Ubik

Philip K. Dick

Der Fischer Verlag hat mit dem 1969 erstmals veröffentlichten, aber drei Jahre vorher schon entstandenen „Ubik“ einen der besten Phillip K. Dick Romane neu aufgelegt. Das Buch erschien in Deutschland 1977 mit einem Nachwort von   Stanislaw Lem – dem Magazin „Quarber Merkur“ entnommen- das erste  Mal im Suhrkamp Verlag; 26 Jahre später erfolgte ein Nachdruck im Heyne Verlag. Im Anhang der Heyne Ausgabe findet sich ein von Dick verfasstes Drehbuch des Romans, das bislang nicht umgesetzt worden ist. Das Drehbuch stammt aus dem Jahr 1974. Es gibt kleinere Unterschiede zwischen dem Roman und Dicks Drehbuch. Laut Tim Powers hat Dick absichtlich eine etwas andere Fassung geschrieben. Als das Drehbuch entstand, wirkte Philip K. Dicks Privatleben wieder geordnet. Vielleicht deswegen auch der im Kern etwas positivere Ausblick. Ein auf dem Roman lose basierendes Spiel hatte 1998 keinen Erfolg. Die Time hat den “UBIK” zu den besten und damit wichtigsten amerikanischen einhundert Romane seit 1923 gewählt. 

Auch wenn „Ubik“ ein eigenständiges Werk ist, greift Philip K. Dick auf Ideen sowohl aus seiner Kurzgeschichte „Minority Report“ als auch dem Roman „Mozart für Marsianer“ zurück. Andere Abschnitte dieser Geschichte basieren auf der Vignette „What the Dead Men say“ , die im Juni 1964 in „Worlds of Tomorrow“ erschienen ist. Die Idee des Halblebens übernimmt Philip K. Dick nicht nur für „Ubik“, er zitiert ausführlich aus der vorangegangenen Vignette.

Präcops können in die Zukunft sehen und Konzernen bei der Entscheidungsfindung helfen. Eine ebenfalls verbreitete PSI Fähigkeit ist die Telepathie und dementsprechend auch die Anti-Telepathie. Mutanten, welche die Fähigkeiten der Telepathen blockieren und damit Industriespionage verhindern können. Technologisch hat die Menschheit 1992 – das Jahr, in dem der Roman spielt – den Mond kolonisiert. Anscheinend bereitet man sich auf den Abflug eines Kolonistenraumschiffs zum nächsten Sternensystem vor. Ein Thema, das Philip K. Dick beginnend in den fünfziger Jahren immer wieder im Hintergrund angesprochen, aber niemals wirklich in einem Roman ausführlich formuliert hat. Neben den PSI Fähigkeiten hat die Menschheit  in technologischer Hinsicht die Kryo- Technologie perfektioniert.

Neben dem allgegenwärtigen Produkt UBIK – Dick macht sich einen Spass daraus, jedes Kapitel mit einem neuen UBIK Produkt einzuleiten – ist der Tod der Menschen nicht mehr endgültig. Dank der Kryotechnik können kürzlich verstorbene Menschen in einer Art Schwebezustand gehalten werden. Die Hinterbliebenen können sich noch eine gewisse Zeit mit ihnen unterhalten. Diese Frist kann durch die Kryotechnik hinausgezögert werden. Die absolute Zeit der Kontaktaufnahme ist allerdings begrenzt. Sie hängt auch von mehreren anderen Faktoren wie dem Gesundheitszustand vor dem Tod; Alter des Verstorbenen und dem Preis, den die Hinterbliebenen für die richtige Aufbewahrung zahlen wollen, ab.

Joe Chip ist ein verschuldeter Arbeiter bei Runciter Associates, unter anderem einer der wichtigsten Kryobanken des Landes. Glen Runciter leitet zwar die Firma, aber die wichtigsten Entscheidungen hat er immer mit seiner jungen, inzwischen verstorbenen Frau Ella getroffen. Bei einer erneuten Befragung stellt er fest, dass Ella Bewusstsein von einem jungen, aggressiven Halblebenden namens Jory Miller überlagert worden ist.

Um die Sicherheit der Firma weiter zu erhöhen, heuert der Magnat Stanton Mick Runciter Associates an, um seine Firma vor telepathischen Übergriffen zu schützen. Runciter verfügt über eine ganze Gruppe von Telepathen. Die letzte Neuanstellung ist die junge Pat Conley, die über die einzigartige Fähigkeit verfügt, die Zeit zu „biegen“ und quasi zurückzusetzen. Wie viele von Philip K. Dicks PSI Begabten bleibt die Beschreibung ihrer Fähigkeiten vage. Auf dem Mond stellt sich heraus, dass die Firmenleitung von Runciter zusammen mit ihren besten elf PSI Begabten in eine Falle gelockt und durch eine Bombe getötet werden soll.

Mit der Bombenexplosion beginnt sich die Realität für die Betroffenen zu verändern.

In „Ubik“ finden sich eine Reihe von typischen Dick Merkmalen. Die Zukunft ist komplett kommerzialisiert. Wer kein Geld hat, darf nicht einmal die eigene Wohnung verlassen. Vom Duschen oder auch nur den Kühlschrank aufmachen, ganz zu schweigen. Diese Überspitzung des Kapitalismus führt zu einer der komischen Szenen, die Philip K. Dicks Werk auf der kleinsten Ebene quasi als eine Art Eintritt so zugänglich machen. Diese offene Kritik am Kapitalismus zieht sich auch durch die Kapitelüberschriften. UBIK ist alles und kann alles. Von der Medizin bis  zum Büstenhalter. Die Reklame Beschreibungen werden immer absurder, bis der Amerikaner in der Einleitung zum letzten Kapitel alles auf den Kopf stellt und UBIK zu einer Art Vorläufer von VALIS macht, der angeblich übernatürlichen Begegnung, die Philip K. Dicks später läuterte und schließlich in seinen letzten phantastischen Romanen gipfelte. UBIK gab es, bevor das Universum war. UBIK ist der Schöpfer von Welten und Sonnen. UBIK hat das Leben erschaffen. UBIK lenkt das Geschehen aller Menschen. Nach dieser Definition ist UBIK Gott.

Im Roman selbst wird UBIK schließlich zur Substanz, welche Joe Chips hilft, den Teufelskreis zu durchbrechen und seinen „Feind“ zu stellen. 

Damit endet auch gleichzeitig eine Art Teufelskreis , denn auf der Suche nach Hilfe oder der Flucht vor dem finalen Tod werden die wenigen den Bombenanschlag überlebenden Protagonisten immer weiter von Pat Conley, bzw. ihrem Gegenspieler in die Vergangenheit versetzt. Philip K. Dick spannt den Bogen vom Jahre 1992 zurück in das Jahr 1939 unmittelbar nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und wieder zurück in eine Art von Gegenwart. 

 Immer wieder wird UBIK zu einer Art Mittel zum Zweck. Bizarrer Höhepunkt ist eine Flasche mit (UBIK) Medizin aus dem Jahr 1862, welche dem Protagonisten hilft, ein kleines Privatflugzeug zu chartern, nachdem sich der Versuch in Luft aufgelöst hat, einen teuren Sportwagen zu tauschen. Neben dem allgegenwärtigen UBIK sind es die bizarren Nachrichten, welche Runciter seinen Mitarbeitern im Grunde von jenseits des Grabes und ohne die Möglichkeit einer Halbleben- Kommunikation zurücklässt. Beide Elemente bilden rote Fäden in dem inhaltlichen Chaos, das Philip K. Dick nicht nur in den Köpfen seiner Leser mit einer sadistischen Freude anrichtet.   

1964 veröffentlichte Philip K. Dick den 1994 spielenden Roman “Marsianisches Zeitsturz”. In dem Buch hat ein autistisches Kind Martin die Fähigkeit, Menschen durch die Zeit reisen zu lassen. Er selbst empfindet den normalen Zeitablauf als zerrissen. Auch mittels eines besonderen Flecks auf dem roten Flecken, den Traditionen der Aborigines abgeschaut, reist der Antagonist Knorr dank Martin in die Vergangenheit und kann gar nichts ändern. In “Ubik” versetzt Pat möglicherweise ihr Team bis auf den tödlich verletzten Chef in die Vergangenheit, um einzelne Mitglieder zu schützen und die Ereignisse zu verhindern. Ob diese Zeitreise wirklich stattfindet oder die Teammitglieder sich nach dem Bombenanschlag in ihrer individuell gestalteten Halbleben zwischen Leben und Tod aufhalten und mit dem einzigen Überlebenden kommunizieren, macht der Autor nicht gänzlich deutlich. Immer wieder weicht er, wie bei den Produktbeschreibungen UBIKs, von klassischen Erwartungshaltungen des Lesers ab und hinterfragt jegliche Form von Realität. Neben der Kommunikation aus der Twilight Zone zwischen Leben und Tod, sowie einer echten, von einem Mutanten initiierten Zeitreise gibt es noch die Möglichkeit, dass die Protagonisten in eine Parallelwelt versetzt worden sind. Dicks Obsession mit 50 Cents Stücken könnte vage für diese These sprechen.    

Wie bei vielen Dick Romanen ist der zugrundeliegende Plot in einem Satz zusammenzufassen. Zwei Konkurrenten versuchen sich gegenseitig auszuschalten und einer greift zu brutalen Mitteln. Aber im Augenblick der Bombenexplosion wird aus einer vielschichtigen Zukunftsvision – grenzenloser Kapitalismus, ein eingeschränktes Kryo- technisches Weiterleben nach dem Tod, PSI Talente – eine paranoide Jagd durch die Zeit. Oder durch den eigenen Verstand. Oder durch eine der Kunstwelten, welche die Firmen anlegen, damit der Übergang ins Nichts für die sterbenden Toten nicht zu krass und einschüchternd ist.  Folgerichtig können alle Protagonisten während der Bombenexplosion gestorben sein und die zweite Hälfte des Romans besteht aus ihren individuellen Visionen oder Kunstwelten. Die Fernsehserie „Lost“ lässt grüßen. Im letzten Kapitel steht der Protagonist dann quasi an einer imaginären Himmelstür und schreitet, angeführt durch UBIK , in sein persönliches Paradies. Das könnte das Bildnis auf der letzten Münze erklären.

Interpretiert ein Leser „Ubik“ in klassischer SF- Manier, dann ist es der Mutantin gelungen, zumindest einen Teil der Gruppe in die Vergangenheit zu setzen, wo sie verzweifelt versuchen, das Bombenattentat zu verhindern. Jeder weitere Zeitsprung bringt sie aber nicht näher an die Gegenwart, sondern weiter in die Vergangenheit bis ins Jahr 1939. Jede Veränderung in der Vergangenheit könnte die Gegenwart in der bekannten Form auslöschen. 

In seinen frühen Romanen hatte Philip K. Dick immer Probleme mit der Beschreibung von lebensechten, überzeugenden Frauen. Sie wirkten eindimensional charakterisiert und agierten nicht selten stereotyp. In den Arbeiten aus den siebziger Jahren konfrontierte Dick seine Protagonisten immer wieder mit sehr unterschiedlichen Frauentypen, die seinen persönlichen, positiven wie negativen Erfahrungen nahestanden. In „Ubik“ ist die auf den ersten Blick dominante Pat eher pragmatisch gezeichnet. Sie übernimmt die Kontrolle über Joe Chips Leben, nachdem er ihr einen Job angeboten hat. Aber sie hat später keine Kontrolle über ihre Fähigkeiten. Sie weiß nicht einmal, ob sie tatsächlich eine Zeitreise ausgelöst hat. Im Gegensatz zum Autisten Manfred aus „Marsianischer Zeitsturz“. Es ist die verstorbene Ella Runcifer, welche die Handlung indirekt zu Beginn und am Ende des Buches dominiert. Ihr Mann trifft keine Entscheidungen ohne sie. Er ist verzweifelt, als ihr Ego von einem aus seiner Sicht jungen Rüppel im Sarg nebenan überlagert wird. Am Ende der Geschichte ist es Ella, die Joe Chips einen Freifahrtschein auf Rezept präsentiert. Ella scheint in diesem komplexen, aber auch sehr komplizierten Plot eine Art Durchblick zu haben. Je nach Ausgangslage ist dieses Rezept der Türöffner zurück in eine allerdings verfremdete Gegenwart oder erleichtert den Übergang in welche Art von Himmel Philip K. Dick auch immer gesehen hat.

„Ubik“ ist als Dick Roman erstaunlich kompakt. Der zugrundeliegende Plot ist klar zu erkennen. Die verschiedenen Wirklichkeiten und/ oder Zeitebenen erlauben dem Leser unterschiedliche Interpretationen, wobei jeder der eingangs angesprochenen Plot Verläufe  Sinn ergeben kann. Der Roman wird zufriedenstellend abgeschlossen. Entweder pragmatisch oder mit einem religiösen Unterton. Komische Szenen wechseln sich mit einigen spannenden Verfolgungsjagden ab, wobei insbesondere die Kommunikation mit den Toten als blühender Geschäftsbereich schon bizarr genug erscheint. In Bezug auf den futuristischen Hintergrund  ist „Ubik“ klar in den Dick Kanon eingegliedert. Ein großer Teil von Dicks Zukunftsvisionen ist in den Details austauschbar. Oder der Autor ist einfach nur konsequent. Joe Chips ist ein klassischer Verlierer, ein Mann mit einer einzigen Fähigkeit. Er kann Talente bewerten und dient als Rekrutierer für Runcifer. Sein Leben ist chaotisch, er ist immer pleite. Beginnend mit seinem Namen ist Joe Chips einer dieser klassischen Blue Collar Arbeiter, der es nur in einem Dick Roman auf die nächste soziale Stufe bringen kann.

Unter dem Gewand einer paranoiden Pulpgeschichte verstecken sich ungezählte Hinweise auf Platos Thesen, Interpretation des Neuen Testaments, Hinweise auf Dantes Zirkel der Hölle, Descarte oder Leibnitz Multiversum Physik. Ubik kann Gott sein. Aus dem Nichts heraus finden die gejagten Protagonisten Hinweise wie „Ich bin am Leben und ihr seid alle tot“. Nicht  unbedingt vertrauenserweckend, aber klassischer Dick. Nichts ist real, alles ist möglich. Dazu kommt Dicks teilweise subversiver Humor, immer an der Grenze zum Slapstick, aber pointiert und niemals kindisch.  „Ubik“ präsentiert eine irre und gleichzeitig auch georndnete Welt, in der alles hinterfragt werden kann und auch sollte. Experimentell, provozierend und ungemein unterhaltend ist „Ubik“ vielleicht nicht der ideale Punkt, um seine persönliche Dick Obsession zu beginnen. „Ubik“ ist aber einer der Höhepunkte auf der Lesereise durch Dicks immer noch oder vielleicht in der Gegenwart noch mehr  faszinierenden Welten.       

Ubik: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 4. Auflage, Neuausgabe (25. September 2014)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 224 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3596905699
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596905690
  • Originaltitel ‏ : ‎ Ubik