Das Gauklerschiff Band 2

Robert Kraft

Der zweite Sammelband der vier Hardcover umfassenden Neuausgabe von Robert Krafts „Das Gauklerschiff – die Irrfahrten der Argonauten“ umfasst die Lieferungen 39 bis 77. Insgesamt 45 Innenillustrationen sind den Originalausgaben entnommen worden. Es ist wichtig, diesen umfangreichen Kolportageroman von Beginn an zu lesen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Lieferungsromanen Robert Krafts mit verschiedenen, parallel laufenden Handlungsebenen und einer Vielzahl von Figuren agiert der Autor deutlich fokussierter.  Mit dem Schiff und seiner Freifrau zur See – ihr wird von der britischen Regierung für die Rettung von Schiffbrüchigen dieser Titel sogar offiziell verliehen – sowie ihrem Waffenmeister als Ich- Erzähler verfügt Robert Kraft über einen roten Faden. Die ungewöhnliche Ich- Erzählerperspektive engt die erzählerische Breite des Autoren in einigen Szenen deutlich ein, da direkt oder indirekt alles aus einem Blickwinkel erzählt wird.  Details werden zum Teil in verbalen Exkursen präsentiert. In den ersten Lieferungen handelt es sich um ein Märchen, in diesem Sammelband findet sich eine Geistergeschichte aus Europa, die mitten im brasilianischen Urwald erzählt wird. Oder die Argonauten begegnen Amazonen, die nur eines brauchen und wollen: kräftige zeugungsfähige Männer.

An einer anderen Stelle erläutert der Ich- Erzähler noch einmal seine „Brot und Spiele“ Erziehungsmethode, die er zu Beginn dieser Reise um die Erde an der neuformierten Besatzung ausprobiert hat. Jetzt geht es um die 34 Waisenkinder, die aufgenommen worden sind. Robert Kraft bezieht sich explizit auf Jules  Vernes Roman „Die Schule der Robinson“, den der Autor gelesen haben muss, bevor er diese Zeilen aufs Papier brachte. Das Leben und interne Wettkämpfe sind die besten Erziehungsanstalten. Die Eigeninitiative der Jungen geht allerdings manchmal ein wenig zu weit. So entführen sie das Schiff, als die Besatzung an Land einen Besuch abstattet. Später spielen sie im brasilianischen Urwald mit entsprechender Verkleidung Indianer und scheuen sich nicht, ihren Ziehvater zu fesseln und abzuführen. Die 34 männlichen Waisenkinder werden schließlich um einen blinden Passagier ergänzt- eine junge britische Adlige, die sich an Bord schleicht und nach ihrer Entdeckung darum bittet, dass ihr Ziehvater sie begleitet. Dabei handelt es sich um einen hochrangigen britischen Abgeordneten, verantwortlich für die Kolonien.  

In den ersten Lieferungen erwarben die Argonauten den Ruf, Kunst für Spenden in allen Häfen zu präsentieren. Diese Idee schiebt Robert Kraft in den hier zusammengefassten Lieferungen erstaunlich lange beiseite. Es werden zwar acht deutsche Kunstturner an Bord genommen und damit der Neid der Seeleute heraufbeschworen - bislang war es ein Teil ihrer Reklame, sich als künstlerisch begabte Seeleute, aber nicht ausgebildete Schauspieler oder Artisten zu präsentieren -, aber sowohl dem später noch ausführlich zu beschreibenden Kapitän Satan mit einer 10 Millionen Spende wird eine Aufführung verweigert, wie auch die Auftritte in Gibraltar eher nebenbei abgehandelt werden. 

Das Indianermotiv wird noch einmal aufgenommen. Robert Kraft führt einen jungen Engländer in die Handlung ein, der durch eine Erbschaft reich geworden ist. Er hat jahrelang unter den Indianern gelebt und sie schließlich aus dem Reservat in neue Jagdgründe geführt. Heimlich nach Afrika. Jetzt ist er zurück. Das Ende dieser Episode ist deutlich dunkler und Robert Kraft macht deutlich, dass die Gerichtsbarkeit des Kapitäns auf See zumindest in mittelbarer Schiffsnähe im Hafen auch noch gilt. Aber zweimal die Indianerkarte durch Kinder bzw. den Engländer zu ziehen, wirkt den Plot betrachtend kontraproduktiv.     

Dabei agiert die Mannschaft teilweise selbst noch auf dem Niveau von Kindern. In den ersten Lieferungen verfallen sie dem Rollschuhlaufen, dieses Mal werden ihnen  Fahrräder gekauft. Aus dem Nichts heraus ist auch eine Werkstatt an Bord des Schiffes, um die Fahrräder zu reparieren.

Die ersten Lieferungen dieses zweiten Sammelbandes dienen dazu, um einige Handlungsfäden entweder vorläufig abzuschließen oder Ideen aus dem ersten Teil des Kolportageromans weiter zu spinnen. Abgeschlossen wird die Charter des jungen Millionärs, der zwar seine Frau in einem Sarg bei den asiatischen Piraten gefunden hat, sie aber nicht aus der Stasis erwecken kann. Alle weiteren Ratschläge und Hinweise aus den Sternen helfen nicht, so dass er fast hektisch von Bord der ARGOS geht.

Aus den ersten Lieferungen taucht auch wieder der spanische Einsiedler und Asket della Estrade auf, dessen Versprechungen nicht mehr Millionen beinhalten, sondern 4 Milliarden Dollar an Gold, das in dem legendären Eldorado – hier ist es ein Tal im brasilianischen Dschungel - liegen soll. Die  Bergung dieses „Schatzes“ ist nicht zuletzt aufgrund eines Fluchs deutlich schwieriger. Robert Kraft integriert anfänglich keine übernatürlichen Elemente wie in seinen Lieferungsromanen „Das zweite Gesicht“ oder „Loke Klingsor“, sondern greift auf vergifteten Proviant zurück. Diese Idee wird der Autor im Laufe der vorliegenden Lieferungen mit einer anderen Prämisse nicht einmal aufnehmen.  Dabei agieren die Argonauten trotz der ersten Begegnung mit dem spanischen Asketen erstaunlich naiv. Den potentiellen Reichtum haben sie nach dem Perlenfund auch nicht mehr nötig.

Aller guten Dinge sind aber drei. Bei seinem dritten Erscheinen verspricht der Asket keinen Reichtum mehr, sondern eine unbekannte Passage zum legendären Eldora Depot tief im brasilianischen Urwald. Auch diese verführerische Idee wird zumindest kurzzeitig für die Argonauten zu einer Katastrophe. Aber der Asket pflanzt mit dem Schwert des Cids dem Ich- Erzähler noch eine Idee ins Hirn, die wie vieles in diesem Buch absurd erscheint, aber mit derartiger Ernsthaftigkeit erzählt wird, das man den Gedanken einfach nur folgen muss.   

Ab der Mitte der hier präsentierten Lieferungen ändert sich das Bild drastisch. Da wechseln sich utopisch-technische Ideen, Seefahrerromantik und schließlich der magische Orient in rasanter Reihenfolge ab. 

Die erste Hälfte der Lieferungen dominierte noch ein weiterer roter Faden. Der Bruder der Freifrau ist im New Yorker Gefängnis verstorben. Unter seinen Sachen befand sich eine Karte,die zu einem versteckten Piratenschatz führt. Als die ARGOS an einem von insgesamt fünf Meilenstein auf dem Weg zum großen Schatz ankommt, ist sie nur Zweiter.  Sie trifft auf den Kapitän Satin – er nennt sich selbst Satan – und seinen Seeteufel. Der moderne Pirat und Plünderer würde gerne den „Schatz“ mit der Freifrau für eine Vorstellung der Argonauten teilen. Er weiß, dass die Gaukler nur gegen Spenden ihre Kunst zeigen. Das wird abgelehnt, so dass Satin die Argos auf See wie ein aufdringlicher Voyeur verfolgt. Dieser Handlungsabschnitt endet schließlich im Versteck Satin, wo die Besatzung der Argos zwei Schwestern aus einer mehrjährigen Gefangenschaft retten kann. Allerdings bekräftigt Robert Kraft umgehend, dass bei Satin keine Gelüste oder niedrige Absichten hinter der Gefangennahme der beiden Frauen standen. Er hatte sie einfach gerne um sich.

Im Laufe der nächsten Lieferungen kristallisiert sich heraus, dass Kapitän Satan die Informationen in Bezug auf den Bruder sowie den Schatz vom buchstäblichen Lauscher im Gebüsch und nicht hinter der Wand erhalten hat. Robert Kraft hat diese Gefahr in den ersten Lieferungen angedeutet. Hier schließt der Autor den Spannungsbogen, wobei nicht zum ersten oder letzten Mal in diesem Kolportageroman die beschwörende Exposition spannender ist als die abschließende Auflösung. Das zeigt sich auch, als der Ich- Erzähler über Bord geht und ausgerechnet von Kapitän Satins gerettet wird. Die Szene kumuliert in der Rückkehr zu Satins Versteck und einem Paukenschlag. Aber wie bei Karl May und einer Reihe anderer von Kraft Lieferungsromanen ist ein Schurke erst wirklich tot, wenn die Geschichte zu Ende ist und die Helden um seinen Leichnam stehen.   

Die Position eines weiteren Teil des schon angesprochenen Schatzes wird durch insgesamt fünf Hinweise bestimmt. Nur zwei Daten sind den Argonauten bekannt. Für Robert Kraft ein idealer Ansatzpunkt, um die Argonauten nach Europa,  Afrika und die beiden amerikanischen Kontinente in die Südsee zu schicken. Dazu benutzt der Autor zum ersten Mal ein übernatürliches Element. Eine Kugel erscheint an Bord der Argos. Die Seeleute nennen sie Schwester Anna. Die Kugel kann mit dem Ich- Erzähler zeitlos kommunizieren. Dieser ist davon überzeugt, dass es sich um ein Zeichen von einer höheren Instanz, aber nicht unbedingt Gott handelt. Die Kugel bittet die Argonauten um Hilfe. Dafür bekommen sie Hinweise auf den Schatz. In Gibraltar sollen sie einen Mann an Bord nehmen, dessen Schwester sich in einem türkischen Harem befindet. Sie wurde dahin verschleppt. Auch diese Idee wird Robert Kraft noch einmal in den hier gesammelten Lieferungen doppeln. Die Befreiung mittels eines Zufalls erfolgt erstaunlich unauffällig. Später wird der Ich- Erzähler nach einer Walexpedition  über Bord gespült, gerettet, hübsch gemacht und als Sklave schließlich an einen gelehrten Mann aus dem Volk der Maskat verkauft. Dieser hat in Deutschland studiert und sucht eher einen Diener als einen Sklaven, aber aus Aberglauben will ihm niemand dienen. Anfänglich sollen nur Käfige für weiße Mäuse gebaut werden, aber mehr und mehr führt der Araber den Erzähler in die Welt der Erdgeister ein. So kann ein Ring aus dem Nichts heraus erhitzt werden, ein Wort reicht, damit das Schmuckstück wieder kalt wird. Es gibt selbst sich mit Wasser ohne menschliche Hilfe auffüllende Gefäße. Robert Kraft hat viel Freude, aus der Legendenwelt des Orients zu zitieren. 

Aber Magie ist in  seinem literarischen Universum eher eine Abfolge von Illusionen und Tricks. Das macht der Erzähler in einem späteren Rückblick auf seine Jugend deutlich und so werden auch einige der Illusionen erklärt, denen sich der Ich- Erzähler in einer dunklen Einzelzelle auf dem Weg zu einer höheren Weisheit zu unterwerfen hat. In einem starken Kontrast zu dieser realistischen Behandlung eines angeblichen arabischen Magiers steht die anschließende Verpflichtung des Mannes als Teil der Gauklertruppe auf dem Schiff. 

In einem starken Kontrast steht der Fund einer gigantischen, ins Bergmassiv auf einer kleinen Insel gebauten Anlage in der Südsee. Die Kugel mit Schwester Annas Stimme führt die Argonauten  dahin.  Es befinden sich zwanzig Etagen mit mehr als tausend Quadratkilometer Fläche pro Etage in dieser gigantischen Anlage. In dieser gigantischen Anlage gibt es künstliche Seen, Flora und Fauna. Fahrstühle verbinden die Etagen. Überall sind Telefone. Es gibt “Fernseher”, mit denen man Punkte auf der Erde beobachten kann. Die Anlage ist durch moderne, getarnte Kanonen inklusive entsprechender Munition geschützt. Es gibt eine vollautomatische Küche mit verschiedenen Getränkeautomaten. Dabei reicht das Spektrum von Wasser bis Kaffee, natürlich in verschiedenen Stärken. Von den Erbauern finden sich keine Spuren in der Anlage. Auch Schwester Anna schweigt in diesem Punkt.   Heinz J. Galle hat in verschiedenen Nachwortern zur “Jan Mayen” und “Sun Koh” Ausgabe herausgearbeitet, das sich Paul Alfred Müller mehrmals an den technischen Ideen Robert Krafts bedient hat. Bei “Das Gauklerschiff” kann zusätzlich davon gesprochen werden, dass Robert Kraft Anleihen bei Robert Kraft macht. Viele Aspekte dieser Anlage werden dem Stammleser aus dem Kolportageroman “Atalanta- das Geheimnis des Sklavensees” bekannt vorkommen. Auch in “Atalanta” hat Robert Kraft auf die Hintergründe der Erbauer verzichtet. Nur wirkt die in “Atalanta” beschriebene Anlage im direkten Vergleich zu dem Komplex in “Das Gauklerschiff” wie eine Fingerübung.  Schwester Anna spricht davon, dass es mehr als eine Anlage geben soll. Sie übergibt die Kontrolle dieser Anlage auch an die Mannschaft der Argos. In den abschließenden Kapiteln schlägt Robert Kraft den Bogen zu der geheimnisvollen Organisation, welche auch für die sprechende Kugel und damit im weiteren Sinne auch “Schwester Anne” verantwortlich ist, ohne dass der Autor nachhaltige Informationen anbietet. Vieles bleibt vage und auf direkte Fragen wird ausweichend geantwortet. 

In der 75. Lieferung wird zur Einführung einer neuen, wichtigen Figur die Ich- Erzählebene das erste Mal  unterbrochen. Der Fürst des Feuers präsentiert sich als schüchterner Held mit einem Langfristplan. Er ist ein charismatischer Charakter mit einer hohen Leidensfähigkeit. Er ist Mitglied einer Geheimorganisation, welche die Argonauten und ihre Freifrau, aber erstaunlicherweise auch deren wirtschaftliche Existenz im Fokus hat.  

Die Lieferungen 74 bis 77 schließen diesen zweiten Sammelband ab. In diesen vier Lieferungen unterstreicht Robert Kraft seine außergewöhnliche Fähigkeit als Kolportageautor, der seine Leser an sich fesselt. Die 74. Lieferung endet mit einem explosiven Paukenschlag. In der 75. Ausgabe führt Robert Kraft neben der angesprochenen neuen Handlungsebene einen charismatischen Charakter ein, der heldenhaft agiert, aber vom Leser (noch) nicht eingeordnet werden kann. In der folgenden Lieferung demontiert Robert Kraft die Welt der Argonauten noch weiter, indem er ihnen in mehreren Tiefschlägen die existentiellen Grundlagen raubt. Alles kann nicht nur auf Zufällen basieren, sondern Robert Kraft vermittelt den Eindruck, als wenn die Argos und ihre Besatzung in eine bestimmte Richtung förmlich getrieben werden soll, denn die Rettung wird in einer Kombination aus Schwester Anna und dem Flibustier Schatz gleich mit präsentiert. In der letzten Lieferung dieses zweiten Sammelbandes greifen die Argonauten gestählt und wieder ausgerüstet in die politischen Verhältnisse ihres Gastlandes ein. Auch hier wirken sie für die Öffentlichkeit einen Moment wie Schurken oder Verbrecher, anschließend könnten die Seeleute die Helden sein, die sich mutig den Machthungrigen entgegenstellen. Da Robert Kraft seine Leser bei der Stange halten will und muss, endet jede dieser vier exemplarischen Lieferungen mit einem offenen, die Spannung erhaltenden Ende.    

Die fast vierzig Lieferungen im zweiten Sammelband präsentieren ein sehr breites Spektrum an Themen. Von einer langen, fast unangenehm wegen ihrer Details zu lesenden Walfang-Episode über mehrere Expeditionen in den brasilianischen Dschungel bis an die Spitze Lateinamerikas und einer Piratenfestung. Auf der anderen Seite der Welt finden sie die angesprochene gigantische Anlage, an einer langen Leine von einer geheimnisvollen Organisation geführt. Trotz des Umfangs und vieler Seiten mit heute eher behäbig zu lesenden Dialogen ist das Tempo der Geschichte ausgesprochen hoch. Robert Kraft muss am Ende fast jeder Lieferung einen kleinen Höhepunkt anbieten, damit die Leser auch das nächste Heft kaufen. Dazu kommen die exotischen Plätze. Die einzelnen Lieferungen sind weniger rassistisch angelegt als andere Sammelbände, aber die Deutschtümelei stilecht negativ an vielen Stellen heraus. 

Für Einsteiger in Robert Krafts umfangreiches Werk eignet sich bislang neben “Ataltanta- das Geheimnis des Sklavensees” vor allem “Das Gauklerschiff”, um auch die technisch utopischen Ideen des Autors kennenzulernen. Hinsichtlich der Lesbarkeit und inhaltlichen Qualität ist “Wir Seezigeuner” - der Verlag Dieter von Reeken bereitet eine Neuauflage vor - allerdings noch eine Stufe besser. 

Das Gauklerschiff : Die Irrfahrten der Argonauten : Band 2: Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung des erstmals 191...

Robert Kraft
Das Gauklerschiff
Die Irrfahrten der Argonauten

Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung (Hardcover) des erstmals 1912 in 60 Lieferungen zu je 64 Seiten (= 3.840 Seiten) erschienenen illustrierten Lieferungsromans in 4 Bänden

Band 2 (Kapitel 39–77), 595 S., 45 Illustrationen - 35,00 €  — ISBN 978-3-945807-71-2

Verlag Dieter von Reeken