Das Dorf am Grunde des Sees

Gabriele Behrend

Mit „Das Dorf am Grunde des Sees“ legt Gabriele Behrend nach „Salzgras und Lavendel“ ihre zweiten Roman vor. Herausgeber Michael Haitel hat das Buch wie ihren ersten Roman innerhalb des „Außerhalb der Reihe“ Labels platziert. Reine Science Fiction ist der Stoff nicht, aber mit dem Genre hat er auch auf eine untrennbare Art und Weise zu tun.

Am Ende des stringenten und von seinen „Persönlichkeiten“ lebenden Romans kommt die Autorin zum doppelten Fazit, das sich der Titel des Buches für Seedorf möglicherweise – es wird eine Hintertür offen gelassen – erfüllt hat und die Legende zur Ruhe gekommen ist.

1963 schrieb Clifford D. Simak mit „Waystation“ einen Roman, auf dessen Plot Gabriele Behrend vielleicht unbewusst, aber emotional viel stärker zurückgreift. Seedorf liegt nicht nur unter einer lebendigen Blase auf dem Grund eines Sees, ist es zugleich das Tor zu den Sternen. Wie bei Simak befindet sich eine Art Transmitterstation versteckt in einem Berg. Im Gegensatz zu Simaks Poststation zwischen den Sternen, aber an der amerikanischen Frontier beheimatet, ist Seedorf ein beliebter Ausflugsort für Außerirdische, die in dem kleinen beschaulichen Dorf am Grund des Sees – das ist nur wenigen Charakteren bewusst – Urlaub machen, bei einer interstellar operierenden Marketenderin einkaufen und die Seele baumeln lassen wollen.  Unerklärlicherweise ist Seedorf ein Kreuzungspunkt aus zumindest Raum, wobei Zeit auch relativ ist. Gabriele Behrend bleibt in dieser Hinsicht vage. Sie stellt einige Prämissen auf, die sie anschließend fast im Off negiert. Das zeigt sich gegen Ende des Plots, wenn ein Damm in der Vergangenheit gebaut, ein anderer Charakter aber nicht vor seinem Schicksal bewahrt werden kann. Natürlich muss vorher unterstrichen werden, das die erste Mission nicht nur gefährlich, sondern „verboten“ ist.  

Diese ewige,  aber fragile Ordnung wird von Kukuschkin aufrechterhalten. Unverkennbar russischer Herkunft mit der Mischung aus aristokratischer Arroganz; Melancholie und einem eher devoten Verhältnis zu seinem immer noch allgegenwärtigen und als eine Geistererscheinung das Geschehen kommentieren Vater ist er der Wächter. Im Gegensatz zu Simaks sehr sympathischen, sehr pragmatischen Postkutschenmeister ist Kukuschkin mit seiner Aufgabe inzwischen unzufrieden. Er will zurück nach Russland zur Zarenzeit mit seinen opulenten Festen;  dem Ausstaffieren und dem im Grunde affektierten selbstverliebten Leben der adligen Oberschicht. Und wenn das nicht geht, will er endlich den eigenen Stolz überwinden und mit Emma zusammenleben, der fliegenden Händlerin, die in ihrem Zelt im Grunde alles hat, was „man“ braucht oder nicht braucht. Aber dieser zweite Schritt fordert ihn nicht nur emotional heraus, er lässt ihn in einer dramatischen Wendung auch kindisch werden.  

Kukuschkin empfängt die fremden Besucher. Er pflanzt ihnen ein biologisches Übersetzungsgerät ein, das ähnlich bizarr ist wie Douglas Adams Übersetzerfisch. Allerdings käuflich zu erwerben. Natürlich bei Emma. Kukuschkin schaut aber auch, dass die Fremden überhaupt zum Dorf passen. Wer auf einer Art schwarzen Liste steht, wird gleich mittels des Transmitters zurückgeschickt, der irgendwie an eine Steampunk Version der Tardis inklusive eines Schlüssellochs unter der Apparatur erinnert. Auf weitergehende Erklärungen verzichtet Gabriele Behrend. Die Station ist da, sie braucht eine ordnende Hand. Mehr muss der Leser nicht wissen. Das drückt vielleicht Kukuschkins Verzweiflung und darauf aufbauend die inzwischen zu einer Obsession gewordene Suche nach einem möglichen Nachfolger am Besten aus. Auch wenn die Bewohner des Dorfes anscheinend auf eine unbestimmte Zeit leben, Unsterblichkeit wäre vielleicht ein zu starker Begriff, läuft Kukuschkin seine innere Uhr buchstäblich weg.

Claire ist eine junge Lehrerin, die nicht durch das Tor nach Seedorf kommt.  Beim Tauchen in einem italienischen See verliert sie die Kontrolle und wird zum Seegrund gezogen. Sie dringt durch die Blase ein und findet sich plötzlich in Seedorf wieder. Das erste Wesen, geschweige denn, der erste Mensch, der eben nicht durch das angesprochene Tor und damit Kukuschkins Kontrolle kommt. Dieser nimmt sich der desorientierten, aber sehr modern denkenden jungen Claire an. Kukuschkin sieht in ihr die perfekte Nachfolgerin, im Grunde seine personifizierte Erlöserin.

Mit den Augen des dritten Bruders, des Zimmermanns Giovanni lernt sie Seedorf und die Liebe kennen. Was kitschig erscheint, wird von Gabriele Behrend mit einer Mischung aus subtilen Humor, aber auch emotionaler Tiefe behandelt. Es ist erstaunlich, das sich Claire und Giovanni auf eine moderne Art der Lebensgemeinschaft einigen können, bevor sich die anderen Ereignisse überschlagen. Die Figuren sind dreidimensional und werden von Gabriele Behrend mit allen Schwächen, aber auch Stärken gezeichnet.

Während der Tage in Seedorf erlebt aber Claire auch plötzlich die menschlichen Abgründe, welche die Fragilität der Gemeinschaft zeigen. Auf der einen Seite werden außerirdische Besucher mit ihren Ecken und Kanten herzlich empfangen. Zumindest Teile des Dorfs wie bei einem Schaupanorama aufgereiht leben von ihnen. Seedorf ist wie eine Mischung aus einer italienischen Gemeinschaft und einer kleinen, auf sich selbst fokussierten Gemeinde in den imaginären Alpen. Seedorf ist Moderne – personifiziert in Emma, die mehr als nur eine fliegende Händlerin ist – und dogmatische Tradition – die alten Menschen vor allem die hetzende Nonna, aber auch die Honigverkäuferin – in Einem. Dieser Widerspruch bürgt auch einen Teil der emotionalen Katastrophe.

Mit Emma verfügt das Buch über einen weiteren faszinierenden Charakter. Sie ist viel mehr als sie vorgibt. Sie ist eine fliegende Händlerin, die sich zwischen den Sternen, aber auch der Zeit bewegen kann. Sie ist Kukuschkins heimliche Liebe. Auch sie hegt Gefühle für den kauzigen Torwächter. Am Ende stehen sie sich beide im Weg. Trauern der Vergangenheit nach und haben keine echte Zukunft. Emma ist eine Art Gewissen. Sie kann Claire verstehen und versucht ihr zu helfen. Sie kann mit allerdings großen Einschränkungen auch Kukuschkins Einsamkeit verstehen, wobei sie auch beide Augen schließt. So würde das dramatische Ende des Plots nicht funktionieren. Ein wenig konstruiert erscheint, das sie keine Ahnung von den drohenden Vorgängen hat und nicht die Gefahren der verstärkten Regen berücksichtigt. Sie sucht nicht einmal nach der Ursache, wobei sie mehrmals den möglichen Zusammenhang anspricht. Der Leser hat das Gefühl, als wolle Emma nicht mehr Schicksal spielen und da sie die heraufdämmernde Katastrophe buchstäblich in Kauf nimmt.   

Plötzlich beginnt es in Seedorf zu regnen. Ein unerhörtes Ereignis. Emma und die Leser wissen mehr als die Dorfbewohner, welche Regen mit Claire in Verbindung bringen. Spätestens nachdem bekannt geworden ist, wie sie in dem Dorf aufgetaucht ist. Die Konflikte setzen Claire stark zu.

Die Stärken des Romans liegen in der Zeichnung der Charaktere. Auf Gabriele Behrends Homepage finden sich einige von ihr selbst gefertigte Zeichnungen der wichtigsten Protagonisten. Sie runden das dreidimensionale, das trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Ecken und Kanten so vielschichtige Bild gut ab. Manchmal muss sich die Autorin hinsichtlich der Handlungen ihrer Protagonisten biegen und der sehr komprimierte Plot zwingt sie dazu, Tempo zu machen und einzelne Hintergrunderklärungen in das Reich der Phantasie ihrer Leser zu verschieben. Vielleicht wirkt man deswegen nach der Lektüre auch ein wenig desillusioniert, enttäuscht. Gabriele Behrend hat mit Seedorf einen faszinierenden Ort erschaffen, an dem sich die Genre der Fantasy, aber auch der irgendwie viktorianisch erscheinenden Science Fiction treffen und eine perfekte Synthese bilden. Und trotzdem kann der Leser nicht bleiben, sich ein eigenes tiefergehende Bild machen.  Und das hat nicht nur mit dem Ende des Buches zu tun.

Die Charaktere sind in ihren Handlungen mindestens glaubwürdig. Manchmal braucht es auch ein wenig das Klischee wie die naive Dummheit Claires, wenn sie Regeln bricht und damit unfreiwillig den mehr und mehr depressiv werdenden Kukuschkin in seiner Handlung antreibt.  Aber die Interaktion zwischen den Dorfbewohnern und den Fremden; die wie mehrfach angedeutet nur nach außen feste, innerlich eher auf Traditionen denn Fundamenten oder gar Überzeugungen basierende   Dorfgemeinschaft sind mit viel Liebe zum Detail gezeichnet worden. Seedorf lebt, ist mehr als eine Schaubühne, bleibt aber abschließend auch ein wenig distanziert, fast scheu hinter den Lesern zurück.

Bei der Handlung lässt sich Gabriele Behrend erstaunlich lange für einen derartig kompakten Roman Zeit.  Das abschließende Drama entfaltet sich auf wenigen Seiten. Verschiedene „Lösungen“ werden angedacht, die Autorin spielt mit den Emotionen und präsentiert kein zuckersüßes, aber zumindest für viele der Protagonisten auch akzeptables Happy End. Natürlich nicht für alle, denn Strafe muss sein. Auch wenn die Reue viel zu spät kommt.     

Gabriele Behrend ist inzwischen eine routinierte Autorin, welche nicht nur die Klaviatur der Emotionen bei ihren Charakteren beherrscht, sondern sich stilistisch den Szenarien anpasst. Eher im getragenen Stil, aber nicht antiquiert oder märchenhaft erzählt sie dieses menschliche Drama an einem im Grunde perfekten, friedlichen Ort (der Legende) stringent und überzeugend. Die Dialoge sind teilweise amüsant, mit einem Augenzwinkern, aber ohne Pathetik oder vor allem Künstlichkeit mit der Mund gewachsen ist niedergeschrieben worden. Das schenkt den Protagonisten zusätzlich unter dem Verzicht auf weitschweifende Beschreibungen Tiefe. Die Handlung ist vielleicht angesichts des ursprünglich angedachten Szenarios ein wenig zu „simpel“ abgewickelt, aber wie Simaks „Waystation“ ist es die bestechende Ausgangsidee und weniger das Ende, das die Leser nicht nur in ihren Bann schlägt, sondern sie gedanklich in Seedorf verweilen lässt. Zumindest einen Ausflug lang.      

Das Dorf am Grunde des Sees (AdR - Außer der Reihe)

  • Publisher ‏ : ‎ p.machinery; 1st edition (16 April 2022)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Paperback ‏ : ‎ 172 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957652804
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957652805