Sherlock Holmes Neue Fälle 35: Ein Fall aus der Vergangenheit

Thomas Tippner

In seiner neusten Sammlung „Ein Fall aus der Vergangenheit“ präsentiert Thomas Tippner zwei Novellen und eine Kurzgeschichte. 

 

Die Kurzgeschichte „Der Verräter“ endet dabei frustrierend offen. Sherlock Holmes deutet an, das in den schwelenden Konflikt zwischen der „Mutter“ – sie hat eine Gruppe von Jungen unter ihrer Kontrolle – und dem Meisterdetektiv nur die erste taktische Partie gespielt worden ist. Die kurze Geschichte überzeugt bis zum zu offenen Ende mit einer interessanten Konstellation. Dem Meisterdetektiv wurde nicht nur ein Baker Street Boy abspenstig gemacht, es gibt in seinen Reihen einen Verräter, der Holmes Pläne an die „Mutter“ verrät. Diese trainiert ihre Jungs in der Nähe von Banken, wobei auf den ersten Blick ihre Raubzüge noch nicht erfolgreich erscheinen. Bei der Begegnung in den Räumen der Baker Street kommt es zu einem psychologischen Duell, bei dem der Leser lange Zeit nicht weiß, ob Sherlock Holmes wieder paranoiden Wahnvorstellungen in Form eines Drogenkonsums unterliegt oder ob die zierliche Frau wirklich eine Gegenspielerin von Professor Moriartys Format werden könnte.  

 Die Novellen sind in ihrer grundlegenden Struktur überzeugender, aber auch hinsichtlich der Protagonisten weniger faszinierend. In „Das zweite Gesicht“ sucht Doktor Watsons erste Frau

Mary eher widerwillig den Detektiv in seinen Räumlichkeiten auf. Sie benötigt seine Hilfe. Sie hat eine Frau aus ihrer Hilfsorganisation in einem verruchten Viertel gesehen, wo sie

anscheinend mit einem Mann vertraut gesprochen hat. Anschließend sind die beiden in einer Kneipe verschwunden. Da verliert sich die Spur der aus Irland von einer schweren Kindheit

geflohenen Frau. Mary Watson hat Angst um den Ruf ihrer Hilfsorganisation und den entsprechenden Spenden.

Sherlock Holmes folgt zusammen mit Doktor Watson und dessen Frau den eher kargen Spuren. Ein bekannter Bettler namens Babbler hält sich im Hinterzimmer der Kneipe auf.

Eine einzelne Socke wird gefunden. Diese sind typisch für die Arbeiten, mit denen Marys Helferinnen die Ärmsten der Armen ausstatten.

Die meisten Informationen erhält Sherlock Holmes quasi verkleidet auf geheimer Mission. Doktor Watson ist mindestens einen Schritt hinterher und Mary muss ihre Abneigung gegen

Sherlock Holmes widerwillig überwinden, um zumindest dem Ermittler zuzugestehen, das er mehr als nur seine Arbeit machen möchte. 

 

Thomas Tippner greift ins einen Novellen auf ein kleines Protagonistenreservoir zurück. In den bislang veröffentlichten Geschichten kommt in Bezug auf Personen die Auflösung des

Rätsels nicht aus dem Abseits jenseits des imaginären Vorhangs, sondern der metaphorische Schlüsselträger hält sich immer im Blickfeld der Leser, des ahnungslosen Doktor Watson und

natürlich Sherlock Holmes auf. Dieser muss nur wenig in den meisten Geschichten sein scharfes Auge deduzierend über die Situation schweifen lassen. In „Das zweite Gesicht“ – der

Titel verrät schon sehr viel – fügt Sherlock Holmes die einzelnen Versatzstücke wie die Flucht über das Meer nach London, einige spätabendliche Termine und schließlich die

Veränderung innerhalb der Schmugglerszene schnell und routiniert zusammen.

 

Auch wenn die Spannungskurve nur mit Einschränkungen aufgebaut wird, lebt die Novelle vor allem von Mary Watsons Charakter. Aufbrausend, entschlossen, aber auch hilfsbereit und

intelligent ist sie ein interessantes Gegenstück zu Doktor Watson, der immer und überall in dieser Geschichte mindestens einen Schritt zu spät kommt. Auch wenn die „Lösung“ schnell

offensichtlich wird, überzeugt „Das zweite Geschichte“ wie angesprochen durch ein zufrieden stellend hohes Tempo, gute Dialoge und eben das Zusammenspiel der Watsons, das nicht nur

Sherlock Holmes, sondern auch der geneigte Leser mit einem süffisanten Lächeln beobachtet. 

 

Die Titelgeschichte der Sammlung „Ein Fall aus der Vergangenheit“ reicht zwar in die frühen Tage von Sherlock Holmes zurück, ist aber ein wenig falsch betitelt. In der Vergangenheit gibt es keinen echten Fall. Sherlock Holmes befreundet sich neben dem im Kanon erwähnten Victor Trevor noch mit Samuel Groney, dessen Vater einen Zirkus betreibt. Sherlock Holmes Deduktionsfähigkeiten waren schon fast bis zur Perfektion ausgebildet, ihm fehlte nur die Lebenserfahrung. Durch verschiedene Mitschüler und eine Begegnung mit einem verlotterten Gangster entschließt sich der zukünftige Detektiv, auch das Boxen zu lernen, um sich zu verteidigen. Alle Versuche von Samuel Groneys Vater, Sherlock Holmes als Attraktion in seinem Zirkus anzuheuern, scheitern.

In der Gegenwart steht Samuel Groney plötzlich vor seiner Tür. Sein Sohn ist entführt worden. Der Verbrecher fordert 500 Pfund Lösegeld, die Groney direkt oder als Hilfe von Sherlock Holmes einfordert, weil dieser in der Vergangenheit bei der ersten Konfrontation mit dem Gangster/ Cowboy versagt hat.

Groneys Position ist basierend auf den Rückblenden subjektiv.  Schon damals hatte Sherlock Holmes festgestellt, das Groneys Vater als Mitglied einer Bande Südstaaten Freischärler eher das Leben eines Banditen geführt hat und im Gefängnis gewesen ist. Anscheinend will jemand mit Samuel Groney eine alte Rechnung seines Vaters begleichen. Es geht um einen verschwundenen Schatz, wahrscheinlich die Beute gemeinsamer Raubzüge.

Es ist immer eine Herausforderung,  die „Vergangenheit“ einer bekannten fiktiven Figur weiter zu entwickeln und in Bezug auf die Gegenwart zu ergänzen.  Sherlock Holmes scharfer Verstand ist schon ausgeprägt und Thomas Tippner fügt seiner Geschichte eine Reihe von Szenen bei, in denen Sherlock Holmes als Jugendlicher, aber auch gereifter Mann brillieren kann.

Der eigentliche Falle ist nicht sonderlich spannend. Die einzelnen Elemente liegen früh auf dem Tisch, alleine die angedeutete Schnitzeljagd nach dem versteckten Schatz bürgt zusätzliche Spannung. Die Auflösung wird durch ein rechtzeitig eintreffendes Telegramm begünstigt. Die teilweise Auflösung wirkt ein wenig pragmatisch und nicht umsonst hat Sherlock Holmes mit seiner Anmerkung recht, das sich Samuel Groneys einiges hätte ersparen können.

Auch wenn Samuel Groney durch die Entführung des eigenen Sohns unter Druck gesetzt worden ist, hat er von Beginn an eine sehr subjektive Sichtweise auf die Vergangenheit des eigenen Vaters. Er will von dem Geld ja nichts haben, deswegen ignoriert er auch alle Gefahren. Er tut ein wenig zu überrascht, wenn eher ihn als Sherlock Holmes die Vergangenheit einholt.

Hinsichtlich der Jugend des berühmten britischen Detektivs bewegt sich Thomas Tippner auf einem schmalen, aber zufriedenstellend unterhaltsamen Weg. Einige deduzierende Szenen; körperlich seinen Gegnern (noch)  unterlegen; dazu der Wille, sich nicht zum Clown machen zu lassen.

Zusammengefasst lassen sich die drei Geschichten kurzweilig und unterhaltsam lesen. Inhaltlich bietet der kürzeste Text „Der Verräter“ die meisten Überraschungen und ausreichend Potential für weitere Geschichten, während „Das zweite Gesicht“ und „Ein Fall aus der Vergangenheit“ inhaltlich wenig wirklich überraschende Komponenten präsentieren, sondern einmal von Mary Watson, das zweite Mal von den jugendlichen Erkenntnissen des noch im Reifeprozess befindlichen Sherlock Holmes profitieren.

 

Thomas Tippner
EIN FALL AUS DER VERGANGENHEIT

Band: 35, Kriminal-Novellen
Seiten: 170 Taschenbuch
Exklusive Sammler-Ausgabe Blitz- Verlag

direkt beim Verlag bestsellbar: www.blitz-verlag.de
Preis: 12,95 €