Song of Kali

Dan Simmons

1985 publizierte Dan Simmons mit „Song of Kali“ seinen ersten Roman. Ein Jahr später wurde der Amerikaner mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Erst vier Jahre später erschienen mit „Carrion Comfort“, aber auch „Hyperion“ zwei Romanen, mit denen Dan Simmons begleitet von zahlreichen Auszeichnungen seinen literarischen Durchbruch erzielen sollte. Joachim Körber hat den Roman für die Veröffentlichung in der Paperbackreihe der Edition Phantasia sorgfältig übersetzt.

Wie in vielen von Dan Simmons Romanen steht die Reise eines im Grunde unvorbereiteten Menschen in eine fremde Kultur oder in einigen seiner später geschriebenen Horrorromanen zurück in die eigene Vergangenheit im Mittelpunkt der Geschichte.

Robert Luczak arbeitet für das amerikanische Literaturmagazin „Other Voices“. Im Grunde ist Luczak als Lektor/ Editor mehr ein Schreibtischtäter. Trotzdem soll er nach Kalkutta reisen, um nach einigen Gedichten zu schaffen, welche der legendäre indische Poet M. Das angeblich vor kurzer Zeit verfasst hatz. M. Das ist allerdings vor acht Jahren spurlos verschwunden und gilt als tot. Luczak wird für den Job auserwählt, weil er mit einer Inderin verheiratet ist. Sie haben ein gemeinsames Kind namens Victoria.

Ein in Kalkutta lebender Dozent M.T. Krishna soll Luczak bei der Suche helfen. Relativ schnell finden die beiden Männer die Quelle der Geschichte. Als Luczak allerdings auf einem Treffen mit M. Das als letzten Beweis von dessen jetzt angeblich isolierten Leben besteht, wird er brüsk abgewiesen. Luczak steht vor der üblichen Entscheidung, in die USA zurückzufahren und eher einen rudimentären Artikel zu verfassen oder auf eigene Faust gegen alle Ratschläge weiter zu recherchieren.

Angeblich hat die Hindugöttin Kali Das wiederbelebt. Jedes neue potentielle Mitglied muss eine Leiche zu Kalis Tempel bringen, wo diese wiederbelebt wird. Vor acht Jahren hat jemand den Leichnam von Das aus dem Ganges gefischt und in den Tempel gebracht.

Als Ablenkung wird Luczak eine Gedichtsammlung M. Das zugespielt, die anscheinend nach seinem Tod und seiner Auferstehung entstanden ist. Auch wenn M. Das poetischer Stil zu erkennen ist, unterscheidet sich die Sammlung aufgrund der dunklen Themen deutlich von dem Werk des Inders, das er vor seinem Verschwinden veröffentlicht hat. Luczak versucht aber weiter, mit das direkten Kontakt aufzunehmen.

„Song of Kali“ reiht sich weniger in die klassische Reihe von Dan Simmons Meisterwerken ein, sondern ist vergleichbar mit einem anderen Debüt eines inzwischen weltbekannten Horrorautoren Peter Straub “Julia“. Stephen King hat es im Vergleich zu den anderen beiden Autoren sehr viel besser gemacht. „Carrie“ ist  auch sein erster veröffentlichter Roman. Viele der ersten Versuche erschienen ja später unter dem Pseudonym Richard Bachmann, aber „Carrie“ setzt auf der Straße auf und beginnt zu rasen. Bis zum Ende wird das Tempo hochgehalten und die Protagonisten sind dreidimensional entwickelt, fast schon unangenehm real.  Stephen King spielt im Gegensatz zu Peter Straub oder Dan Simmons nicht mit dem Übernatürlichen, der Leser muss es als gegeben annehmen. Auch in „Feuerkind“ wird Stephen King diese Idee noch mal aufnehmen. In „Feuerkind“ präsentiert er allerdings eine pseudowissenschaftliche Erklärung.

Peter Straub und Dan Simmons haben sich als ambitionierte Jungautoren noch eher von Stimmungen hin und hertreiben lassen. „Song of Kali“ ist ein erster Schritt in diese Richtung. Erstaunlich ist, dass Dan Simmons aber keine Mitleidsreise in die sogenannte dritte Welt – der Roman spielt im Indien der siebziger Jahre – unternimmt, sondern vor allem von seinen Nebenfiguren den marginalen Kontrast zwischen den USA und Indien heraus arbeitet. Das verblüfft auf der einen Seite, denn Dan Simmons liegt eine schonungslose, unangenehm direkte Beschreibung des übervölkerten Kalkuttas vor, in dessen Slums ein Kult um die Göttin der Rache und des Todes Kali florieren kann. Immer wieder unterbricht Dan Simmons den nach einem guten Auftakt fast phlegmatisch dahin fließenden Plot, um ausführlich über die Slums in Indien, den Schmutz, die Gewalt und die sozialen Kontraste zwischen den einzelnen Kasten zu schreiben. Sein Kalkutta ist ein Moloch, der sich selbst verzerrt und dabei wie ein Krebsgeschwür wächst und gedeiht. Kaum hat sich der Leser an den realistischen und für einen Horrorroman eher ungewöhnlich lebendigen Hintergrund gewöhnt, beginnt Dan Simmons vieles vergleichend zu relativieren. So findet eine Diskussion statt, das sich bis auf die Kasten die amerikanischen Ghettos wenig von den indischen Slums hinsichtlich des Elends und der Gewalt unterscheiden. Diese Ambivalenz verhindert jegliche Argumentation, das sich Dan Simmons zumindest in diesem Debütroman gerne aus der Ferne in den Klischees der westlichen Welt anderen Kulturen gegenüber bewegt, aber es wirkt teilweise auf aufgesetzt und vor allem belehrend.

Vor diesem Hintergrund hat Dan Simmons bei der Zeichnung seiner Figuren allerdings noch Probleme. Einen unsympathischen Protagonisten hat der Autor auch in den beiden in „Elm Haven“ spielenden Horrorromanen benutzt. Dessen Entschuldigung ist vielleicht noch ein Trauma, das der jetzige Lehrer in seinen Jugendjahren durchleben musste. Dabei reiht er sich in die Phalanx von ähnlich gebrochenen, aber an den Ort der Tragödie zurückkehrenden Charaktere ein. Stephen King hat diese Idee final in „Es“ umgesetzt. Alle anderen Autoren konnten einem solchen Szenario ausschließlich Nuancen hinzufügen. Robert Luczak ist ein Intellektueller, ein Schreibtischtäter, der relativ schnell mit den Realitäten in Indien und den Ereignissen um die Göttin Kali überfordert scheint. Die Zeichnung des Protagonisten in seinem geistigen Elfenbeinturm ist eher ambivalent als gänzlich zufriedenstellend. Nicht selten handelt Luczak nicht logisch durchdacht. Er steht unter Streß, aber er hat seine Frau und seine sieben Jahre alte Tochter nach Indien mitgenommen. Seine Frau ist Inderin und vor allem als Mathematikerin ihm intellektuell mindestens gleichwertig, wenn nicht sogar aufgrund ihrer Fähigkeit des emotionslosen logischen Denkens sogar überlegen. Anstatt sie einzubinden, beginnt sich Luczak anscheinend aus freien Stücken und nicht von seiner Umgebung beeinflusst wie ein indischer Macho zu verhalten. Am Ende verfängt sich Luczak in einem Netz aus Alpträumen, vielleicht wird er auch depressiv, aber Dan Simmons gelingt es nicht, Luczaks persönliches Schicksal auf die Allgemeinheit zu übertragen und dadurch das Ende auf einer realistischen Ebene abzuschließen.

Die Tochter wird schließlich zum Faustpfand. Dan Simmons spielt in dieser Hinsicht weniger mit den Klischees des Genres, als das er sie ausnutzt.  Dadurch wirkt diese Handlungsebene bis zum bitteren Abschluss auch konstruiert und negiert eher die unterliegende Spannung als das es sie fördert. Im Vergleich zum ganzen Buch nimmt dieser Abschnitt auch zu wenig Raum ein.

Mutig ist es, zu Beginn des Romans die Erzählebene zu wechseln. Es ist ein Collegejunge, der den Plot ins Laufen bringt. Dieser erzählt Luczak relativ früh von der Göttin Kali und seinen Anhängern. Für mehr als fünfzig Seiten in der amerikanischen Originalausgabe wird der laufende Plot unterbrochen und Dan Simmons zeichnet ein mystisches, stimmungsvolles Bild des legendären wie gefährlichen Indiens. Später wird Luczak unnötig für den Leser, aber wichtig für die eigene Frau diese Erzählung/ Exkursion kurz zusammenfassen. Die Stimmung dieses Rückblicks erreicht die reale Reise durch Kalkutta nicht, auch wenn sich Dan Simmons inspiriert von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ sehr viel Mühe gibt, dem amerikanischen Leser dieses fiktive und doch stellenweise auch sehr reale Indien nahezubringen.

So wird jeder Mitglied im Kali Kult, der eine Leiche zu einem Treffen mitbringt. Dabei spielt es keine Rolle, ob er diese gefunden, ausgegraben oder einen Menschen umgebracht hat. Dieser Pragmatismus ist insbesondere für westliche Leser schockierend, gehört aber zu den atmosphärisch am meisten verstörenden Szenen des ganzen Romans.   

Um Luczak herum platziert der Autor eine Reihe von interessanten, dreidimensionalen Nebenfiguren, die lebendiger, entschlossener und vor allem aus dem Moment heraus logischer agieren als der zu stereotyp und eindimensional beschriebene Protagonist, der von seinem behauptet, dass er über ein durchaus durch brennendes Temperament verfügt, es aber an keiner Stelle zeigt und abschließend fast fatalistisch wie mit sich selbst zufrieden sich den schon angesprochenen Alptraumvisionen hingibt, welche das Schicksal der Welt vorhersagen könnten.  

Dan Simmons hat als Recherche vor Ort laut Edward Bryant allerdings nur knapp zweieinhalb Tage in Kalkutta verbracht. Das erscheint selbst für einen angehenden Autoren, der möglichst ein authentisches Bild der Millionenstadt zeichnen möchte, sehr wenig. Zumindest hat er diese Zeit genutzt, um Notizen und Zeichnungen zu machen, aus denen Simmons den Hintergrund seiner Geschichte zieht und sie zum einzigen dreidimensionalen Protagonisten der Geschichte macht.

Auch wenn die Handlung wie angesprochen angetrieben vom mystischen Hintergrund teilweise in Klischees abdriftet und vor allem Luczaks Familie nicht die Rolle spielt, welche der Leser mit ihnen verbindet, versucht Dan Simmons aus einem wahnsinnigen Kult eine globale Bedrohung zu machen, die nur in einer konzertierten gemeinsamen Aktion besiegt/ ausgeschaltet werden könnte. Aber das ist eine andere Geschichte und so bleibt nur ein kleiner Hoffnungsschimmer zurück, dass Luczaks Visionen Alpträume bleiben und nicht real werden. Das rückt den Roman allerdings auch beunruhigend nahe an die Gegenwart heran, wo die Möglichkeit eines atomaren Infernos angesichts des Ukrainekonfliktes realer als seit den Tagen der Kubakrise nicht mehr.

Im Gegensatz zu vielen anderen Horrorromanen, in denen die persönliche Krise/ Lebenskrise nur marginale globale Auswirkungen hat, versucht Dan Simmons am Ende des Buches eine generelle Gefahr durch den Kult heraufzubeschwören. Das erscheint auf der einen Seite ausgesprochen ambitioniert, vielleicht sogar überambitioniert, schenkt dem Plot aber auch eine notwendige verstärkte Spannungskurve, nachdem Tempo und vor allem auch Rasanz vor allem im mittleren Abschnitt zu Gunsten der ausführlichen Beschreibungen Kalkuttas, aber auch der egoistischen und nicht logischen Handlungen Luczaks im Zusammenhang mit seiner Obsession nachgelassen haben.  

„Song of Kali“ ist allerdings ein guter Start, um Dan Simmons später deutlich fokussiertere, aber nicht weniger ambitionierte Horror-, Science Fiction und vor allem auch historisch realistischen Romane kennenzulernen. Dabei steht hinsichtlich der Ambition und vor allem auch Dan Simmons Fähigkeit, aus dem Nichts heraus eine bedrohliche, den Leser buchstäbliche verfolgende Atmosphäre zu erschaffen „Song of Kali“ schon auf Augenhöhe mit einigen seiner späteren Meisterwerke.      



  • Herausgeber ‏ : ‎ Edition Phantasia; 2. Edition (1. Mai 2006)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 256 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3937897011
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3937897011
  • Originaltitel ‏ : ‎ Song of Kali
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