Zone Null

Herbert W. Franke

Als achten Band der Herbert W. Franke Werksausgabe legt der Verlag p.machinery “Zone Null” neu auf. Neben der Auflistung der unterschiedlichen Veröffentlichungen im Laufe der über fünfzig Jahre seit seiner Entstehung haben die Herausgeber zwei sehr interessante Essays beigefügt. Jan- Erik Bolz geht in “Kybernetik in der literarischen Science Fiction anhand selbst gewählter Beispiele” auf einen wichtigen, aber in den siebziger Jahren teilweise auch rudimentär von Herbert W. Franke herausgearbeiteten Aspekt seines Buches ein. Der für die Titelbilder verantwortliche Thomas Franke versucht in seinem Artikel “Ein Roman, über die Kunst nicht zu hassen” verschiedene Aspekte dieses Romans herauszuarbeiten, wobei einige Ideen auch im Kontext mit Herbert W. Frankes Gesamtwerk gesehen werden sollten, vielleicht sogar müssen.   

Die Ausgangsbasis ist ambivalent. Der Klappentext spricht von einer globalen Katastrophe, viele Kritiker schreiben gleich von den Auswirkungen eines dritten Weltkriegs, der mit atomaren Waffen geführt worden ist. Diese Auseinandersetzung ist anscheinend Jahrhundert alt. Die Überlebenden haben sich in die Bereiche zurückgezogen, die noch nicht derartig verstrahlt sind, das ein Leben/ Überleben nicht möglich ist. Das spricht eher für einen Atomkrieg. Es gibt allerdings auch die Zone Null. Das ist eine Art imaginäre Grenze, in welcher die Strahlung über dem Erträglichen liegen soll. 

Herbert W. Franke bleibt bei seinen Beschreibungen ausgesprochen karg, fast schon stoisch oberflächlich. Auch in seinen bisherigen Romanen hat sich Franke gegen die epochalen Hintergrundbeschreibungen der Science Fiction gewehrt und sich auf die zwischenmenschlichen Konflikte in einer von mindestens oligarchischen, meistens stringent diktatorischen Gesellschaft in der Tradition der Anti Utopien konzentriert. Diese Gesellschaftsformen - nicht zwingend auf der Erde, wie “Tod eines Unsterblichen” zeigt - sind nur nach außen stabil und unerschütterlich. Nicht selten ist es eine Art Außenseiter, der durch sein Eindringen in diese isolierten kleinen Gesellschaften Erschütterungen nicht nur in der Struktur, sondern auch der Stabilität bewirkt. 

Bei “Zone Null” liegt der Fokus ein wenig anders. Anscheinend sind es Aufklärungen von Drohnen, aber auch Angriffe aus der Luft, welche die Aufmerksamkeit auf diese alt tot geltenden Gebiete lenkt. Besser gesagt, das unerklärliche Verschwinden der Drohnenflüge und Angriffe. Die Regierung vermutet, das die dort “herrschende” Zivilisation gegen alle Logik zusammengebrochen ist und will eine Expedition bestehend aus Militärs und wissenschaftlich geschulten Forschern ausschicken. Dem Leser wird allerdings nicht ganz klar, warum das Ausbleiben der Angriffe / Erkundungsflüge erst diese “Neugierde” beflügelt, viel mehr wäre es nach einem vor Jahrhunderten stattgefundenen Konflikt und keinem Kontakt zum Gegner interessant, deren über diese Zeit ausgeführten Angriffsmustern zu folgen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen. Das Ausbleiben der “Attacken” spricht eher dafür, das der Feind sich selbst entsorgt hat. 

Auch wenn die Expedition aus einer nicht näher bestimmten Anzahl von “freiwillig” zwangsverpflichteten Männern und Frauen besteht, ragen mit dem Sozilogen, dem Linguisten, zwei Stromtechnikern sowie der Fernsehansagerin zur Befriedigung der Frauenquote, aber auch dem Kybernetiker Daniel sechs Charaktere zu Beginn des Buches heraus. 

Der mittlere Abschnitt ist vielleicht der interessanteste Teil des Romans. Zwar erreicht Franke nicht die Brillanz der Strugatzkis mit ihrem “Picknick am Wegesrand”,  bei denen sich die Zonen zu eigenständigen ökologischen “Freiräumen” entwickelt haben, aber der Autor greift auch nicht zu sehr auf die Klischees des Genres zurück. Die ersten Untersuchungen in der Zone Null sind erstaunlich cineastisch für den ansonsten ja eher sachlich distanzierten Herbert W. Franke. Das Team bemerkt schnell, das keine lebensbedrohlichen Belastungen mehr vorherrschen. Allerdings hätte das auch eine Fernuntersuchung herausfinden können. Es ist erstaunlich, das Franke auf der einen Seite von den seit Jahrhunderten immer wieder eindringenden Sonden spricht, die Expedition aber nicht mittels ferngesteuerter Roboter vorbereitet worden ist. Das wäre aber der Spannungskurve abträglich gewesen. Die Teilnehmer fühlen sich zu recht von einer unbekannten Seite beobachtet. Immer wieder fahren Sonden aus dem Sand, verschwinden aber bei Annäherung spurlos wieder. 

Sie dringen schließlich in eine sehr moderne, aber menschenleere Stadt ein. Auch dieses Motiv hat Franke schon in seinen ersten Arbeiten immer wieder angesprochen. Nur war es in “Der Orchideenkäfig” eine angeblich tote Stadt auf einem fernen Planeten, die wie in einer Art modernen Computerspiel von zwei konkurrierenden Gruppen untersucht worden ist. In beiden Büchern führt die Spur über die ausgesprochen moderne, intelligent mit viel Komfort angelegte Anlage schließlich in die Innenwelten der Bewohner. 

Daniel findet einen Bewohner, der in einer komplexen virtuellen Simulation immer wieder die Schlacht von Waterloo für Napoleon zu gewinnen sucht. Der Fremde sieht in Daniel einen Quell des Wissens, um das Blatt für den französischen Kaiser zu wenden. Der Kybernetiker Daniel ist von der Komplexität der virtuellen Welt förmlich erschlagen. Mehr und mehr wird Daniel nicht nur zum Bezugspunkt der Leser, das Geschehen spielt sich über zweite Handlungsstrecken der zweiten Buchhälfte ausschließlich um ihn und seine Entdeckungen herum ab. 

Abschließend landet er in einem für diese Art der deutschen Antiutopie typischen wie perfektionierten Umgebung: ein gigantisches Gebäude nach dem Bienenstockmuster aufgebaut und voller Menschen, die in diesem Arbeiter und Intellektuellenparadies mit allem lebensnotwendigen versorgt wird. Im Gegensatz zu dieses paradiesisch erscheinenden Phantasiemodellen, die wie der Sozialismus nicht funktionieren können, hat Franke aber eine Art Antriebskraft eingeführt: Rechnerzeit.   Die “Arbeit” wirkt eher wie eine Art Gehirnwäsche, gesteuert von der allgegenwärtigen Supercomputeranlage. Heute würde man eher von künstlicher Intelligenz sprechen. Die Menschen müssen sich Bildfolgen anschauen und über das visuell passiv Erlebte nachdenken. Franke geht nicht so weit, das der Rechner aus den Reaktionen der Menschen und/ oder vielleicht auch deren Manipulation eine Art selbstlernende und das Gefängnis perfektionierende Superintelligenz erschafft, aber das implizierte Ansatz ist interessant. 

Er geht dann auf eine erstaunliche Art und Weise verloren. Daniel verliert die jedem Menschen von Beginn an zugestandene Rechnerzeit von mehr als zwanzigtausend Sekunden in einem komplizierten, aber von Franke auf den für die Programmierung von Computern relevanten Ziffernfolgen basierenden Spiel. Anscheinend wurde er betrogen.

Ohne die Rechnerzeit kann ein Mensch nicht Mitglied dieser perfekten, perfektionierten, aber auch perfiden Gesellschaft sein. Daniel verspielt mehr Zeit, als er zur Verfügung hat. Schulden gibt es nicht. Franke arbeitet aber die Idee nicht zufriedenstellend heraus, ob es den anderen Teilnehmern am Spiel nicht bewusst gewesen ist, das er als relativer Neuling in der Stadt, aber als Frischling bei diesem Spiel zu viel Zeit verspielt oder er absichtlich aus der “Gesellschaft” gedrängt worden ist. Der erste Aspekt würde für weiterhin menschliche Schwächen wie Habgier selbst in einem paradiesischen Umfeld sprechen; der zweite Punkt eher für Fahrlässigkeit und Gleichgültigkeit. Daniel wird relativ schnell aus der Gesellschaft ausgegrenzt, hat ohne einen Zugang zu seinem Apartment eher ein bedingtes Bleiberecht. 

Im letzten Drittel des Buches dreht Franke aber noch einmal auf. Neben den zwei Wegen, die Daniel bleiben, fügt er noch die Komponente eines totalitären Regimes als Gegenentwurf zum städtischen Paradies hinzu. Nicht alle Ideen sind ausreichend ausgearbeitet. Warum Daniels Wunsch nach “Freiheit” schließlich zu einem Untergang einer der beiden so konträren politischen Systeme führt und ob es sich vielleicht teilweise auch nur um Phantasievorstellungen handelt, bleibt frustrierend offen. Die Wahrheit ist ein wertvolles Gut und sowohl die Bewohner der Stadt mit ihrer Spielsucht als schließlich auch Daniels Vorgesetzte, welche Erfolge gegen alle Realität brauchen, beginnen diese teilweise ohne Not zu biegen. Die eher fadenscheinigen Hintergründe des Spiels stehen dabei der verqueren Ideologie der Expeditionsverantwortlichen gegenüber, die keinen Helden präsentieren wollen, vielleicht auch nicht können, aber die Bewohnbarkeit der Zone Null herausstellen. Mit einer Art But- und Bodenpropaganda soll der erste Schritt in die Zone unternommen werden. Das Getöse ist angesichts der von Daniel berichteten Fakten unnötig und überzogen. 

So bleibt “Zone Null” ein nicht zuletzt wegen der zu starken Kompression notwendiger, aber auch über die angesprochenen Ideen hinaus zu extrapolierender Handlungsteile eine auf der einen Seite klassische Herbert W. Franke Lektüre, die auf einer intellektuellen, aber auch emotionslosen  Ebene sehr gut funktioniert; auf der anderen Seite wirkt das Buch angesichts der vielen vertrauten Versatzstücke aus früheren Franke Romanen aber auch teilweise stark konstruiert und nicht in sich Ideen technisch geschlossen. Franke wollte vor allem im letzten Drittel zu viel, ohne die überwiegend nihilistischen Aspekte entsprechend vorzubereiten und abschließend mit der für Franke bezeichnenden Skepsis gegen jegliche totalitäre letztendlich auch unmenschliche Art der Politik zu präsentieren.     

   



Herbert W. Franke
ZONE NULL
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke, Band 8
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
AndroSF 66
p.machinery, Murnau, Mai 2017, 240 Seiten, Paperback
Softcover – ISBN 978 3 95765 090 0 – EUR 12,90 (DE)
Hardcover (limitierte Auflage) – ISBN 978 3 95765 091 7 – EUR 23,90 (DE)