Clarkesworld 196

Neil Clarke (Hrsg.)

Mit seinem Vorwort beginnt Neil Clarke den Jahresrückblick 2022 und präsentiert die Geschichten und die Titelbilder, welche für den Leserpreis zur Nominierung anstehen. Ashley Deng dagegen kümmert sich um die Moleküle, die fast kleinsten Bausteine von Leben und schlägt den Bogen zwischen Wissenschaft und Fiktion.

Arley Sorg spricht dieses Mal mit einer Science Fiction  Institution: Paul McAuley. Dieser berichtet nicht nur über seinen neusten Roman, wobei das reklametechnisch fast grenzwertig ist, sondern über sein gesamtes, fast vierzig Jahre umfassendes Werk. Dabei arbeitet der Brite sehr gut von Arley Sorgs Fragen begleitet die einzelnen Phasen seiner Karriere heraus. Ada Hoffmann ist im direkten Vergleich eine junge Autorin, die erst am Beginn ihrer Arbeit steht. Arley Sorg weiß inzwischen sehr gut zwischen Newcomer und Routinier hinsichtlich des Schwerpunkts seiner Fragen zu differenzieren, so dass sich die beiden Interviews gänzlich unterschiedlich lesen lassen.

Sechs Geschichten – davon eine Übersetzung – hat Neil Clarke für den Start des Jahres 2023 ausgewählt.    „Symbiosis“ von D.A. Xialin Spires beschreibt eine dunklere Zukunft, in welcher Schwangerschaft kein Wunsch, sondern eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft ist. Die Erzählerin muss sich erst mit dem Gedanken vertraut machen. Diese emotionale Positionierung nimmt einen großen Teil des Plots ein. Vieles wird den Leser bis auf einzelne technische Exkurse aus der Gegenwart vertraut vorkommen. Am Ende versucht die Autorin den Plot in den Bereich des Mystischen zu drehen, was aber nur bedingt funktioniert und die Leser eher befremdet.

R.T. Esters „Anais Gets a Turn“ ist die längste Geschichte dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Eine klassische Novelle. Die Prämisse ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Ein weltweites Bewusstsein erwacht. Es ist eine Kombination aus der Biosphäre und elektronischer Kommunikation. Es beschäftigt sich erst mit tic-tac-toe Spielen, wobei die beiden Bewusstseinshälften auch gegeneinander antreten können. Der Protagonist versucht mit einer Gruppe eine Art Spielentscheidung zu erzwingen. Erst mit einem nachhaltigen Sieg der einen oder anderen Gruppenbewusstseinshälfte wird der gegenwärtige Stillstand durchbrechen.

Auch wenn die Charaktere in ihren Handlungen überzeugen, wirkt die Story eher wie eine Parodie oder Farce auf die Überintelligenzen, ohne wirklich überzeugen zu können. Viele Grundideen wirken nicht nur in ihrer Entwicklung, sondern vor allem auch ihrer Ausführung absurd bis bizarr. Unter dieser Art der Gruppenintelligenz kann sich der Leser nur bedingt etwas vorstellen, so dass die Geschichte sich von Beginn an in einem literarischen Niemandsland bewegt und keinen wirklichen Eindruck hinterlässt.

Natasha Kings „Sharp Undoing“ überzeugt mehr. Die Grundidee ist allerdings nicht unbedingt neu. Implantate ermöglichen es den Menschen, Wissen zu teilen. Dabei kann ein Mensch mittels dieser Technik einem anderen Menschen gegen dessen Willen nicht nur Wissen vermitteln oder nehmen, sondern auch dessen Erinnerungen stehlen.  Am Ende stirbt der Bestohlene. Mehr und mehr bricht die Gesellschaft aufgrund dieser Erinnerungsdiebstähle zusammen. Der Prozess lässt sich schwer von den Behörden stoppen.  

Der Plot handelt von einem jungen Mann, dessen Bewusstsein nicht nur gestohlen wird, sondern es lebt im Geist des Diebes weiter.   Das führt zu einer Kettenreaktion. Auch wenn sich der Plot absurd anhört, hat die Autorin die einzelnen Szenarien im Rahmen ihrer eigenen Prämissen zufriedenstellend und überzeugend entwickelt. Sie schreibt zwar immer ein wenig am Rande des melodramatischen Nervenzusammenbruchs, aber glaubhaft. Die Beziehung zwischen dem ersten Opfer und dem abschließenden Dieb wirkt allerdings konstruiert und reiht sich in die vom Leser zu akzeptierende Ausgangsprämisse ein. Ohne eine gewisse Akzeptanz der Grundidee kann die Geschichte auch lächerlich erscheinen.

Gregory Feeleys „The Fortunate Isles“ ist die zweite von insgesamt drei längeren Geschichten in dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Ein Mann arbeitet in einer isolierten Station auf einem der Monde des Neptuns. Sechs Leute landen ohne Erlaubnis und zwingen den Protagonisten, eine gigantische Konstruktion aufzubauen. Ziel ist es, die auf der Erde schon dominierenden künstlichen Intelligenzen weiterzuentwickeln und quasi die nächste Evolutionsstufe zu zünden.

Auch wenn der Autor über einen geschmeidigen Stil verfügt und der Konflikt zwischen den Eindringlingen sowie dem Protagonisten überzeugend beschrieben ist, überzeugt die Geschichte in ihrer Gänze nicht. Zu vieles bleibt unklar. In vielen der hier veröffentlichten Kurzgeschichten ist die wissenschaftliche Basis eher das Hoffen der Autoren auf Erlösung denn fundamental recherchierte Fakten, aber in dieser Hinsicht passt bei Gregory Feeley leider wirklich nichts zusammen.

Auch die einzige Übersetzung – Cao Baiyus „Zhungzi´s Dream“ – reiht sich in diese Riege von absurden Science Fiction Geschichten ein. Neben dem kurzen Prolog finden sich insgesamt fünf Handlungsblöcke, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Sie handeln aber alle von evolutionären Entwicklungen wie dem gigantischen Fisch, der aus dem Wasser kommend zu einem Landbewohner wird. Oder zwei die Galaxis umfassende Wesen, die sich gegenseitig bekriegen. Abschließend beschreibt Cao Baiyu noch einen Zeitreisenden, der es bewusst auf den Schmetterlingseffekt anlegt und einen Philosophen aus der Antike zu scharf beobachtet. Alle fünf Episoden sind gut geschrieben worden. Auch die Übersetzung ist zufriedenstellend, wo die Dialoge ein wenig künstlich erscheinen. Aber die einzelnen Teile wirken zu bemüht auf eine chinesische Saga hin konstruiert, in deren  Mittelpunkt ein in China sehr berühmter Philosoph steht. Aber für westliche Leser fehlen alle Bezugspunkte und die Verweise auf einige von Ray Bradburys besten Kurzgeschichten erscheinen sehr vage.

Die sechste Geschichte - „Pearl“ von Felix Rose Kawitzky – ist wieder klassische Science Fiction. Ein Team in einem Observatorium beobachtet dunkle Materie im All. Der Protagonist experimentiert in seinem Garten unter der Sauerstoffblase mit Gartenschnecken. Dabei will er die dunkle Materie in die Schnecken bringen. Das Ergebnis ist – höflich geschrieben – bizarr. Auch hier ist es schwer, dem wissenschaftlichen Ansatz wirklich zu folgen. Aber im Gegensatz zu einigen anderen Clarkesworld Autoren ist es Felix Rose Kawitzky auch egal, ob die Leser seinem Ansatz folgen oder nicht., Die Geschichte lebt weniger von dem konfusen Ansatz, sondern eher von der überzeugenden Zeichnung der wenigen Protagonisten in ihrer Isolation. Warum die Geschichte dem Astronomen Vera Florence Cooper Rubin gewidmet worden ist, erschließt sich allerdings nach der Lektüre nicht.

Zusammengefasst ist das Titelbild das beste Feature dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Alle Geschichten wirken vor allem ideentechnisch ausgesprochen bemüht und die Plots funktionieren nur mit Goodwill auf Seiten der Leser. Das ist für ein etabliertes Science Fiction Magazin wie „Clarkesworld“ eindeutig zu wenig, so dass die Januar 2023 Ausgabe die schwächste Nummer seit einigen Jahren ist. Kein guter Jahresauftakt.        

cover for issue 196

E Book, 112 Seiten

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