Clakresworld 190

Neil Clarke (Hrsg.)

Im Vorwort geht Herausgeber Neil Clarke auf seinen zehn Jahre zurückliegenden Herzinfarkt während des “Reader´s Con” ein. E.E. King präsentiert mit einem Artikel über Riefe und die Bemühungen, diese ökologischen Nischen zu erhalten, ein Thema, das weit über den Bereich der Phantastik hinausgeht. 

Arley Sorg interviewt mit Eileen Gunn und Silvia Morena- Garda zwei sehr unterschiedliche Autorinnen. Während Morena- Garda sich mehr und mehr als aufstrebender Stern auch unter den Romanciers etabliert, ist Eileen Gunn sowohl als Herausgeberin wie auch als Autorin von Kurzgeschichten eine langjährige Institution. Wie bei allen Gesprächen Sorgs gehen die Themen über das Genre hinaus, beleuchten die persönlichen Lebensumstände und integrieren auch aktuelle soziale wie politische Brennpunkte. 

Mit drei längeren Texten präsentiert “Clarkesworld 190” insgesamt nur sechs Geschichte. Eliane Boey eröffnet die Ausgabe mit “The Forgotten”, die in einem futuristischen Hong Kong spielt. Xi arbeitet für ihren Freund Wei, der mit Lion City eine virtuelle Kopie Hong Kongs entwickelt hat. Wei versetzt die Besucher in die Jahrtausendwende zurück, als die Zukunft der Millionenmetropole mehr denn je auf Messerschneide stand. Die meisten Menschen leben quasi in Lion City, ihre eigentlichen Körper befinden sich im Grunde abgestellt in der beengten Realität.  Plötzlich tauchen Avatare von toten Menschen auf und Xi wird von ihrem  Freund und gleichzeitig Chef beauftragt, nach der Quelle zu suchen. Natürlich führt diese Mission in die Unterwelt Lion Citys, die sich deutlich weniger von der Realität unterscheidet als es Wei und Xi wahrhaben wollen. Die Auflösung ist zufriedenstellend, aber nicht grundlegend überraschend. Der Überbau der Geschichte ist vor allem für die Länge ausgesprochen ambitioniert, leidet aber auch unter dem entsprechenden Tempo. Die Protagonisten sind eher pragmatisch gezeichnet, so dass vom Leser sehr viel Geduld verlangt wird.

 

David Goodmans “Carapace” konzentriert sich auf ein künstliches Exoskelett, das durch den Verlust seiner menschlichen Fracht plötzlich und vom Autoren zu wenig erklärt eine Art Bewusstsein entwickelt. Während des militärischen Konflikts überlebt das Exoskelett alle anderen Mitglieder seiner Einheit und entschließt sich, einen feindlichen verwundeten Soldaten zu retten. 

Ein Transport des Mannes zu seiner Einheit ist genauso schwierig wie eine Rückkehr in die eigenen Reihen, da ihre Erkennungsmuster zerstört worden sind. David Goodman konzentriert sich neben den Actionszenen auf das immer komplexer werdende Bewusstsein der erwachenden künstlichen Intelligenz, die nicht nur ihre Mission, sondern vor allem generell das irrationale menschliche Verhalten zu hinterfragen beginnt. Hinzu kommt die Frage, ob das Bewusstsein bei einer Rückkehr zur eigenen Armee nicht einfach überschrieben und gelöst, sie also quasi von den eigenen Truppen getötet wird. Neben einer überzeugenden Charakterzeichnung überrascht das doppeldeutige Ende dieser Geschichte.  

Emily Jin hat aus dem Chinesischen “The Strange Girl” von Xinyu Xiu übersetzt. Die namenlose Protagonistin und ihr Mann warten auf die Geburt ihres Sohnes. Eine Wunderdroge gegen Krebs hat vorher einen großen Teil der Menschheit unfruchtbar werden lassen. Die Autorin bemüht sich um eine überzeugende Erklärung, aber die Prämisse wirkt trotzdem konstruiert. Vor allem, weil zu Beginn der Geschichte die Technik anscheinend eine Art Gegenmittel  gegen die Unfruchtbarkeit gefunden hat. Auch wenn sich Xinyu Xiu bemüht, die einzelnen Handlungsfäden zusammenzufassen, wirkt vieles extrem konstruiert. Die Ängste der werdenden Eltern wären noch akzeptabel, aber die beiden eher eindimensional gezeichneten Protagonisten schauen zu weit über den persönlichen Horizont hinaus, so dass ihre Wünsche hinsichtlich eines zweites Kindes für den Leser angesichts der Prämissen eher distanziert und egoistisch erscheinen. Auch verfügt die Novelle über kein zufriedenstellendes Ende. 

Ahmed Asis “To Be” fügt sich thematisch in die Phalanx der hier präsentierten Geschichten gut ein. Nach einem Unfall, der Raza gelähmt zurückläßt, wird ihm in Form eines künstlichen Körpers eine zweite Chance gegeben. Raza ist ein berühmter Schauspieler gewesen, so dass sein enger Freund Ayesha sich quasi um eine weitere Kopie für die Filmaufnahmen bemüht. Razas Ziel ist es, als Hamlet wieder auf der Bühne zu stehen. 

Die Geschichte ist sehr kurz. Razas Bemühungen, den neuen Körper zu kontrollieren, werden überzeugend beschrieben. Auch sein Ziel ist klar. Aber am Ende rundet Ahmed Asis zu viele offene Punkte in wenigen Absätzen ab und verliert den Bezug zu seinen solide gezeichneten Protagonisten.  

Isabel J. Kims “Termination Stories for the Cyberpunk Dystopia Protagonist” ist lesetechnisch auch eine Herausforderung. Stilistisch ausgesprochen expressiv geht es um die Suche nach einer verschwundenen Frau in einem klassischen, fast klischeehaften Cyberpunk Szenario. So heißen die beiden Helfer auch Cool und Sexy Asian Girl. Die Frau ist anscheinend absichtlich verschwunden, Cool und Sexy Asian Girl wissen von Beginn an mehr als sie zugeben wollen. Nach und nach wird deren Beziehung zu Li aufgedeckt. Im Laufe der Geschichte müssen alle Protagonisten ihre Masken fallen lassen. Diese Erkenntnisse sind nicht immer leicht für deren Freunde zu verstehen oder zu verzeihen. Diese Demaskierung macht den Reiz der Story aus. Der Hintergrund ist überzeugend gezeichnet, allerdings bewegt sich Isabel J. Kim auch mehrmals am Rande der Glaubwürdigkeit. Einzelne Szenen wirken start konstruiert. Die Pointe ist zufriedenstellend und rundet diese lesenswerte, auch ein wenig nostalgisch auf die Hochzeit des Cyberpunks zurückblickende Story überzeugend ab.  

Die längste Geschichte der Juli Clarkesworld Ausgabe ist Suzanne Palmers “The Sadness Box”. Die Menschheit führt einen Krieg gegen die Geister, die sie selbst erschaffen hat. Die künstliche Intelligenz. Der Vater des Protagonisten ist ein Erfinder. Die Menschen werden von Nanobots bedroht, welche in die menschlichen Bewusstseine eindringen und sie zu Zombies machen. Es gibt keine Verteidigungsmöglichkeiten. 

Der Vater zeigt seinem Sohn eine faszinierende Erfindung. Eine kleine Box mit einer künstlichen Intelligenz, die sich vor der Welt außerhalb der Kiste fürchtet. Deswegen deaktiviert sie sich mit einer symbolisch aus der Box heraus greifenden kleinen Hand, die den Anschalter wieder ausdrückt. Ein faszinierendes wie gleichzeitig auch verstörendes Bild.   

Auch wenn der Junge den Sinn dieser Erfindung nicht versteht, stiehlt er sie. Eine Kommunikation kann nicht stattfinden. Bevor der Junge sie zurückbringen kann, gerät sein Vater in Lebensgefahr. 

Suzanne Palmer beschreibt eine verstörende Welt aus der Sicht eines vielleicht naiven, aber nicht mehr unschuldigen dreizehn Jahre alten Jungen. Der Diebstahl wird nicht aus dem Affekt heraus durchgeführt. Vielmehr weiß der Junge besser als seine überforderten Eltern, wie man sich in dieser Welt bewegt und wo die Gefahren durch die Nano bzw. Warbots lauern. Suzanne Palmer entwickelt den Hintergrund ihrer Geschichte detailliert, überzeugend und vor allem bis zum passenden Ende auch konsequent. Die Protagonisten sind mit allen Ecken und Kanten gut gezeichnet worden. Ihre Handlungen zumindest nachvollziehbar. Die Idee der sich vor der Welt fürchtenden künstlichen Intelligenz dient fast schon als eine Art MacGuffin, wird aber effektiv eingesetzt. Wie die letzten Novellen aus Suzanne Palmers Feder ist auch “The Sadness Box” eine wirklich herausfordernde, aber auch stimulierende Lektüre. 

Der Juli Ausgabe von “Clarkesworld” überzeugt deutlich mehr als die letzten Nummern. Die Themen sind wieder sehr breit, die Ausführung der Geschichten vor allem hinsichtlich der Hintergründe und der Auflösungen der Plots deutlich nuancierter. Herausragend ist Suzanne Palmers Novelle, die alleine den Erwerb der Ausgabe oder zumindest die kostenlose Lektüre im Internet Wert ist.