Das Orakel vom Berge

Philip K. Dick

Der 1962 veröffentlichte Roman „Man in the High Castle“ dürfte aufgrund der 2015 bei Amazon begonnenen Adaption als fortlaufende Fernsehserie zusammen mit „Träumen Roboter von elektrischen Schafen?“ zu den bekanntesten Werken Philip K. Dicks gehören. In vier Staffeln sind insgesamt vierzig Episoden abgedreht worden.

Das Buch erschien 1962. Ein Jahr später gewann das Werk den HUGO als bester Roman des Jahres.  Das Buch erschien erstmals 1973 von Heinz Nagel übersetzt in der kurzlebigen und von Heinz Zwack zusammengestellten Science Fiction Reihe des König Verlags. In den achtziger Jahren legte der Bastei Verlag diese Ausgabe noch einmal auf. Im Rahmen der Philip K. Dick Edition ließ der Heyne Verlag das Buch von Norbert Stöbe im Jahre 2000 erneut übersetzen. Auf dieser Ausgabe basiert auch der Nachdruck im Fischer Verlag.

Weniger bekannt ist die Hörspieladaption des Bayerischen Rundfunk. 1982 in Philip K. Dicks Todesjahr erschien „Schmetterling mit Hackenkreuzen“ von Michael Koser bearbeitet.  

Philip K. Dick spielt in “Das Orakel vom Berge”  wieder mit der Realität seiner Protagonisten. Die Nazis und Japan haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Roosevelt ist 1933 ermordet worden, der Krieg endete erst 1947. Die USA sind an der Westküste von den Japanern besetzt, im Norden gibt es die Vereinigten Staaten von Amerika unter der Herrschaft von nationalsozialistischen Vertretern. Dazwischen liegen die politisch freien Rocky Mountain Staaten und der ambivalent beschriebene Süden. Reichskanzler ist Bormann, der Hitler abgelöst hat. Allerdings sorgt Bormanns Tod für Unruhen im Reich, Goebbels ergreift schließlich die Macht mit Göring als potentieller Polizeichef. Es gibt aber auch noch andere Abweichungen von der dem Leser bekannten Geschichte wie den entscheidenden Sieg Rommels in Afrika und sein Vorstoßen nach Stalingrad, das schließlich für den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg gesorgt hat. Auch verfügen die Nazis über die Atombombe. Bob Hope als Jude muss seiner satirisch sarkastischen Sendungen aus Kanada ausstrahlen, weil die Nazis die von ihnen kontrollierten Staaten von den Juden befreit haben. Die Japaner lehnen diese Rassenideologie ab, obwohl Dick kaum auf die Gräueltaten der Japaner im asiatischen Raum gegenüber den Rassen eingeht, welche die Japaner als primitiv einstufen.  

In den japanischen Zonen erlaubt und sehr populär bei den Asiaten ist der Roman „Schwer liegt die Heuschrecke“ bzw. in den Neuausgaben „Die Plage der Heuschrecke“ aus der  Feder des in den Bergen der Rocky Mountain Staaten lebenden Amerikaners Hawthorne Abendsen. Der Titel bezieht sich auf die Bibel. In diesem Parallelweltroman – einer der Protagonisten ordnet ihn dem Genre Science Fiction richtigerweise zu – haben die Japaner und die Nazis den Zweiten Weltkrieg verloren. Allerdings beschreibt Abendsen nicht unsere, also die Welt des Lesers, sondern eine weitere Variation, in welcher Hitler und Goebbels nach dem verlorenen Krieg verurteilt worden sind; das britische Empire sich bei der neuen Weltdominanz gegen die Amerikaner durchgesetzt hat, nachdem die britischen Truppen den Russen geholfen haben, Stalingrad zu halten und von dort einen Angriffskrieg zu entwickeln.

Während „Schwer liegt die Heuschrecke“ als eine politisch andere Version populär, aber nicht als Kampfbibel empfunden wird, orientieren sich die Charaktere an dem „I Ging“, dem Buch der Wandlungen, das als Orakel dient. Anscheinend hat sich Philip K. Dick nicht nur bei den Handlungen seiner Protagonisten an den verklausulierten Prophezeiungen orientiert, sondern die Orakelsprüche selbst für den Plot und als roten Faden für sich selbst benutzt. 

Zusammen mit der Inspiration einer neuen politischen, aber auch amerikanischen Ordnung in Ward Moores „Der große Süden“ und einer im Grunde sich selbst erfüllenden Prophezeiung am Ende des Buches stellt „Das Orakel vom Berge“ einen der am meisten zufriedenstellenden Romane Dicks hinsichtlich der Handlungsführung dar. Während der amerikanische Titel “The Man in the High Castle” auf Hawthorne Abendsen Wohnsitz hinweist, ist der deutsche Romantitel deutlich doppeldeutiger. Abendsen ist in den Bergen lebend ja nicht nur ein spekulierender Visionär, sondern abschließend auch eine Art Orakel, womit Philip K. Dick wieder Bezug auf das “I Ging” und dessen Weissagungen nimmt. Damit schließt sich hinsichtlich des deutschen Titels der Kreis. 

 Konsequent führt Philip K. Dick dagegen den Plot auf mehreren durch die beiden Bücher “Schwer liegt die Heuschrecke” sowie “I Ging”  verbundenen Handlungsebenen zielstrebig zu Ende. Nur wenige Charaktere erfahren wie der Leser die Wahrheit. Wie seine anderen Bücher entwickelt er seine Protagonisten sozialtechnisch von unten nach oben. Auch wenn immer wieder historische Persönlichkeiten in Form von Nachrichtensendungen oder zum Beispiel einem Anruf aktiv wie passiv in Erscheinung treten, ist es weiterhin die Geschichte „einfacher“ Menschen in ihrem alltäglichen Leben vor dem Hintergrund einer allerdings fremdartigen und deswegen auch so faszinierenden Welt.

Die politische Haupthandlungsebene betrifft den Agenten der deutschen Abwehr Rudolf Wegener, der wie Rudolf Hess in der Realität auf eigene Initiative den ehemaligen Verbündeten Japan vor einer erneuten Eskalation des Krieges und vor allem einem atomaren Angriff der Nazis auf Japan warnen will. Dieser Spannungsbogen wird nicht abgeschlossen und für den Leser ist nicht ersichtlich, ob die Japaner die Warnung ernst nehmen oder nicht. Aber Dick führt einen in der Alternativweltliteratur interessanten Gedanken weiter aus. Die siegreichen Nazi landen nicht nur wie in “Das Orakel vom Berge” auch auf dem Mars, einem wiederkehrenden Symbol in Dicks umfangreichen Werk, sondern wollen ihre ehemaligen Verbündeten ausradieren und die Weltherrschaft ohne Machtteilung übernehmen. Ein logistisch schwieriges Unternehmen, das den Größenwahn weiterhin unterstreicht. 

Auf der japanischen Seite ist Mr. Tagomi als Chef einer Import/ Export Firma sein „Gegenspieler“. Er steht zwischen dem modernen Amerika allerdings unter japanischer Führung und der traditionellen japanischen Welt. Auch diesen Handlungsbogen lässt Dick eher mystisch enden, in dem ein einfaches Schmuckstück Mr. Tagoni die verunsicherten Augen öffnet. In einer anderen Sequenz zeigt sich allerdings, daß Mr. Tagomi die japanischen Traditionen der Ehre auch mit antiquierten amerikanischen Schusswaffen verteidigt. Mr. Tagomi ist ein überraschend pragmatischer Japaner, der sich in dieser Besatzungszone deutlich wohler fühlt als auf heimischen Boden. Tradition und Moderne vereinigen sich in seinen Ansichten. 

Robert Childan ist ein Ladenbesitzer. Er handelt mit ehemaligen amerikanischen Alltagsgegenständen, die er an die Japaner verkauft. Seine Welt gerät durch den Verdacht, Fälschungen zu Verkaufen ins Wanken. Er ist Amerikaner und sieht sich besonders zu attraktiven Japanerinnen hingezogen. Später wird er von Frank Frink Schmuckstücke auf Kommission annehmen, nachdem dieser wegen einer umfangreichen Fälschung von Artikeln bei seiner Firma gekündigt hat. Robert Childan verkörpert am ehesten den getriebenen Dick Protagonisten, der verzweifelt versucht, es allen irgendwie recht zu machen, aber zu keinen eigenen Entscheidungen fähig ist. Er akzeptiert die Überlegenheit der Japaner, ist aber auch zu stolz, einen gut gemeinten Ratschlag anzunehmen und reich zu werden. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist, handelt es sich bei Robert Childan um den wichtigsten Charakter des Romans, denn er steht mit vielen anderen Protagonisten direkt wie indirekt in Kontakt. So stammt Mr. Tagonis Waffe aus seinem Laden; die wichtigen Schmuckstücke von Frank Frink stellt er aus und offeriert sie sogar als Geschenk. Er ist auch der erste und im Grunde auch einzige amerikanische Charakter, der wieder eine besondere Art von Nationalbewusstsein entwickelt.

Juliana Frank ist die Exfrau von Frank Frink. Sie lebt als Judolehrerin in den freien amerikanischen Gebieten. Ein italienischer Kraftfahrer verführt sie. Gemeinsam wollen sie den Autoren des Alternativweltromans in den Bergen besuchen. Mit Juliana Frank kehrt Philip K. Dick wieder auf die politische Ebene zurück. Im Gegensatz zum von der deutschen Ehre getriebenen Rudolf Wegener hat der italienische Kraftfahrer schnell andere Absichten und Juliana Frank ist Mittel zum Zweck. Am Ende dieses Handlungsbogen muss Dick allerdings die Glaubwürdigkeit strapazieren, um sich aus einer literarischen Klemme zu schreiben. Auch wenn Juliana Frank eine Judolehrerin ist und in der japanischen Zone Kraftsport betrieben hat, löst sie sich aus einer schwierigen Situation zu leicht. Dieser Handlungsbogen führt schließlich auch zum Ziel, wobei die Wahrheit im Grunde nur eine neue kryptische Vision ist.

Dick greift hier wieder auf die in seinem Gesamtwerk sehr populäre Frage nach der Realität zurück. Was ist wirklich real und was ist vielleicht Teil einer Fiktion oder in diesem Fall einer weiteren, aber nicht der möglicherweise einzigen Parallelwelt? Angesichts der dreidimensionalen Ausgestaltung dieser Welt basierend auf verschiedenen für den Leser jederzeit nachvollziehbaren Points of Divergence scheint diese Frage bzw. Dicks Antwort absurd zu erscheinen. Der Reiz des Buches besteht lange aus der Idee, das es zwar eine Version einer Alternativwelt ist, diese aber genauso anders von der dem Leser bekannten Geschichte ist wie die erste Welt in  „Das Orakel vom Berge“. 

Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Bücher impliziert Dick eher die Möglichkeit auf, daß die Menschen nicht in einer realen Welt leben. Aber Philip K. Dick gibt keine Erklärungen hinsichtlich ihrer Entstehung oder gar eines möglichen “dritten” Originals abseits der Handlungsebene und der in dem Heuschreckenbuch beschriebenen Variation ab.  Ob die Hindergründe Galouyes in „Simulacron 3“ mit einem computerisierten Zwiebelschalenmodell  in dieser Hinsicht überzeugender sind als Dicks Implikationen, muss ein Leser selbst entscheiden.

„Das Orakel vom Berge“ ist in politischer Hinsicht eine erschreckende, aber eher wie Robert Harris „Vaterland“  oder Len Deightons “SS- GB” eine  abenteuerliche Version einer verlängerten und globalen Naziherrschaft. Otto Basils Satire “Wenn das der Führer wüsste” ist hinsichtlich der alltäglichen Bedrohung und den Konflikten mit der Stasi bzw. den Polizeiorganen deutlich schärfer. 

 Dicks Protagonisten können sich in dem fast ausschließlich in der japanischen bzw. amerikanischen Zone spielenden Roman relativ frei bewegen.  Natürlich greift der Geheimdienst nach Rudolf Wegener oder dem amerikanischen Juden Frink droht die Abschiebung in die deutsche Zone inklusiv der Vergasung in den immer noch existierenden Konzentrationslagern, aber Dick beschreibt nicht den nihilistischen Kontrollstaat, als welcher das Dritte Reich bekannt geworden ist. Thomas Ziegler hat in „Die Stimmen der Nacht“ ein deutlich dunkleres Bild in den besiegten Gebieten gezeichnet.

Es ist eher so, das Dick eine Reihe von menschlichen Dramen vor dem verfremdeten Hintergrund abspielen lässt und seine tragischen Protagonisten immer wieder vor existentielle, aber nicht unbedingt lebensbedrohliche Herausforderungen stellt, denen sie sich mit dem Rat  der ambivalenten “Vorhersagen” des Orakels zu entziehen suchen. Im Grunde sind die Protagonisten zwischen den Sprüchen des „I Ging“ und der politisch anderen, aber nicht unbedingt generellen besseren Welt (vor allem hinsichtlich der japanischen Zone) aus „Schwer liegt die Heuschrecke“ gefangen, bis sie selbst nicht in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen. Es spricht aber für Dicks Optimismus, dass es ausgerechnet der vom Handeln mit den Japanern abhängige Robert Childan ist, der diesen Teufelskreis durchbricht und sich wieder auf die uramerikanischen Werte besinnt. Ein Hoffnungsfunken in einer nicht absolut, aber doch sehr dunklen Welt.

Es lohnt sich, die sehr gestreckte Amazon Prime Fernsehserie hinter sich zu lassen und zum Original zurückzukehren. „Das Orakel vom Berge“ ist wie schon erwähnt einer der besten Philip K. Dick Romane aus seiner zweiten generell sehr starken Phase als Schriftsteller in den frühen sechziger Jahren mit wirklich sehr überzeugend gezeichneten klassischen Dick Protagonisten auf alltäglichen wie stellenweise aussichtslosen Missionen. 

Das Orakel vom Berge: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 5. Auflage, Neuausgabe (26. Juni 2014)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 272 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3596905621
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596905621
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Man in the High Castle