Das Gauklerschiff Band 1

Robert Kraft

Mit „Das Gauklerschiff – die Irrfahrt der Argonauten“  kehrte Robert Kraft nicht nur zu den eigenen Erfahrungen als Seemann oder dem Stoff seiner populären „Wir Seezigeuner“ Serie zurück, es ist gleichzeitig der letzte große abgeschlossene Lieferungsroman aus seiner Feder.  

1912 veröffentlichte die insgesamt sechzig Lieferungen mit jeweils vierundsechzig Seiten der Dresdner Roman- Verlag. Ein Jahr später begann der Autor die Arbeit an dem ebenfalls im Verlag Dieter von Reeken wieder veröffentlichten „Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde“. Es ist nicht ganz klar, ob Robert Kraft die komplizierte Handlung wegen einer Erkrankung nach ungefähr 60 Prozent der geplanten Lieferungen abgebrochen hat oder der Autor selbst nicht mehr die verschiedenen Handlungsebenen auseinanderhalten konnte. „Die Abgottschlange“ (1915) erschien in Fortsetzungen im achten Jahrgang der Zeitschrift „Die Wochenschau“, „Untersee- Teufel“ wurde zwei Jahre nach Robert Krafts frühem Tod unter dem Pseudonym Knud Hansen veröffentlicht und ist mit knapp dreihundertfünfzig gedruckten Seiten eher ein „normaler“ Roman.  „Loke Klingsor- Der Mann mit dem Teufelsaugen“ wurde erst einige Jahre nach Robert Krafts Tod von Johannes Jühling teilweise bearbeitet und fertiggestellt. So bleibt „Das Gauklerschiff“ Robert Krafts letzter Lieferungsroman aus der ersten Hand des Autoren.

„Das Gauklerschiff“ stellt in vielerlei Hinsicht aber auch ein interessantes Novum dar. Robert Kraft greift wie in den meisten seiner Lieferungsromane auf einen Ich- Erzähler als Identifikationsfigur des Lesers zurück. Aber in diesem Fall handelt es sich um einen klassischen Erzähler, der aus der Distanz auf die Ereignisse während der Reise auf dem Gauklerschiff und mit der Freifrau zur See oder besser auch Patronin genannt zurückblickt. In dem Augenblick, in welchem er die Geschichte erzählt, vielleicht auch niederschreibt, hat der Seemann ein Haus gebaut und ist Vater von mehr als einem Dutzend Kindern. Es muss sich folglich um einen alten Mann handeln, der auch keiner Tätigkeit mehr nachgeht. 

Auch in seinen anderen Lieferungsromanen ist Robert Kraft nicht selten den Ereignissen erzähltechnisch vorausgeeilt und hat auf eine klassische Chronologie verzichtet. Diese Sprünge wirkten nicht immer überzeugend vorbereitet. Durch die Fokussierung auf einen zumindest in den ersten hier gesammelten Lieferungen allgegenwärtigen Erzähler wirkt die Handlung deutlich geraffter und die weitschweifigen Exkursionen mit dem belehrenden Unterton  seiner anderen Arbeiten finden nicht statt. Gänzlich auf die Aufklärung seiner Leser in geographischer, aber auch verzerrt geschichtlicher Gestalt möchte Robert Kraft aber auch nicht verzichten. 

Die Geschichte beginnt - wie Herrmann Melvilles „Moby Dick“ -  mit einem Schiffbruch. Im Gegensatz zu “Moby Dick” geht es handlungstechnisch ausschließlich vorwärts. Erst sehr viel später erkennt der Leser, dass selbst der Untergang des Schiffes nur ein Rückblick ist. Der Erzähler muss zusammen mit einigen Schiffskameraden von Bord eines Kohlefrachters vor Kap Horn gehen, dessen Ladung sich entzündet hat. Anfänglich sind die Schiffbrüchigen hinsichtlich ihrer Rettung wählerisch und winken unter anderem einen norwegischen Walfänger durch. Am Ende nimmt sie ein seltsames Schiff auf, an dessen Deck sich eine ganze Tierschar aufhält.

Es handelt sich um ein ehemaliges Kriegsschiff, das nicht mehr während der Bauphase von der Marine übernommen worden ist. Das Schiff gehört einer jungen Frau, eine Patronin oder wie sie später ehrenvoll genannt wird, der Freifrau von der See. Sie hat jung einen älteren Mann geheiratet, der wenige Stunden später gestorben ist. Dabei handelt es sich um einen amerikanischen Milliardär, der bei ihrer Familie gelebt hat. Allerdings gab er vor, nur ein bescheidenes Vermögen zu haben, von dem er in den USA nicht leben konnte. In Deutschland aufgrund der Wechselkurse aber zumindest gut bürgerlich. Erst nach seinem Tod erfährt die Patronin, wie reich er wirklich gewesen ist. Sie erbt das ganze Geld. Mit einem Teil des Geldes hat sie das Schiff gekauft, ein weiterer Teil liegt bei einer amerikanischen Bank, deren Zinsen den Unterhaltung des Schiffs bedienen sollen. Den Rest hat sie aufgewendet, um die neidischen Kläger der näheren Verwandtschaft schließlich indirekt abzufinden.

Die Patronin hat sich zum zweiten Mal in ihrem Leben ein eigenes Paradies erschaffen. Das erste Mal war an der nordafrikanischen Küste, wie sie dem Erzähler stellvertretend für den Leser anvertraut.  Die Besatzung wird gut entlohnt und vor allem auch reichlich beköstigt. Die Tiere an Bord stammen größtenteils aus ihrem frühen Leben im Norden Afrikas. An Bord befinden sich auch einige Zirkusleute oder besser Gaukler. Dabei legt sie Wert darauf, dass Menschen aller Kontinente an Bord friedlich zusammenleben. Auch wenn Robert Kraft einige rassistische und vom Herausgeber Dieter von Reeken unverändert wiedergegebene Bemerkungen gegenüber Juden in den Text eingearbeitet hat, wird zum Beispiel auch den Deutschen unter der Besatzung von den Engländern in Kapstadt blanke Verachtung entgegengebracht.   

Für die nächsten Jahre wollen sie alle an Bord der “Argos” - daher der Name Argonauten -  ziellos über die Meere streifen und abgeschieden von den normalen Menschen leben. In drei Jahren will die junge Frau aber zusammen mit ihrem Bruder, der in den USA im Gefängnis sitzt, einen Schatz heben. Die Karte ist eingenäht in die Brieftasche des Bruders, die während seiner Haftstrafe gut im Fundus des Gefängnis aufgehoben wird.  Ohne das jemand bis auf den Bruder, die Patronin, jetzt auch den Ich- Erzähler, aber auch einen Lauscher im Buschwerk etwas von der Karte weiß. 

Der Ich- Erzähler wird erst dritter Steuermann, später der persönliche Waffenmeister der Patronin. Sie kann nicht verstehen, dass die Seeleute an Bord des Schiffes sich langweilen. Der Steuermann führt ein interessantes System der jeweiligen Wettkämpfe ein, mit denen die Langeweile bekämpft wird. Das gipfelt in der Gründung der Argonauten, die nicht nur an Bord gegeneinander wettstreiten, sondern immer wieder an  Land mit dortigen Sportlern die Kräfte messen. So findet sich ein Hinweis auf den Atlantik-India- Atlantik- Marsch angesichts des Aufstandes in China im Jahr 1900 gegen die europäischen  Besatzer. An einer anderen Stelle ziehen die Argonauten mühelos die Besatzung eines britischen Schiffs beim Tauziehen über die Linie, während der jüdische Schiffsarzt den amtierenden Schachweltmeister zweimal besiegt. Auf einer kleinen Insel bergen die Argonauten aus einem gestrandeten Frachter einen deutschstämmigen Orgelbauer samt der für eine Kirche in Chile zusammengestellten Orgel.  Ab diesem Moment zieht auch die Musik bei den Argonauten ein und sie beginnen an Land für wohltätige Zwecke - ausschließlich - Aufführungen zu inszenieren, deren Qualität sich schnell in der Welt herumspricht. 

In der Zusammenfassung wirken diese Ideen bizarr, aber der Leser kann erkennen, dass sich Robert Kraft zumindest gedanklich ein Idyll erschrieben hat. So harmonisch und kameradschaftlich war niemals die christliche Seefahrt. Wie die Patronin erzählt Robert Kraft hier seinen Traum, den er wahrscheinlich schon als Jugendlicher geträumt hat. Die Flucht zur See hat Robert Kraft als Junge gezeigt, wie hart das Leben an Bord der Schiffe im Übergang vom Segel zur Dampfmaschine wirklich gewesen ist. Persönliches - soweit man es heute eruieren kann - streut der Autor immer wieder in die Handlung ein. Aber angesichts des Paradieses an Bord der “Argos” wirken diese Anmerkungen wenig zielfördernd. 

 Von den handwerklichen Fähigkeiten der Matrosen - da werden Kleider und Schuhe für ein kleines Mädchen an Bord gefertigt - über die Krankheit wie Skorbut durch die Mangelernährung bis zu den Gefahren auf hoher See im Sturm oder nahe der unzugänglichen Küstenregionen. Immer wieder tritt Robert Kraft von seinem idealisierten Gauklerschiff einen literarischen Schritt zurück und klärt über die Wirklichkeit der christlichen Seefahrt auf. Anschließend schlägt der Autor aber wieder den Bogen zurück an Bord des Gauklerschiffes, dessen Besatzung sich aber auch gegen Unterstellungen von Land aus wehren muss. Allen voran der absolut treue und Pflicht versessene Erzähler, der sich als wahrer Gentleman, als potentielle Vaterfigur mit Ambitionen hinsichtlich der Patronin entpuppt.  

So muss die Freifrau zur See gegen die freche Schmierpresse und die Kolportageautoren auf eine markante und interessante Art und Weise vorgehen. Wie gut, dass weder Karl May oder Robert Kraft dieses Schicksal erleiden mussten. Da hätte weder Salz/ Pfeffer noch der gute Wein geholfen. Nur die Bemerkungen zur französischen Küche sind noch spitzfindiger, vielleicht auch sarkastischer.  

Andere Herausforderungen wie der angebliche Konkurs der das Geld der Patronin verwahrenden Bank werfen einen kurzen Schatten auf das Idyll, aber in Form des Alexandre Dumas Mottos “Einer für alle, alle für einen” sind die Argonauten auf dem Weg, ihrer verzweifelten Patronin uneigennützig zu helfen. Das wirkt stellenweise ein wenig pathetisch/ kitschig, aber Robert Kraft sprüht vor so vielen kleinen Ideen, das der Leser diese sich plötzlich im Nichts wieder auflösenden Exkursionen gerne verzeiht, 

Die Haupthandlung - das Warten auf die Freilassung des Bruders und damit die Suche nach dem Goldschatz - wird von Robert Kraft in den ersten achtunddreißig hier zusammengefassten Kapiteln nicht aus den Augen verloren. Auch hier greift der Ich- Erzähler mit ominösen Bemerkungen in Karl May Manier den potentiellen Gefahren voraus, entwickelt aber inhaltlich keine Eile, um die einzelnen Rückschläge durch Verräter aus der eigenen Mannschaft in den stellenweise ein wenig phlegmatischen Fluß der Handlung einzubauen.      

Mit dem Gaukler bzw. später Theaterschiff führt Robert Kraft eine neue Idee ein. Zar reisen Variete bzw. Zirkusunternehmen gerne mit dem Schiff von Hafen zu Hafen, aber erstens handelt es sich bei der Mannschaft der Argos um Amateurkünstler, aber ausgebildete Seeleute und zweitens spielen sie nur, wenn die Kasse an Bord der Argos weniger als 50 Pfund aufweist für Geld. Ansonsten wird gespendet. 

Der zweite Teil dieses ersten Lieferungsromans umfasst zwei große Abschnitte. Die erste Reise führt auch aufgrund eines finanziellen Engpasses in den Amazones. Ein windiger Einheimischer schlägt dem Gauklerschiff ein perfektes Geschäft vor. Dort sollen Chinabäume im Dschungel geschält werden, deren Ringe wertvoll ist. Er bürgt mit einem teuren Ring für den Erfolg des Unternehmens. 

Später will ein Asket die “Argos” chattern. Er ist der Sohn eines verstorbenen reichen Zeitungsmagnaten. Nach dem Reinfall mit dem Lateinamerikaner und den Chinabäumen ist es erstaunlich, wie schnell sich die Führung der Argos mit dem Mann einigt. Er folgt den Weisungen eines jungen Mädchens, eines Mediums, das inzwischen verstorben ist. an der afrikanischen Küste sucht er nach einem verschollenen Schiff. In China findet er schließlich durch eine Reihe von Zufällen seine Prinzessin. Alles wurde richtig prophezeit, wobei das Auffinden mit einer Reihe von derartigen Zufällen verbunden ist, dass man schon von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen sprechen kann. 

Am Ende führt die Reise nach Kanada, wo  sich die Besatzung der Argos eine Art festen Standort zulegen möchte, an dem sie sich zwischen den einzelnen Fahrten  erholen kann. Auch hier treffen sie auf eine Katastrophe, welche die Argos schließlich zu dem Gauklerschiff macht, auf das sich der Titel der ganzen Romanreihe bezieht. 

Schon zu Beginn hat Robert Kraft mit dem Lauscher im Busch einen potentiellen, aber noch eher anonymen Antagonisten für die kommenden Lieferungen angelegt. Diesen Kreis erweitert er noch um den berüchtigten Seeteufel, dessen Schiff die Argos in der Magellanstraße begegnet. Der Erzähler weist darauf hin,  dass es nicht die letzte Begegnung mit diesem zwielichtigen Mann sein wird.    

Auf dem Gauklerschiff geht es aber nicht nur gesellig zu. So täten die Besatzungsmitglieder rücksichtslos chinesischen Banditen, die sie überfallen wollen. Auch die vom Schiff fliehenden Männer werden im Wasser erschossen. Der Erzähler träumte schon als kleiner Junge von Seeräubern und deren Schätzen. Die Wahrheit ist aber eine ganz andere. 

Neben den deutlich stringenten Handlungsführung als in einigen seiner anderen umfangreichen Kolportageromanen überzeugen die ersten Lieferungen des Gauklerschiffs vor allem auch durch die interessante Zeichnung markanter Figuren. Immer wieder greift sich Robert Kraft aus der Mannschaft der Argos einzelne Charaktere heraus und entwickelt sie in einzelnen Szenen dreidimensional weiter. Stellvertretend wären hier der exzentrische Orgelbauer, aber begnadete Orgelbauer; der Matrose Albert mit seinem späteren Putzfimmel; der reiche Kapitän oder der rückblickend allwissende Erzählerin genannt. Auch die Patronin zwischen Mutter der Schiffsnation; in den Erzähler verliebter und sich ihm untergeordneter Ehefrau in spe und schließlich von allen Besatzungsmitgliedern verehrte Patronin ist ein interessanter Frauencharakter. Ergänzt wird die kleine Gruppe später noch um das Mannweib Klothilde mit einer wirklich langen Vergangenheit.     

Wie bei allen Nachdrucken aus dem Verlag Dieter von Reeken hat der Herausgeber die jeweiligen Frontspitze, aber auch die Umschlagzeichnung sowie die insgesamt einhunderteinzwanzig Illustrationen von Georg Hertting in erstaunlich guter Qualität übernehmen können.  

“Das Gauklerschiff” : Die Irrfahrt der Argonauten” ist eines der außergewöhnlichsten Kolporategromane Robert Krafts. Den Mikrokosmos an Bord eines Schiffes - dabei spielt es keine Rolle, ob ein klassisches Segelschiff oder wie in einer Miniserie ein Passagierschiff - beschreibt der Autor sehr authentisch, auch wenn es sich bei dieser Art der wirklich christlichen Seefahrt eher um ein fiktives Paradies handelt, von dem Robert Kraft anscheinend seit jungen Jahren geträumt hat. Die Freifrau zur See und ihr treuer Erzähler beginnen diesen Traum zu Leben, der allerdings auch mit harter, entschlossener und einfallsreicher Arbeit verbunden ist. Viele größere Konflikte legt Robert Kraft in diesen ersten Lieferungen nur an. Andeutungen weisen darauf hin, dass die Reise und nicht klassische Irrfahrt - sie haben immer Ziele - gefährlicher und herausfordernder in den Folgebänden wird. 

Robert Kraft
Das Gauklerschiff
Die Irrfahrten der Argonauten

Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung (Hardcover) des erstmals 1912 in 60 Lieferungen zu je 64 Seiten (= 3.840 Seiten) erschienenen illustrierten Lieferungsromans in 4 Bänden
Band 1 (Kapitel 1–38), 591 S., 46 Illustrationen - 35,00 € — ISBN 978-3-945807-70-5

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