Clarkesworld 194

Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neal Clarke wirft einen Blick nach vorne. Im nächsten Jahr soll das Projekt mit Kurzgeschichten in spanischer Sprache – übersetzt ins Englische – beginnen. Auch Arula Ratnaker blickt nach vorne, aber auch zurück. In „The Neuroscience of Babirusa“ nimmt sie ihre eigene Kurzgeschichte als Ausgangsbasis und untersucht die neurowissenschaftliche Basis bestehend aus einer Kombination bekannter Forschungsergebnisse, aber auch extrapolierter Fiction. Es ist nicht unbedingt notwendig, die Ausgangsgeschichte zu kennen, aber es hilft, wenn zumindest der literarische Hintergrund bekannt ist. Neil Clarke hätte es perfektionieren können, in dem er die Kurzgeschichte nach einmal nachgedruckt angeboten hätte.

 Die beiden Interviews mit Ray Nayler und Nisi Shawl könnten nicht unterschiedlicher sein. Ray Nayler hat in den neunziger Jahren eine Reihe von Kurzgeschichten geschrieben und veröffentlicht. Anschließend arbeitete er für verschiedene Hilfsorganisationen fast zwanzig Jahren außerhalb der USA, bevor er sich sowohl in den Staaten als auch als Science Fiction Autor zurückmeldete. Seine Antworten sind daher weniger theoretisch oder pragmatisch als die anderer Autoren, denn Ray Nayler kann auf einen sehr reichhaltigen Erfahrungsschatz nicht nur positiver Art zurückgreifen. Nisi Shawl hat zwar schon einige Kurzgeschichten publiziert, aber sie zeichnet in dem Gespräch mit Arley Sorg ihren Lebensweg nach, der weniger exotischer als der von Ray Nayler ist, aber auch nicht als geradlinig beschrieben werden kann.

 Insgesamt sieben Geschichten finden sich in der vorletzten Ausgabe des Jahres 2022. Keine lange Novellen, dafür einige umfangreichere Kurzgeschichten.

 Michelle Julia John eröffnet mit „The Rythm of the Soul“ den November. Der Vater der Erzählerin hat eher aus Versehen ein besonderes Instrument gebaut, das die menschlichen Geist derartig beeinflusst, das er quasi Chaos aussäen kann. Das hört sich komplizierter an als es der Fall ist. Der Vater wird hingerichtet, der Erzähler verschwindet im Gefängnis. Jeder verbindet mit seinem Namen Verderben, auch wenn er damals nur ein unschuldiges Kind gewesen ist. Der Einsatz dieser Kraft wird ambivalent beschrieben. Dabei konzentriert sich der Erzähler auf die kleinen Dinge des Lebens. Die Gefangenenwärter mit ihrer sadistischen Einstellung, der Haß der einfachen Menschen werden gut und eindringlich beschrieben, aber die Stärke der Kraft bleibt abschließend dem Leser verborgen. Unabhängig davon, dass die Autorin keine Erklärung anbietet.

 Um Flucht geht es auch in der zweiten Story. Isabel J. Kim beschreibt in „Calf Cleaving in the Benthic Black“ die Flucht zweier Abenteurer, die vom Ausschlachten der Generationenschiffe leben, die in unregelmäßigen Abständen in die Nähe des Planeten oder Sonnensystems – hier bleibt auch Isabel J. Kim sehr vage –  leben. Bei einer zweiten Tour an Bord eines Raumschiffs finden sich im Tiefschlaf einen Überlebenden, der nach dem Freibeuterrecht Anrecht auf das ganze Raumschiff hätte. Anstatt ihn zu töten, ersinnen sie einen perfiden Plan. Wie einige andere Storys dieser Sammlung in einem lakonischen, cool wirkenden Stil erzählt bleiben zu viele Fragen offen. Die Ausgangsprämisse mit in regelmäßigen Abständen dahin driftenden Generationenraumschiffen wirkt allerdings wenig überzeugend und dient eher als MacGuffin, um die zufrieden stellende Pointe zu entwickeln. Eine Raumstation unter vielen hätte den gleichen Zweck erfüllt.

 Aus dem Chinesen stammt die längste Story dieser Ausgabe: „Hummingbird, Resting on Honeysuckles“. Yang Wanqings Hauptfigur ist eine art Zauberer, die Kontakt mit den Toten aufnehmen kann. So unterhält sie sich mit ihrer verstorbenen Tochter. Ihr Freund soll mittels einer Maschine eine Simulation der toten Tochter erzeugen. Gemeinsam versuchen sie eine Lösung für deren Schicksal zu finden.

 Der Autor setzt sich mit dem Thema Tod sehr sensibel, vor allem nicht kitschig auseinander. Im Gegensatz zu vielen anderen Texten ist von Beginn an klar, das die Simulation höchstens ein fades Abziehbild der Toten ist, aber weder ein Ersatz noch eine Möglichkeit, mit ihr lange zu kommunizieren oder auf eine perverse Art und Weise ein neues anderes Leben zu beginnen. Die Technologie wird effektiv eingesetzt und jeder Schritt dem Leser erläutert. Auch wenn die Novellette längere Zeit braucht, um sich zu entwickeln, agieren die Protagonisten von den ersten Szenen an überzeugend und der Leser kann sich mit ihren Gedanken/ Hoffnungen und Wünschen auch auf Augenhöhe identifizieren. Gleichzeitig handelt es sich im Vergleich zu einigen sperrig übersetzten Texten um eine fließende Übertragung der nicht einfachen chinesischen Kultur, den entsprechenden Dialogen und schließlich auch der Charakterisierung in Englische. Der Text ist durch seinen ernsten Unterton anders als einige andere Geschichten dieser Sammlung, aber in ihr vereint sich der gemeinsame Faden fast aller Storys, die sich um Tod/ Abschied und Wehmut drehen.        

 Samara Aumans „The Whelk“ ist ebenfalls eine Geschichte, deren grundlegende Technik nicht mal als Fantasy wirklich überzeugend ist. Und trotzdem liest sich der Plot fließend und kurzweilig. Ein langsam zerfallender Roboter trifft auf ein verlassenes, von einer künstlichen Intelligenz gesteuertes Raumschiff. Während der Roboter den Menschen hilfreich zur Seite gestanden ist, erscheint das Raumschiff wie ein Derelikt aus den ersten Tagen der Raumfahrt, allerdings technisch sehr viel höher stehend. Die Autorin entwickelt eine nostalgisch romantische Atmosphäre, kann aber nicht verhindern, das der Plot per se unlogisch erscheint und nur die sensible, aber leicht kitschige Charakterisierung der Protagonisten dieses Manko ausgleichen kann.

 Aimee Ogdens „Accountability, and other Myths of Old Earth“ nutzt die Besetzung der Erde durch technologisch überlegende, sich aber nicht artikulierende Außerirdische. Es wird eine kommunistische Gesellschaft ohne Luxus, aber auch ohne Armut eingeführt. Widerstand ist zwecklos und führt direkt in die Umerziehungslager.

 Die Protagonistin spricht nicht direkt mit dem Leser. Sie vermittelt allerdings ihre Erfahrungen. Die größte Schwäche der Geschichte ist der Plot, der irgendwann zum Stillstand kommt. Der kleine alltägliche Widerstand wie Diebstähle oder Vandalismus reicht im Grunde nicht aus, um die Situation zu ändern, deren Hintergründe allerdings auch extrem vage bleiben.

 Ann LeBlanes „The Transfiguration of the Gardner Irene by the Dead Planet Hipea” hat den längsten Titel. Ein Teil einer einen Planeten umfassenden Gruppenintelligenz wird an Bord eines Raumschiffs gebracht und vom Gemeinschaftssinn abgetrennt. Der Planet wird anschließend zerstört. Es beginnt unter den Besatzmitgliedern der Kampf um die verbleibenden Reste der künstlichen Intelligenz. Während der biologische Hintergrund interessant ist, leidet die Geschichte unter der sehr komplizierten erzähltechnischen Struktur. Um die Pointe nicht zu verraten, muss Ann LeBlane eine Reihe von Kompromissen eingehen, von denen allerdings nicht alle zum Wohle der ganzen Geschichte sind. Abschließend bleiben zu viele Frage offen, als das der Text unabhängig von seiner guten Ausgangsidee wirklich überzeugen kann.

Nadia Afifis „The Lonely Time Traveler of Kentish Town“ ist eine dieser Novellen, die von ihren lakonischen, zynischen, die Umgebung kommentieren Charakteren leben. Diese Einzelgänger wollen sich dem System nicht beugen, auch wenn sie wissen, das es ihnen schadet. Diese Mischung aus Selbstmitleid und Kasteiung macht den Reiz der Zeitreisegeschichte aus, in welcher ein Enkel wissen möchte, ob sein Großvater wirklich in der Vergangenheit von einem verbitterten Winston Churchill in einer Kneipe zur Rede gestellt und mundtot gemacht worden ist. In dieser Zukunft sind passive Zeitreisen in die Vergangenheit, aber nicht in die Zukunft möglich. Nur schauen, nicht anfassen. Die Erzählerin ist eine dieser Tourguides, die Touristen zu unterschiedlichen Plätzen sowie unterschiedlichen Zeiten bringen. Dadurch werden Zeitparadoxa vermieden, da die Beobachtungen nur in der Gegenwart, also weit nach der besuchten Periode durchdiskutiert oder sogar in Form von Video- oder Tonbandaufzeichnungen gezeigt werden können.

Politisch deckt die Autorin eine dunkle Periode des britischen Reiches auf, in dem sie ihre Diener nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem der schwierigen Zeit in Palästina einfach vergisst. Zwar geht die Autorin nicht in die Details, aber sie zeigt einen verbitterten, zynisch Churchill, den fairerweise Großbritannien genauso vergessen wollte, wie er den Großvater des Zeitreisenden und dessen Anspruch auf die versprochene Pension aus seinem Gedächtnis gestrichen hat. Die politische Komponente ist ein zusätzlicher Reiz dieser lesenswerten Kurzgeschichten.

 Zusammengefasst streift „Clarkesworld“ 193 eine Reihe von klassischen Themen – Generationenraumschiffe, Außerirdische Invasoren, Zeitreise und intelligente Roboter – auf ungewöhnliche Art und Weise. Es sind keine technisch orientierten Geschichten in der „Analog“ Tradition, welche hier vor dem Leser ausgebreitet werden. Es sind vor allem kleine menschliche Dramen (selbst wenn es sich um künstlichen Intelligenzen oder Roboter handelt), die sich abspielen und welche die nicht perfekten, aber lesenswerten Geschichten dieser Ausgabe interessant machen. 

      

cover for issue 194

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E BOOK; 112 Seiten