Nach der Bombe

Philip K. Dick

Im Rahmen seiner Philip K. Dick Neuauflage hat der Fischer Verlag auch den 1965 unter dem Titel „Dr. Bloodmoney or How We Got Along After the Bomb“ publizierten Roman neu aufgelegt.  Zwei Jahre vorher hat Philip K. Dick das Buch unter den Arbeitstitelns „In Earth´s Diurnal Course“ und „A Terran Odyssee“ geschrieben. Herausgeber Donald A. Wollheim schlug schließlich natürlich als Anspielung auf Kubricks erfolgreiche Satire „Dr. Strangelove or: How i Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“ den abschließenden Titel vor. Die Arbeitstitel hätten den Inhalt des Romans auch nur spärlich zusammengefasst. „Dr Bloodmoney…“ passt in dieser Hinsicht schon besser, auch wenn die satirischen Elemente im direkten Vergleich zu Kubricks Meisterwerk eher bescheiden ausfallen.

In Deutschland erschien das Buch gekürzt im Goldmann Verlag unter dem Titel „Nach dem Weltuntergang“ 1977. Nur sieben Jahre später veröffentlichte der Moewig Verlag mit einer neuen Übersetzung durch Horst Pukallus das Buch unter dem Titel „Kinder des Holocaust“. Im Jahre 2004 ließ der Heyne Verlag das Buch noch einmal übersetzen. Der Titel der Neuausgabe lautet jetzt „Nach der Bombe“. Auf dieser ebenfalls ungekürzten Fassung basiert die Neuauflage im Fischer Verlag.

Im Nachwort der Moewig Ausgabe findet sich ein ausführliches Statement von Philip K. Dick, in dem er davon spricht, das er sich wegen der Zeit geirrt hat. Der dritte Weltkrieg hat bislang nicht stattgefunden, aber er rechtfertigt seine nihilistische Vision vor allem mit den Auswirkungen des Kalten Krieges. Gleichzeitig macht er deutlich, dass seine Geschichte in Berkeley, Kalifornien spielt. Dem Ort, an dem Dick viele Jahre  gelebt hat. Auch wenn die postapokalyptische Handlung nihilistisch ist, durchziehen viele autobiographische Hinweise den Roman.

Die Geschichte beginnt zwar unmittelbar vor dem atomaren Angriff durch eine unbekannte Macht – es kommen die Sowjetunion und China oder beide in Frage - auf die USA, ihr Schatten reicht aber bis in die siebziger Jahre zurück. Sie beginnt vor einem Fernsehladen. Auch in „Valis“ spielt ein kleiner Fernsehladen eine Rolle. Dick hat dort auch gejobbt. Einer der Verkäufer Stuart McConchie beobachtet die auf der anderen Straßenseite liegende Praxis eines Psychiaters. Stuart McConchie ist farbig. Schon in seinem ersten Buch „Hauptgewinn: die Erde“ hat Dick die Rassenschranken im Kopf vieler Leser durchbrochen und einen Farbigen zum Kapitän des den zehn Planeten suchenden Raumschiffs gemacht.

Dr. Bruno Bluthgeld – es finden sich auch in diesem Buch sehr viele Verweise auf Deutschland – eilt in die Praxis. Bluthgeld ist der Protagonist, welcher aus seiner eigenen Perspektive zu einem Final des Scheiterns wird. In den siebziger Jahren hat er einen in der Atmosphäre stattfindenden Nukleartest geleitet, der außer Kontrolle geraten ist. Der Fallout zog eine Spur des Todes, aber auch von Mutationen nach sich. Bluthgeld sieht sich persönlich für die Folgen verantwortlich und seine Paranoia wird sich durch den ganzen Roman ziehen.

In dem besagten Fernsehladen hat der körperlich versehrte Mutant Hoppy Harrington seinen ersten Tag. Er ist auf einen Rollwagen angewiesen. Er hat weder Arme noch Beine: mechanische Greifarme ermöglichen ihm, sich in der Gegend zurechtzufinden. Aber er ist nicht nur ein technisches Genie, sondern verfügt über psychokinetische Kräfte und kann Stimmen imitieren. Anfänglich beschreibt ihn Dick als eine bemitleidenswerte Kreatur, die aber dank seiner Fähigkeiten sich Respekt in seiner Umgebung zu schaffen sucht. Teilweise auch durch Witze auf eigene Kosten. Im Laufe des Buches wird Hoppy Harrington vor die Charakterfrage gestellt. Mit seinen Fähigkeiten kann er Gutes und Böses tun. Mehr und mehr sucht er nicht mehr den Respekt seiner überlebenden Mitmenschen, sondern fordert ihn über seine eigeninitiierten Taten ein. Ein schmaler Grat. Vor allem in einer kleinen Gemeinde nach dem verheerenden Atomschlag. Harrington versucht sich als Persönlichkeit zu finden. Dabei bewegt sich Dick auf einem sehr schmalen Grat, denn der Leser verliert vor allem im letzten Viertel des Buches den Bezug zum Protagonisten. Aus mitleidiger Sympathie wird zwar nicht Hass, aber die aufgebaut Distanz ist beträchtlich und aus dem potentiellen Täter Bluthgeld wird schließlich auch ein Opfer. Im Gegensatz zu den Protagonisten ist sich der Leser bewusst, dass die paranoiden Wahnvorstellungen immer schlimmer werden, Bluthgeld aber nicht mehr die technischen Möglichkeiten hat, der Menschheit zu schaden. Es erscheint absurd, welche Begründungen der Charakter für einen neuen atomaren Schlag findet, dessen Katalysator er sein könnte. Während Harrington an Sympathie verliert, erntet Bluthgeld das Mitleid, das ihm zu Beginn des Buches noch nicht zugestanden werden kann.

Am Tag des atomaren Angriffs startet Walter Dangerfield mit seiner Frau Lydia in einem Raumschiff zu Mars. Sie sollen die ersten Kolonisten auf dem roten Planeten sein. In „Mozart für Marsianer“ beschreibt Dick eine Kolonie auf dem Mars, die zeitweise durch die ökologischen Katastrophen, aber auch die atomare Auseinandersetzung auf der Erde vom Heimatplanten abgeschnitten worden ist. Durch den atomaren Angriff muss Dangerfield mit seiner Frau in einem Satelliten im Erdorbit bleiben. Lydia begeht Selbstmord. Dangerfield wird zu einer Art orbitalen „Good Morning, Vietnam“ Charakter, der dank des gigantischen Archivs, das ihm die NASA mit auf die Reise gegeben hat, zum neuen Hoffnungsträger der restlichen, in erster Linie amerikanischen Menschheit wird. Ein fliegender Diskjockey, der mit flotten Sprüchen und einem sehr breiten Spektrum von Musik der Gesellschaft neue Hoffnung schenkt. Gleichzeitig steht Dangerfield für die perfekte Isolation, die viele Menschen auf der Erde durch die zusammengebrochene Infrastruktur fürchten. Auch wenn sein Lebensraum extrem begrenzt ist, hat er mehr zur Verfügung als viele Gemeinden auf der Erde zusammen.

Auch hier verbindet Philip K. Dick Macht und Ohnmacht während des letzten Viertels des Buches tragisch miteinander. Dangerfield hat aus der Entfernung als, was Hoppy Harrington trotz seines technischen Verstandes und vor allem auch seiner fokussierten Entschlossenheit gerne hätte: Anerkennung. Hoppy Harrington erkennt, was Dangerfield darstellt und sucht pragmatisch eine Lösung für den Tag X, ohne dabei auf andere Mitmenschen Rücksicht zu nehmen.

Dr. Stockwill ist zum Beispiel der Psychologe, der vor dem Krieg Bluthgeld genau behandelt wie nach dem atomaren Schlag Dangerfield allerdings per Mikrophon von der Erde. Psychiater spielen in vielen von Dicks Romanen gewichtige Rollen. Edie Keller ist ein junges Mädchen, das jedem erzählt, das ihr Zwillingsbruder in ihr lebt. Es soll sich um einen Fötus in ihrem Körper handeln. Dicks Zwillingsschwester ist wenige Wochen nach der Geburt gestorben. Ein Trauma, das sich durch Dicks Leben zieht. Immer wieder fühlt sich Dick mehr mit seiner verstorbenen Zwillingsschwester verbunden als mit einigen seiner Ehefrauen.

Um diese Gruppe herum hat Dick eine Reihe von liebevoll exzentrisch gezeichneten Protagonisten platziert, deren Leben der Autor schlaglichtartig im Augenblick vor dem Angriff; während der Minuten oder Stunden danach und schließlich in einem Abstand von sieben Jahre beschreibt. Auch wenn ihr Radius durch die zusammengebrochene Technik und die Nutzung von Pferdewagen –  die Pferde ziehen unter anderem den alten VW Bully eines reisenden Vertreters in Sachen Tabak, Alkohol und Fotos von Mädchen in anzüglichen Posen – oder Fahrrädern, notfalls auch zu Fuß eingeschränkt ist, begegnen sich die Figuren immer wieder überwiegend in der Umgebung von Berkeley. So hat Bonny Keller als ehemalige Kollegin von Bluthgeld Affären unter anderem mit dem neuen örtlichen Lehrer oder dem angesprochen Vertreter  für Tabak, der unmittelbar nach dem Angriff Edie Keller zeugt. Eldon Blaine ist ein weiterer Vertreter, der mit Brillen handelt. Er trifft auf Hoppy Harrington und will ihn bestehlen. Ein anderer Lehrer der Provinz Mr. Austurias ist auf das seltsame Verhalten eines Jack Tree in der Gemeinde aufmerksam geworden und bevor er Bluthgelds neue Identität aufdecken konnte, wurde er getötet. Wobei sich hier die Frage stellt, warum die Gemeinde das fraglich hingenommen hat, da Bluthgeld ihr keinen echten Nutzen mehr brachte. Im Gegensatz zu einem gut ausgebildeten Lehrer.

Typisch für Dick ist die soziale Entwicklung nach dem Krieg. So hat sich in Wyoming eine Militärdiktatur entwickelt. Dick beschreibt sie zwar, lässt aber diesen Handlungsstrang anschließend auch schnell wieder fallen. Im freidenkenden Kalifornien leben die Menschen in kleinen, inzwischen auf die Landwirtschaft und die Selbstversorgung angewiesene Kommunen, die sich zwar argwöhnisch gegenseitig beobachten, aber friedlich miteinander auskommen.  Dabei findet Dick erstaunlich arme Worte für seine Protagonisten und zeigt das Bild einer klassischen amerikanischen Frontiergesellschaft, die sich noch nicht von den eigenen Vorurteilen befreien kann, sie aber pragmatisch in den Hintergrund drängt, um das Alltäglich zu meistern. Auch wenn die Zustände nach einem Atomkrieg aus heutiger Sicht naiv erscheinen, zeigt Dick in einem seiner charakterlich stärksten Romane auf, das er im tiefsten Herzen ein Optimist ist, der an die Selbstheilungskräfte der vor allem amerikanischen Gesellschaft glaubt.

Unter der Oberfläche einer fast an die Pulps erinnernden klischeehaften Science Fiction Handlung hat Dick ein Feuerwerk von Charakteren erschaffen und sie vor allem angesichts ihrer Exzentrik auch lebendig gestaltet. Die Stärke dieses Buches ist weiterhin Dicks Fähigkeit, die Emotionen der Leser vielleicht nicht zu manipulieren, sondern zu fokussieren. Nichts ist schwarz, nichts ist weiß. Aus bemitleidenswerten Kreaturen werden angesichts der zur Verfügung stehenden inneren Kräfte Tyrannen und der lange Arm des militärischen Establishments wird angesichts der ihn immer mehr erdrückenden Schuldgefühle zu einem bemitleidenswerten Mann, der sich in dem Labyrinth der eigenen Ängste nicht mehr zurechtfindet. Dabei bleibt Dick vage, ob Bluthgeld wirklich atomare Explosionen mit seinem Geist auslösen kann oder das die abschließende „Manifestation“ seiner Wahnvorstellungen ist.

Am Ende präsentiert Dick eine Abfolge bizarrer Bilder mit einem mehr und mehr in den Hintergrund tretenden Holocaust Szenario. Es sind  weniger die „Kinder der Holocaust“, welche der Amerikaner beschreibt, sondern wie in seinen späteren Romanen die eigenen Wahnvorstellungen, auf die dreidimensionalen Protagonisten in einer für Dick typischen, aber dieses Mal postapokalyptischen Kleinstadt übertragen. Das reiht den Roman auf der einen Seite eher in Dicks dritte literarische Phase der siebziger Jahre ein, hebt ihn auf der anderen Seite aus der klassisch klischeehaften Masse der Postholocaust Romane heraus, entfernt ihn aber trotz des angelehnten Titels auch sehr weit von Kubricks exzellenter Satire. Vielleicht wirken einige Bilder abschließend zu bizarr und unterminieren die lange Zeit sehr stringent erzählte Handlung, aber „Nach der Bombe“ unterstreicht zum wiederholten Male, wie anders, aber nicht folgerichtig immer nur besser Dicks Science Fiction gewesen ist.                   



Nach der Bombe: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 2. Auflage, Neuausgabe (27. April 2016)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 272 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3596905605
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596905607
  • Originaltitel ‏ : ‎ Dr Bloodmoney or How we got along after the bomb