Der dunkle Schirm

Philip K. Dick

Philip K. Dicks „Der dunkle Schirm“  entstand 1977. Es ist der erste von insgesamt vier Romanen -  alle anderen bilden die VALIS Trilogie - , in welchen Dick autobiographisch Teile seines Lebens aus den siebziger Jahren aufarbeitet.

 In seinem Nachwort widmet er das Buch nicht nur vielen inzwischen an Drogen verstorbenen oder schwer erkrankten Freunden, die er als Vorbilder für die agierenden Personen genommen hat, sondern spricht davon, dass er im Grunde nicht auftritt, sondern der Roman selbst ist. Philip K. Dick reduziert die Drogensucht nicht auf das Niveau einer Krankheit, sondern als Erzähler, aber auch im Nachwort als Autor  spricht er deutlich davon, dass die Einnahme von Drogen auch eine eigene Entscheidung ist. Dabei werden einigen seiner Nebenfiguren im Roman Drogen in Drinks oder im Schlaf verabreicht, um sie süchtig zu machen. Zwischen diesem Zwang und einer eigenen, nicht unbedingt guten Entscheidung kann der Autor schon unterscheiden.  An keiner Stelle rechtfertigt er die Abhängigkeit seiner Protagonisten von der künstlich hergestellten Droge T oder anderen Rauschstoffen, sondern er beschreibt beginnend mit dem ersten Kapitel und den eingebildeten Läusen die Folgen der Abhängigkeit.

Der Roman erschien wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA in einer sehr überzeugenden Übersetzung durch den SF Autoren Karl- Ulrich Burgdorf im Bastei Verlag (1980).  Die Übersetzung bildete auch die Grundlage für die Neuveröffentlichung 2003 im Heyne Verlag und dient als Basis für einen erneuten Nachdruck 2014 im Fischer Verlag. Zwischen den letzten beiden deutschen Ausgaben ist der Roman 2006 im Rotoskopieverfahren von Richard Linklater verfilmt worden. Realfilm und Zeichentrick wurden überlagert. Keanu Reeves, Robert Downey jr. Und Winona Ryder übernahmen Rollen in dem Film.  Ein Jahr später veröffentlichte der Bastei Verlag ein Hörbuch mit fast zehn Stunden Länge.

Dick hat den Roman - aus der Sicht seiner Entstehung gesehen -  in der näheren Zukunft angesiedelt. Zwischen der Veröffentlichung und der Handlung liegen nur siebzehn Jahre. Der Plot konzentriert sich auch auf wenige Wochen, die Handlung spielt fast ausschließlich im Juni 1994. Zusätzlich siedelte der Amerikaner seine Geschichte in Orange County, Kalifornien an, wo Dick den größten Teil seines eigenen Lebens auch verbrachte.

Es finden sich eine Reihe von politischen Anspielungen vor allem auf den Nixon/ Watergate Skandal im Buch. Politisch bleibt Philip K. Dick vage, aber folgt der Linie, die der Autor schon in „Eine andere Welt“ etabliert hat. Die Polizei ist allmächtig und für sie gibt es bezüglich ihrer in der Theorie allgegenwärtigen Kontrolle auch keine Einschränkungen. Die Politik dahinter bleibt gesichtslos. Im Vergleich zu seinen in den sechziger Jahren entstandenen Geschichten wie “Joe von der Milchstraße” kann eigentlich nicht mehr von einer klassischen Dystopie gesprochen werden. Vieles wirkt im Vergleich zu anderen Büchern Philip K. Dicks wie ein sozialistisches Paradies mit allerdings weiterhin kapitalistischen Grundzügen. 

Neben dem ausführlichen, fast exzessiven Bild einer sich selbst zerstörenden Drogensubkultur setzt sich Dick mit dem schizophrenen Verhältnis zwischen dem verlängerten Arm des Gesetzes und den potentiellen Tätern auseinander. Das führt zu einer Reihe paranoid erscheinender Exkurse. Damit schlägt Dick den Bogen zu seinen ersten Romanen, in denen sich „gewöhnliche“ mittelamerikanische Bürger mit unbekannten Situationen auseinandersetzen mussten. Sie standen immer zwischen zwei Stühlen. Im vorliegenden Roman ist es der Undercoveragent, der im Grunde gegen sich selbst ermitteln muss, um sowohl unerkannt zu bleiben und gleichzeitig bei den Kollegen keinen Verdacht zu erwecken. Bob Arctor ist dieser Mann. Er lebt in einer Art Kommune voller Drogensüchtiger unter dem Namen Fred. Gleichzeitig wird er von der Polizei als Undercoveragent genutzt, um die anderen Mitglieder des Haushalts und damit auch sich selbst auszuspionieren. Dazu hat Arctor jeweils eine Art der Persönlichkeit entwickelt, mit welcher er sich vor der konträren Seite „schützt“.

Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Bob Arctor bewegen muss. Eher zufällig wird er von einer neuen, künstlich hergestellten Drogen abhängig: „Substanz T“ oder besser bekannt als langsamer Tod oder simpel Tod. Es handelt sich um eine psychoaktive Droge, durch deren Einnahme die Abhängigen die Realität „aussetzen“ können. Das führt zu einer Abfolge surrealistischer Szenen, vergleichbar einem LSD- Rausch. Aber Dick gelingt es, diese Sequenzen so überzogen zu beschreiben, das der Leser an das Schicksal von einigen seiner Protagonisten aus früheren Büchern erinnert wird. Diese fanden sich aus dem Nichts in einer Welt wieder, die ihrer vertrauten langweiligen Vorstadt- Realität eines fiktiven Amerikas nicht mehr entsprochen hat.  

Auf der zwischenmenschlichen Ebene hat sich Bob Arctor in Donna verliebt, welche die Substanz verkauft. Arctor versucht - wie die Polizei offiziell -  an ihre Hintermänner zu kommen, er will sie nicht unbedingt verhaften. Diese Jagd nach den Großdealern ist wahrscheinlich das am meisten zugängliche Element des ganzen Buches. 

Der Roman verfügt über den politisch- dystopischen Hintergrund nur über wenige Science Fiction Elemente. Philip K. Dick hatte Angst, daß ein weiterer Mainstreamroman aus seiner Feder von den Verlagen abgelehnt wird. Judy Lynn Del Rey machte den Vorschlag, das Buch in der schon angesprochenen näheren Zukunft anzusiedeln und einzelne technische Ideen einzuführen, damit “Der dunkle Schirm” als Science Fiction veröffentlicht werden kann. Als Ganzes betrachtet ist “Der dunkle Schirm”  die erste als Paperback in nennenswerter Auflage veröffentlichte Mainstreamarbeit aus Philip K. Dicks Feder. 

So nutzen die Agenten eine Art „Jedermann- Anzug“, der sie nicht unsichtbar macht, sondern zu einem Mitglied der unscheinbaren gewöhnlichen Masse.  Der Jedermanns Anzug gibt den Polizisten im Allgemeinen, aber vor allem Arctor eine ungeahnte, aber auch nicht vollständige Sicherheit. Der Jedermanns- Anzug stammt aus einer der von Drogen hervorgerufenen Wahnvorstellungen während Dicks Abhängigkeit, nur technisch aufbereitet. 

Vielleicht ist die Überwachungstechnik mit Holoscannern aus der Sicht der siebziger Jahre technisch futuristisch extrapoliert, aber Dick setzt sie eher pragmatisch ein. Auf der einen Seite wird der Paranoiafaktor erhöht, wenn die Drogensüchtigen bemerken, dass möglicherweise ihr Haus verwanzt worden ist. Der Beweis ist ein noch warmer Joint in einem der übervollen Aschenbecher. Auf der anderen Seite bedeutet die vollständige Überwachung auch eine Schwierigkeit für Arctor/ Fred, der weiß, dass er nur von innen heraus zu Donnas Hintermänner gelangt, aber niemand weiß, dass er Undercover für die Polizei arbeitet.

Es sind aber die autobiographischen Passagen und weniger die bekannten dystopischen Ideen mit den Verrätern in den eigenen Reihen oder dem brillanten, für viele Dick Charaktere im Grunde perfekten Jedermann Anzug, die dem Leser im Gedächtnis bleiben. 

Dick hat in einem Interview gesagt, dass er bei den meisten von ihm beschriebenen Szenen oder Situationen zumindest Augenzeuge gewesen ist. Ausgangspunkt ist das Ende seiner Ehe mit Nancy. Zu dieser Zeit arbeitete Philip K. Dick an “Eine andere Welt” . Zwischen 1970 und 1972 lebten einige drogensüchtige Jugendliche mit ihm in seiner Wohnung. Dick versuchte seine Einsamkeit zu bekämpfen und wurde in deren Drogenkonsum miteinbezogen. Im Roman ist es zwar ein Haus, welches zwei Süchtige und der Undercoveragent bewohnen, aber die Wohnung bzw. das Haus bildet keinen Fixpunkt. Im ganzen Viertel wird gedealt und konsumiert. Damit erweitert Dick die eigenen Erfahrungen.  

Wie sehr die Drogen seine enorme Produktion an vor allem Romanen eingeengt haben, hat Dick später in Briefen ausgedrückt, aber auch literarisch ausgeschmückt. Nicht nur die Jahre zwischen Mitte 1970 und 1972 wirken sich negativ auf den Schriftsteller Dick aus.  Dabei litt schon die Fertigstellung von “Eine andere Welt” unter einer Art Schreibblockade. Hinzu kommt, das ein altes Manuskript aus den sechziger Jahren Anfang der Siebziger von seinem Stammverlag DAW veröffentlicht werden musste, um die Stammleser bei der Stange zu halten: “We can build you”. Zusätzlich brauchte Philip K. Dick Geld.      

Das Jahr 1973 stellte für Philip K. Dick dann einen weiteren Wendepunkt in seinem Leben dar. Er  lernte eine neue Frau kennen, verließ sein bisheriges Umfeld und begann auf die Amphetamine zu verzichten. Anscheinend erkannte Dick, dass es vor allem psychosomatische Gründe waren, die ihn abhängig gemacht hatten. 

Im März 1973 entwickelte Dick einen ersten Entwurf. Parallel stellte er “Eine andere Welt” fertig. Das unfertige Manuskript lag drei Jahre in seine Schublade.   

Zwischen 1973 und der abschließenden Veröffentlichung von  “Der dunkle Schirm”  im Jahre 1977 fällt auch die angebliche Begegnung mit einer gottgleichen Entität, die Dick später in der VALIS Trilogie, aber auch dem Exegesis Journal verarbeitete. Rückblickend ist es erstaunlich, das Gott in “Der dunkle Schirm” keine Rolle spielt und sich auch keine Anspielungen auf diese aus Dicks Sicht einschneidende Begegnung finden. Das verwundert vor allem angesichts Dicks Fähigkeit, während des Schreibens zu improvisieren und die ursprünglichen Manuskripte abzuwandeln. 

Zusätzlich arbeitete Dick zwischen dem ersten Entwurf von “Der dunkle Schirm” und der Fertigstellung des Skripts an einem Drehbuch zu “Ubik”, sowie der Kooperation mit Roger Zelazny “Deus Irae” (1975).

Es empfiehlt sich während der Lektüre von “Der dunkle Schirm” entweder auf einige Studien zu seinem Romanwerk - Kim Stanley Robinsons Arbeit ist am empfehlenswertesten, weil er auch Dick in dieser Zeit persönlich kannte - , die kommentierten Aufzeichnungen Paul Williams zu Dicks Briefen oder Biographien zurückzugreifen, um die autobiographischen Passagen des Buches besser oder generell beurteilen zu können. Das war angesichts des mangelnden Hintergrundmaterials in den siebziger Jahren bei der Erstveröffentlichung noch nicht möglich. 

In “Der dunkle Schirm” gelingt Dick eine perfekte Dreiecksgeschichte. Im Mittelpunkt steht Donna, die auf einer Bekannten Dicks basiert. Eine etwas ältere Teenagerin aus der Zeit der  in seiner Wohnung lebenden Kommune irgendwann im Jahre 1970. Obwohl sie nie  miteinander geschlafen haben, ist sie für die zwei Jahre nach der Scheidung so etwas wie eine Vertraute, ein Licht im Dunkel der immer wirrer werdenden Drogenvisionen gewesen. 

Aus dem Sumpf erwachte Philip K. Dick Anfang 1972, als er nach Kanada aufbrach, um seine heute noch bekannte Rede “The Android and The Human” zu halten. Dabei blickt Dick in diesem prägnanten Text nicht nur zurück und extrapoliert viele Aspekte aus dem eigenen Werk, in humanistischer Hinsicht schaut der Autor auch voran. Aus Philip K. Dicks Feder werden keine utopisch technischen Romane mehr fließen, die auf anderen Welten spielen, aber mehr setzt sich der amerikaner vor allem autobiographisch mit dem eigenen Leben, aber auch den menschlichen Idealen oder besser idealisierten Vorstellungen auseinander. In diese Zeit fällt auch der berühmte Einbruch durch das FBI, angeblich auf der Suche nach dem  “Eine andere Welt” Manuskript. Wirre Briefe Dicks an die Behörden können diese Suche ausgelöst haben. Während “Eine andere Welt” die Aufregung nicht Wert ist, setzt sich Dick sowohl mit der Person seiner Vertrauten als auch der Auseinandersetzung mit den Behörden in “Der dunkle Schirm” auseinander.

Donna ist im übertragenen Sinne Hure und Heilige. Angeblich hatte niemand bislang Sex mit ihr. Sie dealt mit Drogen, sie weiß auch, woher die Substanz T kommt. Sie selbst wird vom Heroin abhängig, was für einen Dealer im Grunde eine Katastrophe ist. Immer wieder hat Philip K. Dick auf Frauen aus seinem direkten Umfeld zurückgegriffen und sie in seine Geschichten eingebaut. Donna ist nicht nur eine weitere Inkarnation dieser von Dick verehrten weiblichen Wesen, es ist mit ihren Ecken und Kanten die am meisten überzeugende, aber nicht unbedingt sehr sympathische Frauengestalt seit Rachael Rosen aus “Träumen Roboter von elektrischen Schafen”.   

Die Überwachung der Junkies und ihrer illegalen Aktivitäten; die Suche nach den Herstellern der neuen synthetischen Droge werden von Dick drastisch beschrieben. Hinsichtlich der Droge zeigt sich Dick als zynischer Satiriker, denn diese Droge kommt von einem Ort, den niemand für möglich hält. Hinsichtlich der Behörden und ihrer Spitzel konzentriert sich Dick auf den inneren Konflikt seines Protagonisten Bob Arctor alias Fred mit der eigenen Realität, aber auch dem Zweifrontenkrieg. Die Behörden dürfen alles, auch wenn einige Dinge eher der paranoiden Phantasie der Süchtigen entsprechen. Dazu finden sich viele Anspielungen auf Nixon und Watergate, welche Dicks generelle Meinung zur amerikanischen Politik deutlich machen. 

  Als eine Art Selbstanalyse und vor allem als eine Art Abrechnung mit einem eigenen Lebensabschnitt weist der Roman sehr viele Stärken,  wie auch Schwächen auf. Im Gegensatz zu vielen dynamischen, von einem hohen Tempo geprägten Dick Romanen ist die Erzählgeschwindigkeit langsam. Immer wieder unterbricht der Autor den Handlungsstrom, um auf die einzelnen Charaktere einzugehen. Das ist nur bedingt faszinierend, in vielen Fällen sogar verstörend. Das Schicksal der meisten Drogensüchtigen berührt die Leser nicht direkt. Aber Philip K. Dick macht auch deutlich, das er kein Mitleid haben möchte. Er drückt wie eingangs erwähnt aus, das Drogenabhängigkeit überwiegend eine eigene Entscheidung ist und niemand sagen kann, er weiß nichts von gesundheitlichen Schäden. Wie auch niemand sagen kann, vor einen Zug zu springen, ist auch keine Krankheit. Das erscheint drastisch und ist auch nicht ganz korrekt. Depression mit dem Hang zum Selbstmord ist eine Krankheit; Menschen,  die absichtlich mit Drogen von Dritten süchtig gemacht werden, verdienen Hilfe. Irgendwann ist auch Abhängigkeit eine Krankheit. Es ist der erste Schritt, welcher wichtig ist und dieser basiert nicht selten auf einer bewussten Entscheidung. Durch die vielen Einzelschicksale wirkt das Buch komplex, kompliziert, aber auch ein wenig aufgeblasen.

Die Stärke liegt in der minutiösen Zeichnung der Protagonisten, aber auch der brillanten Idee des “Jedermanns” Anzug, der einen vor der Öffentlichkeit schützt, aber auch gleichzeitig isoliert. “Der dunkle Schirm” ist ein drastisches Buch. Dick beschreibt das frühe Sterben oder die schweren geistigen Krankheiten der Protagonisten nicht emotional, aber trotzdem drastisch. Das Lächeln erstarrt den Lesern auf dem Gesicht. “Der dunkle Schirm” ist der erste Schritt Philip K. Dicks aus dem Science Fiction Genre - in dessen Mechanismen der Autor sich auch wohlgefühlt hat - zurück in den zu Veröffentlichungen führenden  Mainstream. Es ist ohne Frage ein interessanter, ein vielschichtiger, aber auch ein ehrlicher Roman, der viel besser nachwirkt als zum Beispiel “Eine andere Welt”. “Eine andere Welt” ist nicht zuletzt wegen Dicks öffentlicher Proklamation, das FBI wollte das Buch stehlen, bekannter, aber “Der dunkle Schirm” ist intimer, ehrlicher, erdrückender, allerdings auch literarisch herausfordernder und aus heutiger Sicht betrachtet zeitlos aktuell. 

Der dunkle Schirm: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 2. Auflage, Neuausgabe (25. September 2014)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 336 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3596905664
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596905669
  • Originaltitel ‏ : ‎ A scanner darkly