Die Killer- App

Adrian Urban

“Die Killer- App” ist nicht nur der erste Roman um den Protagonisten Ram Collins, sondern auch das Romandebüt des bislang als Sachbuchautor aufgetretenen Adrian Urban. Hauptberuflich ist der 1966 geborene Urban Diplom- Psychologe und Verhaltenstherapeut. Neben verschiedenen Artikel nicht nur in Fachmagazinen, sondern auch dem Tagesspiegel oder der Berliner Zeitung hat er verschiedene Sachbücher zu psychologischen, pädagogischen und psychotherapeutischen Themen geschrieben. 

Mit mehr als vierhundert Seiten Umfang verlangt der Autor von seinen Lesern auch sehr viel Geduld. Der Roman lässt sich zwar klassisch in drei Teile - ein sehr langer Prolog; der mittlere Abschnitt der Reise und schließlich die auch dem Leser dämmernde Erkenntnis - aufteilen, aber bis der Plot an Tempo gewinnt und vor allem der Handlungsbogen die notwendige innere Spannung erreicht dauert es seine Zeit. Und das hat weniger mit den einzelnen, teilweise sehr klischeehaft erarbeiteten Aspekten der Handlung zu tun, sondern vor allem mit Adrian Urbans einem Sachbuch vergleichbaren Stil. 

Ram Collins agiert als virtueller Pornohengst und verdient sich damit sein Geld. Wie vieles in diesem Buch ist die Realität allerdings deutlich weniger erotisierend als die harte Arbeit, die hinter dem zwar realen Orgamus, aber der Idee steckt, dem Partner virtuell Erfüllung zu schenken. 

Durch einen Zufall findet er eine App, die er umgehend auf seinem implantierten Cyberport ausprobiert. Sie ermöglicht es ihm, die Gedanken seiner Mitmenschen zu lesen. Für den notorischen klammen Ram Collins vielleicht die Möglichkeit, aus seinem bisherigen Leben auszubrechen. 

Die Idee, das Menschen auch mittels einer App und nicht wie in einer bekannten Heftromanserie aufgrund ihrer Mutantenfähigkeiten zu Telepathen werden, ist alt bekannt. Wie die andere populäre Fähigkeit des Unsichtbarwerdens arbeiten die Autoren aber inzwischen deutlich realistischer und zeitgemäßer an diesen Themen. So sucht Ram Collins eine effektive wie einfache Möglichkeit, mit der Fähigkeit Geld zu verdienen. Dabei bleibt er beim Pokerspiel hängen. Anscheinend dürfen in Adrian Urbans fiktiver Welt Anfänger sogar technische Hilfsmittel mitnehmen, denn lange Zeit ist seine Fähigkeit an den implantierten Cyberport gebunden. Es erscheint unwahrscheinlich, dass in der Zeit der Hacker und der ungeahnten technischen Fähigkeiten solche aktiven Hilfsmittel selbst bei den Neos zugelassen werden. Denn auch die anfänger spielen um ein ordentliches Preisgeld. Aber ohne diese Prämisse funktioniert der Roman nicht und die Handlung wäre schnell zu Ende. 

Später muss der Autor diese Idee sogar noch um eine Nuance erweitern, denn wie aus dem Nichts in einer Extremsituation funktioniert das Gedankenlesen in Form von Bild- oder besser Spielkartenerkennung sogar ohne Cyberport. 

Natürlich lässt sich auch die Weiblichkeit viel besser erkunden, wenn man die Gedanken und heimlichen Wünsche der Frauen espern kann. Das führt zu einer Reihe von gegenseitig befriedigenden One Night Stands. 

Schnell wird die Unterwelt auf Ram Collins aufmerksam und ein eindimensional gezeichneter Gangster mit jugoslawischen Namen macht ihm ein Angebot, das Ram Collins nicht ablehnen kann. Er soll für ihn spielen. Die Gewinne werden nicht redlich, aber zumindest geteilt, was ihm für kurze Zeit einen Luxuslebensstandard ermöglicht. 

Bis zu diesem Punkt ist nicht nur ein Viertel des Buches vorbei, Adrian Urban setzt sich mit einer Reihe von relevanten Punkten eher oberflächlich auseinander. Die App stammt von einem gefundenen Chip, auf welchem nur der Name einer Firma steht und die Stadt Bristol. Um nicht wahllos Gedanken zu lesen, lässt sich Ram mit Hilfe seines opportunistischen Freundes und natürlich Computernerd eine Art Schutzschild bauen, denn die Telepathie geht bei Adrian Urban durch die Ohren. Der 3D Drucker gibt den Telepathiekopfhörern ein unauffälliges, den Ohren nach geformetes Aussehen. Die neuen Hörer müssen derartig perfekt sitzen, dass Ram Collins in einigen der wenig aufregend geschriebenen Actionszenen die Ohrlöffel vergisst und sich deswegen nur sehr viel schwerer retten kann. 

Irgendwann beschließt Ram Collins, die Fähigkeit möglichst wieder loszuwerden, da sie ihm nur Schwierigkeiten vor allem in Form der nimmersatten Clangangster bringt. Ramm Collins Erfahrungen hinsichtlich Gewalttätigkeiten beschränken sich natürlich auf ein entsprechendes Computerspiel, nur mit mittelalterlichem Szenario. 

Neben Untertauchen bleibt nur die Reise an den möglichen Ursprung des Chips übrig. An seiner Seite steht der ambivalent beschriebene Mirco, der Computernerd. Lebensunerfahren, isoliert, aber geschäftstüchtig. Mit dem Zug brechen sie auf. Für Ram Collins ist es sogar eine Art Rückkehr in die Heimat, denn er ist von Geburt Ire. 

Der mittlere Abschnitt beschreibt nicht nur die Reise nach Bristol und die Suche nach der verschwundenen Firma - deren Auffinden ist dann allerdings von einer Reihe von Zufälligkeiten begleitet -, sondern auch eine Art Exkurs in die Seele der irischen Weltbürger. Egal wo sie sich aufhalten. Hauptsache das Bier hat die richtige Temperatur und in einer Kneipe/ Gastwirtschaft kann man sogar die richtige Gesellschaft finden. Das der Arm der Berliner Gangster weit reicht und notfalls die gekauften Drogen helfen müssen, steht auf einem anderen Blatt. Das Team wird noch um die britische Krankenschwester Violet ergänzt, die wegen Mopping und den demoralisierenden Zuständen in britischen Altenheime ihrem Leben ein Ende setzen möchte. Ram rettet sie und schnell findet sie Vertrauen. 

Der Abschnitt wirkt sehr gedehnt und Adrian Urban findet im direkten Vergleich zu vielen Lesern auch Gefallen an seinen Protagonisten. Die Spannungskurven sind eher flach angelegt. Der Gangster wird schnell ausgeschaltet. Auch in der ehemaligen Firmenzentrale des App Herstellers werden die Hindernisse nicht nur überwunden, der Papierkorb gibt einen weiteren Hinweis zur Fortsetzung dieser Schnitzeljagd. 

Im letzten Viertel überschlagen sich die Ereignisse. Die Welt wird unerklärlich technischer mit den selbstfahrenden Taxis, den verschiedenen Passagieren - zwei Frauen und ein seltsamer Mann - und schließlich dem Eindringen in die Chipfabrik. Allerdings greift Adrian Urban auf eine Reihe von Ideen anderer Autoren zurück, um den Handlungsstrom mitten in einer Szene abzubrechen. Der Vorhang wird allerdings nur kurzzeitig geschlossen, die Übergänge zum zweiten hoffentlich interessanteren Roman gelegt. Aber in solchen Momenten zeigt sich noch die Diskrepanz zwischen literarischer Ambition und handwerklicher Fähigkeit. Es gibt keinen Grund, quasi in einer Art überleitenden Epilog den Leser stellvertretend in Form eines Referats über verschiedene, Ram Collins und seine Freunde nur peripher und doch wieder unmittelbar betreffende historische Abfolgen zu informieren. Ohne die Pointe zu verraten, ist sie nicht neu und vor allem in der vorliegenden Form auch viel zu wenig erklärt.  

Ein zusätzliches Problem ist die Zeichnung der Figuren. Da hilft auch nicht die fast abschließend entschuldigende Bemerkung, dass mindestens zwei “Personen” die Charaktere in der vorliegenden Form lieb gewonnen haben und an deren charakterlicher Evolution interessiert sind. Der immer surrealer und sich damit auch von der im Nachhinein erklärten Ausgangsbasis entfernende Hintergrund der Geschichte spricht eher für das Gegenteil.  

 Ram Collins bezeichnet sich zwischendurch als das arrogante Arschloch, das er niemals richtig sein will. Frauen als Sexobjekte ist so lange ok, wie beide Seiten mit offenen Karten spielen. Der erspielte Reichtum steigt ihm mit zwei Wohnungen - privat und die eigentliche Sexhöhle - zu Kopf.  Opportunistisch schlägt sich der Protagonist durchs Leben, aber Sympathie kommt im Grunde an keiner Stelle wirklich auf. Dabei reicht das Spektrum von selbst Schuld bis dumm/ naiv.  Mirco ist anfänglich der geschäftlich orientierte Nerd, der mit Ram Collins eher am ausgestreckten Arm was zu tun haben möchte. Ein typischer Hinterbankfreund, den man nur in der Not fragt. Im Laufe der Suche ergänzen sich die beiden Protagonisten eher dank ihrer jeweiligen Schwächen, aber weniger der eher rudimentäre vorhandenen Stärken. Dazwischen muss aber angereichert durch die Begegnung mit einigen exzentrischen, aber deutlich liebevoller als die wichtigen Protagonisten gezeichneten Charakteren die Handlung ein wenig durch endlos erscheinende, teilweise belehrend geschriebene Diskussionen gedehnt werden. Alleine die pragmatische und vom echten Leben gezeichnete Violet ist in dieser Hinsicht ein Lichtblick. 

Die Gangsterfamilie dagegen ist aus dem Lehrbuch stammend. Eine Mischung aus Drohungen und Schmeicheleien, aber irgendwie in keiner der Szene wirklich lebensbedrohend. Zu leicht können die Antihelden entkommen. 

Bis in letzte Viertel hinein ist auch der Titel des Buches nicht erklärlich. Ram Collins kann Gedanken lesen oder Bilder erahnen, aber von einer Killer App ist der Plot so weit entfernt wie der Leser von einem literarischen Blockbuster. Da hilft es auch nicht, die Killer App als eine Art Todschlagargument aufzuführen, dessen mannigfaltige Möglichkeiten je nach plottechnischer Gemengelage eingesetzt oder ignoriert werden können.

Das Ende ist abgeschlossen und hinsichtlich einer Fortsetzung offen zu gleich. Wobei in der vorliegenden Form nur bedingt von einem abgeschlossenen Ende gesprochen werden kann. Ram Collins, Mirco und Violet erhalten im Gegensatz zum Leser keine Antworten. Vieles kommt inzwischen nicht nur dem Leser, sondern auch den drei Protagonisten seltsam vor. Adrian Urban hat anscheinend erkannt, daß er auch Kompromisse hinsichtlich der vielleicht nicht mal subtilen Steuerung seiner Protagonisten eingehen muss. Dann reihen sich plötzlich wahrscheinlich nicht mehr unabsichtlich, sondern zielführend die Klischees des Action Kinos - freie Zugänge zum Computer; entsprechend herumliegende und nutzbare Sicherheitskarten und sich “öffnende” Fluchtwege ohne die erdrückende Übermacht aus Werkschutz und Polizei - aneinander, um Violet, Mirco und Ram Collins das ihnen bevorstehende und vielleicht von der Gedankenlese- App erlösende Schicksal zu ersparen. Es ist eine doppelte Ironie, dass ihr Schicksal deutlich komplexer und gleichzeitig auch simpler angelegt bzw. in andere Hände gelegt worden ist. Aber diese Erkenntnisse kommen nach einer zu umfangreichen, stellenweise zu ermüdend angelegten Geschichte fast zu spät, um “Die Killer- App” vom Makel des überambitionierten, handwerklich den Autoren noch überfordernden und als Roman auch zu unglücklich in Richtung Bug und weniger Heck/ Ende konzipierten Plots zu befreien. Mit der offensichtlichen Fortsetzung sollte und muss sich Adrian Urban von den bisher deutlich erkennbare Vorlagen abnabeln und der Geschichte nicht nur die sprichwörtliche “Killer- App”, sondern vor allem auch eine über die einzelnen Ebenen hinausgehende überzeugende Handlung hinzufügen. Bis dahin ist “Die Killer- App” ein teilweise die Geduld der Leser trotz vieler kleiner vor allem von der irischen Atmosphäre bestimmten Szenen strapazierende Thriller, der irgendwie nicht wirklich in Fahrt kommt, obwohl die Protagonisten sehr viel in Bewegung sind.

DIE KILLER-APP: Ram Collins 1

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery (27. März 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 440 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957652758
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957652751
  • Lesealter ‏ : ‎ 14 Jahre und älter
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.7 x 2.79 x 20.29 cm