Streifzüge

Angela und Karlheinz Steinmüller

Sechzehn Artikel und Vorträge aus vierzig Jahren Arbeit stellen zweihundert Jahre der Science Fiction vor. Bis auf das exklusive geschriebene Vorwort handelt es sich bei den im ersten Essay Band der Steinmüller Werkausgabe gesammelten Artikel um teilweise grundlegend überarbeitete Nachdrucke.

Angela und Karlheinz Steinmüller versuchen nicht die Quadratur des Kreises und wollen die wissenschaftliche Betrachtung des Genres neu erfinden. Es ist vielmehr so, dass die beiden Autoren in einem sympathischen, teilweise humorvollen Stil die markanten Steine noch einmal umdrehen und sie aus einer anderen, teilweise verblüffend simplen, aber sehr effektiven Perspektive betrachten.

Schon beim ersten Artikel „Die Geburt der Science Fiction aus dem Geist des 19. Jahrhunderts“ kommt diese Vorgehensweise effektiv zur Geltung. Auf Seite 16 werden die Prämissen herausgestellt, nach denen sie sich zu den Wurzeln des Genres hinab graben und definieren, ab wann von einer Science Fiction bzw. dem Vorläufer-  ein utopischer Roman - gesprochen werden kann. Damit entfällt die ganze Ahnengalerie bis in die Antike. Die Steinmüllers ignorieren die phantastischen Ansätze in früheren Werken nicht, sie ordnen sie nur anderen Kategorien zu. Neben dem „unaufhaltsamen Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Industrie“ ist die „Evolution des Lebens auf der Erde und der menschlichen Gesellschaft“ wichtig. Ein abschließendes Kriterium ist „die Vielzahl der bewohnten Welten“.  Mit diesen Prämissen stellen die beiden Autoren eine Reihe von interessanten, teilweise unbekannten phantastischen Werken vor. Die Inhalte werden kurz und prägnant zusammengefasst. Alle Arbeiten sind in ihrem historischen und nicht selten auch sozialen Kontext eingebettet. Dabei scheuen die Steinmüller auch nicht begründete und dadurch berechtigte Kritik.

Der zweite Artikel „Von Megapatagonien nach Ikarien- die französischen utopischen Voyages Imaginaires“ sind nach dem gleichen Prinzip geschrieben. Angela und Karlheinz Steinmüller unterscheiden dabei noch zwischen den Reiseromanen bis Jules Vernes und den Robinsonaden, bei denen Gestrandete die Fesseln der Zivilisation abstreifen und utopisch perfekte Gesellschaften in der Isolation gründen. Auch hier stehen zahlreiche Beispiele im Mittelpunkt des lebendigen Artikels. Die Steinmüllers gehen auf die Autoren ein. Dabei handelt es sich überwiegend um im Exil lebende Franzosen, die ihrer manchmal auch sehr erotischen Phantasie im Ausland freien Lauf lassen. Erst mit Jules Verne zog die Technik in die Voyages Imaginaires ein. Vielleicht auch eine gewisse Disziplin, aber einige der hier vorgestellten Werken reizen lektüretechnisch und findet zumindest im Frankreich, mit großen Einschränkungen auch in Deutschland, eine neue Lesegeneration.

„Der erste letzte Mensch“ setzt sich nicht nur mit Cousin de Grainvilles einzigem „Le Dernier Homme“ auseinander, sondern die Steinmüllers nutzen diese Geschichte vom letzten Menschen als Sprungbrett, um sich mit dem vor allem Ende des 17. Und Anfang des 18. Jahrhunderts blühende Subgenre der Vernichtung der Menschheit zu beschäftigen. Mary Shelleys Roman „The Last Man“ wird genauso gestreift wie einige eher obskure Werke. Die Steinmüllers lösen dabei die Arbeiten nicht aus ihrem historischen Kontext und versuchen Beziehungen zwischen den geschichtlichen Ereignissen und den Intentionen der jeweiligen Autoren zu ziehen. Wie in allen anderen in dieser Sammlung vereinten Artikeln versuchen Angela und Karlheinz Steinmüller einen möglichst breiten Überblick über die jeweiligen Subgenres zu geben und stellen auch seltene, heute nicht mehr erhältliche Werke zumindest einführend, aber nicht oberflächlich vor.    

Mit den nächsten beiden Artikeln gehen die Steinmüller quasi seitwärts in der Science Fiction Geschichte, „Die italienische Mondexpedition von 1836“ beschreibt auf neudeutsch den Moon Hoax in zwei Variationen. Sensationsgierig haben die New Yorker Zeitungen die potentiellen Leistungen eines neu entwickelten Teleskop phantasievoll zu einer optischen Reise zum Mond dank der neuen neuen Technik umgeschrieben. Sehr zum Leidwesen Edgar Allan Poes, aber auch des betroffenen Forschers. Die Italiener legen mit einer wahren Reise zum Mond mittels Heißluftballon sogar noch einen Grad der Übertreibung drauf. Das schöne an den hier zusammengestellten Artikeln ist der auch drucktechnisch zufrieden stellende Abdruck der Stiche und Graphiken, welche neben den abenteuerlichen Texten die Phantasie der Leser beflügelten.

 Auch „Die dampfgetriebene Antiutopie“ ist weniger der Vorläufer des Steampunks, den die Steinmüller pointiert heraufbeschwören, sondern das Bindeglied zwischen den utopischen Geschichten und der Science Fiction. Ausführlich geht der Autor auf Emile Souvestres Satire ein. Die Eisenbahn als Katalysator grenzenloser Phantasie wird erst im nächsten Kapitel eine wichtige Rolle spielen, aber dank der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem neu heute humorigen Werk wird die Neugierde des Lesers geweckt. Lebhafter als einige der belehrenden utopischen Stoffe ist Souvestre auf jeden Fall. Das Thema Eisenbahn als Inspiration für die Reisen ins All nehmen die Steinmüllers noch einmal im nächsten Artikel auf. Beide Arbeiten sind ursprünglich unabhängig voneinander erschienen, so dass es auch in den überarbeiteten Fassungen zu Überschneidungen kommt. Allerdings ziehen die Autoren inhaltlich eher thematische Kreise, in deren Mittelpunkt das jeweilige Schwerpunktthema beheimatet ist. So werden nicht die gleichen Fakten im gleichen Kontext präsentiert, sondern bilden Mosaiksteine eines anderen Gedankengebäudes.

 Mit den “Scientific Detectives” kommen die Texte endgültig im 20. Jahrhundert an. An Hand einer heute vergessenen, aber damals besonders populären auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Detektivserie lassen die Steinmüller ihre Gedanken von Sherlock Holmes bzw. Edgar Allan Poe als erste markante Eckpfeiler der modernen Kriminalgeschichte zu Arthur B. Reeves Craig Kennedy Geschichte und Hugo Gernsback schweifen. Während sich die Menschheit in den Schrecken des Ersten Weltkriegs technisch stetig weiterentwickelt, aber nichts gelernt hat, löste den wissenschaftlichen Detektiv ausgerechnet der Hard Boiled Schnüffler in Tradition Chandlers/ Hammett ab, der pragmatisch dogmatisch die menschlichen Abgründe nicht selten im Moloch Großstadt ans Tageslicht brachte.

 Robert Krafts utopische Romane „Die Nihilit Expedition“ und „Die neue Erde“ werden von den Steinmüllers für eine Jubiläumsschrift zum 150. Geburtstag Krafts ausführlich vorgestellt. Dabei versuchen die Autoren die beiden Romane nicht nur in den Gesamtkontext von Krafts umfangreichen Werk einzugliedern und zeigen auf, das bei „Die neue Erde“ der zweite Teil der Geschichte aus der Romansammlung „Aus dem Reich der Phantasie“ entnommen worden ist. Auf der anderen Seite zeigen die Steinmüllers auf, dass - dank der Mithilfe von Thomas Braatz - zumindest Robert Krafts abschließend nicht realisierte Future History“ mit mindestens vier weiteren Fortsetzungen zu „Die neue Erde“ lange von den einschlägigen SF Autoren  eine pessimistische wie politisch pragmatische Zukunftschronik dargestellt hätte, welche den Kolportageautoren in der Riege der kaiserlich wilhelminischen Phantasten etabliert hätte.  Die Steinmüllers gehen ausführlich nicht nur auf die beiden Robert Kraft Romane aus, sondern versuchen Verbindungen zu anderen utopischen Werken zu ziehen, von denen der Leipziger Autor einige gekannt haben könnte, nicht aber zwingend gekannt haben muss.   .      

Olaf Stapledon ist der Mittler zwischen der teilweise philosophischen Utopie des 19. Jahrhunderts und dem Weitblick des 20. Jahrhunderts. Wie die Steinmüllers in ihrem Essay “Interplanetary Man” herausarbeiten, was Olaf Stapledon in Vielem selbst dem populären H.G. Wells weit voraus. Neben einer ausführlichen Vorstellung von vor allem “Die ersten und die letzten Menschen” zeichnen die Autoren ein solides lebendiges Portrait Olaf Stapledons, wobei sie in ihrer teilweise ironischen Art den Philosophen auch erden. 

Die Raumfahrt ist die Antriebsfeder der Science Fiction.  Die Steinmüller folgen zwar diesem Credo in “Einmal Raketenantrieb und zurück”, aber sie stellen auch fest, dass aus der Utopie technische  Realität geworden ist, um dann dank der Autoren wieder zu einer Vision, zu einer Utopie hinsichtlich der physikalischen  Grenzen des Machbaren zu werden. Die wichtigsten frühen SF Autoren werden mit ihren Werken genauso vorgestellt wie die ersten vorsichtigen Schritte bei der Entwicklung einer nutzbaren Raketentechnologie. Im Mittelpunkt des kurzweilig zu lesenden, aber keine neuen Aspekte ans Tageslicht fördernden Essays steht das gegenseitige Befruchten von Autoren und Wissenschaftlern/ Technikern.      

 „Der Rückblick auf das Atomzeitalter“ ist gleichzeitig ein Blick zurück in die Zeit der DDR SF und den in Westdeutschland veröffentlichten Büchern.  Ironisch nennen die Steinmüller die DDR SF den utopischen Betriebsroman, in dessen Mittelpunkt ein positiver Realismus und aus diesem Grund auch eine friedliche Nutzung der Atomenergie stehen. In Deutschland erschienen eine Reihe von warnenden Beispielen, welche die schrecklichen Folgen eines Atomkrieges drastisch auf jede metaphorische Wand malten. Neben einer Reihe von Beispielen integrieren die beiden Autoren auch die historischen wie technischen Entwicklungen, um ein abgerundetes Bild dieses Subgenres nachzuzeichnen.

 Neben Olaf Stapledon ist Cordwainer Smith der einzige Autor, dessen allerdings sehr schmales Gesamtwerk in den hier gesammelten Essays ausführlicher, aber irgendwie auch nicht ausführlich genug betrachtet wird. Die Steinmüllers gehen nicht nur auf den Hintergrund des unter mehreren Pseudonymen veröffentlichenden Linebarger ein, sondern spekulieren, ob sein persönlicher Fall Grundlage eines sehr populären Sachbuchs ist.

 Beim umfangreichen Werk der Strugatzkis gehen die Steinmüller vor allem auf die drei Romane aus der Zeit ihrer literarischen Verbannung innerhalb der sowjetischen Literatur ein: „Picknick am Wegesrand“, „Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang“ und „Das Experiment“. Neben einer ausführlichen Auseinandersetzung nicht nur mit den Romanen per se, sondern der Ironie und dem ätzenden Sarkasmus der Brüder gegenüber der Sowjetunion versuchen die Steinmüller auch die Reaktionen im „Ausland“ –  zumindest zwei Bücher konnten im Gegensatz zur Sowjetunion ungekürzt in der ehemaligen DDR erscheinen – ein. Mehrere Ausgaben von „Quarber Merkur“ haben sich ausführlich mit den Strugatzkis in dieser Zeit auseinandergesetzt. Die Steinmüllers liefern eher eine literarische Reaktion aus der ersten Hand eines Lesers und weniger eines Gelehrten.

Das älteste, inhaltlich aber nicht unbedingt notwendigerweise technisch überarbeitete Essay stammt aus den frühen achtziger Jahren und setzt sich mit Stanislaw Lems, aber auch der Idee einer frühen künstlichen Intelligenz noch in Form des klassischen Computers auseinander. Auch wenn die Steinmüllers einige Fußnoten ihrem Essay hinzugefügt haben, um zeitliche Unterschiede zwischen der Gegenwart und dem Jahr 1981 ein wenig zu erläutern, ist es verblüffend, wie weit sich die Technik zwar entwickelt hat, aber die Grundlagen des gesunden Menschenverstandes bei der Betrachtung der Problem und daraus eine gewisse Ableitung von möglichen Folgen „gleich“ geblieben sind. Solange die Autoren wissenschaftlich korrekt und nicht quer denkend an die Thematik herantreten.     

 Auf den ersten Blick erscheint eine Betrachtung der Original Star Trek Serie aus der Perspektive einer perfekten sozialistischen Utopie absurd. Aber in diesem lesenswerten Essay gelingt es den Autoren, tatsächlich Vergleiche zwischen Captain Kirks Abenteuern zwischen den Sternen, den auf Raumschiffen weit abseits der heimischen Planwirtschaft spielenden Science Fiction Romanen aus der DDR und schließlich den politischen Vorstellungen der DDR Führung zu ziehen. Was auf den ersten Blick konträr erscheint, wird dank der guten „Beweisführung“ in diesem lesenswerten, wie auch humorvollen Artikel, solide und nicht provokativ aufgeschlüsselt.

 Im letzten Essay setzen sich die Steinmüllers mit den wenigen Büchern auseinander, in welchen die DDR als Gesellschaft die Wende nicht durchleben musste oder die heruntergewirtschaftete BRD sich einer aufblühenden DDR angeschlossen hat. Es handelt sich um weniger als eine Handvoll Romane und einzelne Kurzgeschichten. Das ermöglicht es den Steinmüller, ausführlicher auf die Texte einzugehen und verschiedene Aspekte gegenüberzustellen. Wie bei allen Essay ist der zugrunde liegende Ton humorvoll und der Leser glaubt keinen Augenblick, dass die Autoren in einer dieser utopischen Welten leben wollen.

 „Streifzüge“ mit seinen Essays zu zweihundert Jahren Science Fiction und angesichts der Argumentationsketten auch weit drüber hinaus, ist eine lesenswerte Sammlung von gut geschriebenen Artikeln und Vorträgen, in denen die Steinmüllers sich nicht selten bekannten Themen aus einer anderen, nicht einmal ungewöhnlichen, aber nicht vertrauten Perspektive nähern und neue Ideen/ Ansätze entwickeln, über die der Leser nachdenken kann. Auch nachdenken sollte. Das macht den Reiz der immer mit einem humorvollen Unterton geschriebenen Artikel aus. Hinzu kommen zahlreiche Illustrationen und meistens auch eine Zeittafel, um das bislang Gelesene noch einmal visuell zusammenzufassen. 



Originalausgabe
Klappenbroschur | 367 Seiten | € 22,90
ISBN 978-3-948616-58-8

Memoranda Verlag

E-Book | ca. 367 Seiten
ISBN 978-3-948616-59-5

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