt haben. Die NASA hat schon dafür gesorgt, dass die plötzlich rehabilitierten Raketenmänner aus Peenemünde ein sauberes Image hatten. Einen Hinweis, dass in Elma York Verwandte hatte, die zum Beispiel in den die V Waffen herstellenden KZs ums Leben gekommen sind, gibt es nicht. Es ist eine dieser vielen kleinen Szenen, in denen die Autorin trotz gegenteiliger Behauptungen im Nachwort ein wenig unsauber und die Leser manipulierend zu Wege geht.   

„Die Berechnung der Sterne“ ist ein Roman, der sich auf einem schmalen Grat zwischen kitschigem cineastischen Drama und einem wirklich originellen Stoff bewegt. Positiv ist, dass trotz einiger aufgesetzter emotionaler Szenen und dem Verlust des roten Fadens Klimakatastrophe der Plot mit einem hohen Tempo voran bewegt und die Autorin es schafft, die Atmosphäre der fünfziger Jahre USA wie aus einem der gegenwärtig populären „zeithistorischen“ Dramen auferstehen zu lassen. Auch wenn der Rest der Welt auf einzelne lose in der Luft hängende Anmerkungen reduziert wird. Positiv ist weiterhin, das „Die Berechnung der Sterne“ einfach den Pioniergeist der frühen Heinlein Romane Frauen inklusive widerspiegelt und sich ähnlich flott wie eine Coming-of-Age Geschichte für Erwachsene liest.  Positiv ist als Drittes, das der Stoff noch über sehr viel Potential verfügt, das wahrscheinlich erst im zweiten Teil des Romans bzw. der mehrfach erwähnten Novelle zufriedenstellender gehoben wird.

Negativ ist, dass es sich die Autorin hinsichtlich ihrer zu künstlich komplizierten, aber nicht unbedingt dadurch komplexen Charaktere zu einfach macht und einzelne handlungstechnische Elemente eben eher wie bei einer Soap Opera denn eines würdigen Dramas zusammenfallen. "Die Berechnung der Sterne" ist trotz oder vielleicht auch wegen der Schwächen wie John Varleys "Thunder" Tetralogie Retro Science Fiction der besseren Art... der neuen Art. Es ist ein interessantes, ein phasenweise sogar sehr packendes, aber nicht wie die Preise implizieren ein herausragendes Buch.

Die Berechnung der Sterne: Roman | Der mehrfach preisgekrönte Alternate-History-Roman aus den USA

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 1. Edition (3. Januar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 512 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3492705979
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492705974
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Calculating Stars