Zeit aus den Fugen

Philip K. Dick

Philip K. Dicks 1959 veröffentlichter Roman „Time out of Joint” hat vielleicht eine der längsten Publikationsgeschichten in Deutschland hinsichtlich ihrer verschiedenen Auflagen. Der Nachdruck im Fischer Verlag basiert auf der Haffmannausgabe des Jahres 1995, die sieben Jahre später im Heyne Verlag nachgedruckt worden ist. Diese Ausgabe trägt den Titel „Zeit aus den Fugen“.  Es handelt sich bei dem Titel um ein Originalzitat von August Wilhelm Schlegel übersetzt.

Schon drei Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung publizierte der Balow Verlag „Zeit ohne Grenzen“ als Leihbuch.  Je nach Quelle wurden Heinz Bingenheimer oder Heinz Zwack als Übersetzer genannt. Die zweite Übersetzung für den Goldmann Verlag stammt von Tony Westermayer. Der Roman erschien in der Science Fiction Reihe als „Zeitlose Zeit“.

In den USA ist auffällig, das der Roman zuerst nicht als Science Fiction vermarktet worden  ist. Der Verkauf fiel deutlich hinter Dicks andere als Science Fiction herausgebenene Romane zurück. Erst sechs Jahre später und nach der deutschen Erstveröffentlichung erschien das Buch als Paperback im Rahmen der verlagseigenen  Science Fiction Reihe. Wegen dieses Mißerfolgs hat Dick möglicherweise seine in dieser Zeit auch verfassten Mainstreamromane nicht mehr Verlagen ageboten.

„Time out of Joint“ ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und ein idealer Einstieg in Dicks umfangreichen Schaffen. Das Ausgangsszenario mit einem durchschnittlichen Mann – allerdings hat er eine nicht durchschnittliche Beschäftigung übernommen – lebt in einer amerikanischen Vorstadt, vermeintlich der fünfziger Jahre. Nach und nach gerät sein geordnetes Leben in Unordnung und er weiß nicht, ob es an seiner Umgebung oder ihm liegt. Die Wahrheit ist komplexer, als es der Leser und der Protagonist ahnen sollten.

Neben dieser bekannten Ausgangsbasis finden sich zwei weitere, inzwischen als Allgemeingut bekannte Ideen. Der Roman kann als Vorläufer der „Truman“ Show mit einem deutlich ernsteren Hintergrund betrachtet werden. Noch konkreter wird der 2004 entstandene Film „The Village“ Dicks Grundidee einer in der Vergangenheit isolierten künstlich geschaffenen Gemeinde übernehmen.   

Robert A. Heinlein wird die Idee eines Kolonialkrieges zwischen Mond und Erde in seinem Buch „Revolte auf Luna“ aufnehmen. In beiden Werken sind es nicht die Menschen auf dem Mond, welche die „Bösen“ sind. Auch die Idee, die Erde vom Mond mittels „Raketen“ oder auch nur Sonden/ Schrott zu beschießen, wird Heinlein in den Mittelpunkt seines Buches stellen.

Ragle Grumm lebt wie angesprochen in der amerikanischen Kleinstadt der fünfziger Jahre bei seiner Schwester und ihrem Mann. Seit drei Jahre löst er schwierige Ratespiele in der Lokalzeitung. Dabei muss er aus 2108 Kästchen jenes herausraten oder besser errechnen, an dem in der nächsten Ausgabe ein grünes Männchen erscheint. Grumm verfügt über eine überdurchschnittliche Trefferquote. Er selbst sieht seine mathematischen Fähigkeiten weniger als Berufung denn als Absonderlichkeit an. Er wünscht sich in seinem Unterbewusstsein eine Familie, auch wenn er die Avancen der verheirateten Nachbarin mit ihrem kindlichen Gemüt eher schmeichelhaft empfindet. Dabei verdient Grumm mit dem Lösen der Rätsel mehr als sein Schwager in seinem Lebensmittelladen.

Ragle Grumm hat allerdings das Gefühl, als wenn in seiner Umwelt etwas nicht stimmt. So findet er nicht die Schnüre, mit welcher er das Licht anmachen kann. In einem Schachtel finden sich Zettel mit sechs nicht zusammenhängenden Begriffen. Grumm entdeckt eine Zeitschrift mit der populären Hollywoodschauspielerin Marilyn Monroe auf Europatournee. Er hat aber nichts von  ihr gehört. Der Sohn seiner Schwester hat in seinem Baumhaus ein Funkgerät gefunden und wieder in Gang gesetzt. Da hört er seltsame Stimmen. Und niemand hat bislang die kleine amerikanische Stadt verlassen.

Das Ausgangsszenario wirkt aus heutiger Sicht bekannt. In den fünfziger Jahren war es aber anders. Zum einen hat ein an Philip K. Dicks Werk interessierter Leser die Möglichkeit, vor allem das erste Viertel des Buches mit Dicks realistischen, aber erst posthum veröffentlichten Büchern zu vergleichen. Es ist erstaunlich, wie Dick auf der einen Seite aus seiner Gegenwart heraus die amerikanische Kleinstadt oder auch Vorstadt so realistisch eindrucksvoll beschreiben kann, auf der anderen Seite sie aber vor allem im vorliegenden Buch als irreal, als Bestandteil einer längst untergegangenen Vergangenheit charakterisieren kann. Das einzige die Idylle störende Element sind die Ruinen in der Nachbarschaft, die aus einem für Ragle Grumm imaginären dritten Weltkrieg stammen, während er sich gut an seine Kriegszeit im pazifischen Raum erinnern kann.

In vielen seiner späteren Büchern wird Philip K. Dick zwar eine mögliche Zukunft extrapolieren, aber seine Protagonisten, seine so bodenständigen Menschen bleiben moralisch charakterlich gleich. Verwurzelt in der amerikanischen Mittelschicht, aus welcher nur die wenigen dick´schen Antihelden nicht selten unter großen Opfern ausbrechen können. Selten hat Dick diese Art des Ausbruchs so intensiv und spannend, aber realistisch beschrieben wie Grumms Flucht zusammen mit seinem Schwager aus der kleinen Gemeinschaft, in welcher im Grunde aufgrund des Hintergrundszenarios wieder zurückkehren muss. Zumindest aus Sicht der ihn allgegenwärtig beobachtenden Regierung in Form des allgegenwärtigen Mister Black. Wie Truman in Peter Weirs exzellenter Verfilmung muss sich Grumm dieser neuen Umgebung erst bewusst werden. Im Gegensatz zu Truman hat Grumm diese Welt aber schon einmal kennengelernt. Und wie sich zeigt, auch mitgeformt. Das ist vielleicht der größte Unterschied zwischen dem mit beiden Beinen in einem illusionären Leben stehenden Grumm und dem in der künstlichen Umgebung geborenen naiven „Träumer“ und perfekten Junggesellen Truman.

Auch wenn die Idee eines nuklearen Schlagabtauschs von Dick nicht nur in diesem Buch hinsichtlich der Auswirkungen zu verhalten beschrieben worden ist, zeigt sich Dicks Misstrauen gegenüber Regierungen im Allgemeinen und vor allem der Amerikanischen. Jahre später wird er in „Eine andere Welt“ eine totalitäre amerikanische Regierung beschreiben, welche Krieg gegen die eigenen, sich auf den Universitätsgeländen eingeigelten Studenten führt. In „Zeit aus den Fugen“ ist es die Regierung, welche Krieg um des Kriegs Willen weiterführt. Dabei ist vielleicht ein wenig überzogen und technisch nicht gänzlich überzeugend Grumm ihre einzige Verteidigungswaffe, während die Forderungen der Gegenseite vernünftig und nachvollziehbar sind. Dick muss aber den Konflikt weiter am Leben erhalten, damit sein Roman funktioniert.

Im Gegensatz zu Peter Weirs „Truman“ Show, in welche alle Menschen außer Truman  die Wahrheit kennen, impliziert Dick in einer weiteren Variation eines von ihm gerne und immer wieder genutzten Themas, das es möglich ist, Menschen hinsichtlich ihres Gedächtnisses und ihrer Handlungen so zu manipulieren, das sie ursprünglich freiwillig nicht mehr in Rollen schlüpfen, sondern andere Leben führen. Das betrifft aber nicht nur das Opfer, sondern vor allem auch die Helfer der „Täter“. Das erscheint ein wenig zu weit gesponnen und wenn sich schließlich die Illusion, aber nicht die im Titel angesprochene Zeit aufzulösen beginnt, konzentriert sich Philip K. Dick auf die Reaktionen. Mit Mister Black im Mittelpunkt des Geschehens. Dabei muss Dick einigen von ihm selbst zu Beginn etablierten Personenkonstellationen widersprechen, damit die zynische Pointe funktionieren kann. So weiß niemand den Namen der kleinen Stadt noch in welchem Bundesstaat sie liegt. Bei Grumm mag man das noch verstehen, aber angesichts der Tatsache, dass Grumm ja die Rätsel in einer fiktiven, aber allen Menschen zugänglichen Lokalzeitung löst, erscheint es unwahrscheinlich, das an keiner Stelle dieser Zeit der Name der Stadt erwähnt wird und deswegen bekannt ist.

Die Wurzel des Bürgerkriegs entspricht Dicks bis zur „Valis“ Trilogie kritischer Haltung gegenüber allen Religionen. So gibt es eine Fraktion, die behauptet, das Gott nicht wollte, das die Menschen die Erde verlassen und das All erkunden/ besiedeln.  Aus diesem Grund darf es auch keine Siedlung auf dem Mond geben. Auf der anderen Seite hat sich beginnend mit Grumm zumindest bei den Lunariern die Meinung durchgesetzt, dass es in einem Bürgerkrieg nur Verlierer gibt und jede Seite falsch liegt. Diese Idee präsentiert Philip K. Dick während des Finals. Sie gehen fast in dem bis dahin ausgesprochen stringenten und vor allem auch für Dicks Roman überzeugend konzentriert entwickelten Plot unter.  

Wie Stephen King blickt Philip K. Dick ein wenig glorifizierend auf die goldenen fünfziger Jahre vor allem in der amerikanischen Klein bzw. Vorstadt zurück. Nicht nur in diesem Roman wird vieles idealisiert und manches unter den Teppich gekehrt. Bei Stephen King zeigt es seine dunkle bedrohliche Fratze und vertreibt die fast pathetische Unschuld dieser Zeit im Schatten der Bombe. Bei Dick weiß der Leser, das die „Zukunft“ dunkler, brutaler und vor allem menschenverachtender in mehrfacher Hinsicht sein wird. Daher begreift der Leser seine Beschreibungen der eigenen Jugend eher als Schwärmerei. Wie Grumm will Dick in eine Zeit fliehen, in welcher er der Meinung ist, das er noch alles unter Kontrolle hat. Eine falsche Einschätzung, aber sie funktioniert erstaunlich gut. Wie eingangs erwähnt ist „Zeit aus den Fugen“ ein idealer Einstieg in Dicks Romanwerk, eine Zeitreisegeschichte ohne eine Reise durch die Zeit. Und das macht den Roman so bemerkenswert und trotz einiger technischer Schwächen und nicht ganz zu Ende entwickelter Ideen zu einem ersten frühen Meisterwerk in Dicks Schaffen.           

Zeit aus den Fugen: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 2. Auflage, Neuausgabe (23. Januar 2019)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 256 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3596906954
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596906956
  • Originaltitel ‏ : ‎ Time out of Joint