The Magazine of Fantasy & Science Fiction 07/08 2022

Sheree Renee Thomas (Hrsg.)

Herausgeberin Sheree Renee Thomas macht in ihrem Vorwort klar, dass es bei der Sommerausgabe 2022 vor allem um Träume, aber auch Alpträume geht. Um Magie, die niemals ganz verschwindet, aber an  die sich die meisten Menschen aus den verklärten Positionen des Erwachsenen fast sehnsüchtig zurückerinnern.

Neben drei längeren Storys finden sich eine Reihe von Kurzgeschichten in dieser Sammlung. Das Spektrum ist wie erwähnt in erster Linie phantastisch. Selbst Geschichten, die auf einer Science Fiction Grundlage basieren, wirken eher „magisch“ und „mystisch“.

Rudi Dornemann eröffnet mit dem längsten Titel „Starblind, Booklost and Hearing the Songs oft he true Blind“ die Ausgabe. Vitalius soll auf Wunsch seines Freundes Osier wieder das Fest der Neun initiieren. Ein Spektakel, das seit vielen Jahrzehnten in der kleinen Ortschaft nicht mehr stattgefunden hat.  Mit dem Festival könnte Vitalius seinen exzentrischen Bruder „retten“, der in einer Hölle in der Nähe der kleinen Stadt gehaust und seltsame Floskeln von sich gegeben hat. Auch wenn die Charaktere solide gezeichnet worden sind, überspannt der Autor den Bogen. Zu viele Ideen wie Spiegelwelten, prophetische Warnungen und das ominöse, aber niemals ausführlich beschriebene Fest wechseln sich ab. Das Ende ist zu offen, viele Fragen werden (absichtlich?) nicht beantwortet und die Geschichte wirkt eher wie ein Rohentwurf zu einer längeren Novelle oder vielleicht sogar einem Roman.

Auch „Mycelium“ von Beth  Goder ist eine der Geschichten, die ausschließlich auf Stimmungen aufbauen und abschließend nicht befriedigen. Ein Pärchen besucht eine kleine Siedlung, die besondere Pilze verschenkt. Ein kleines Mädchen mit der besonderen Fähigkeit, Dinge wieder zu finden, muss dem mystischen Wesen die Geschenke zurückbringen, welche widerrechtlich von der Siedlung „verschenkt“ worden sind. Auch wenn die sehr kurze Story stimmungsvoll geschrieben worden ist, springt der Funke nicht über, weil die grundlegende Handlung zu konstruiert erscheint.

Brians Trents „The Song of Lost Voices“  ist einer der frühen Höhepunkte dieser Ausgabe. Eine archäologische Expedition in der Mongolei sucht nach  im Sand verscharrten mehrere hundert Jahre alte Leichen. Als der Expeditionsleiter zu einem Saufgelage aufbricht, wird das Lager überfallen. Anscheinend ist weder seinem besten Freund noch der Frau, die er heimlich seit vielen Jahren liebt, etwas geschehen. Allerdings kommt es zu seltsamen Vorfällen nicht nur in der Nähe des Lagers, sondern vor allem auch auf einer Baustelle in einer der modernen Großstädte mehrere hundert Meilen entfernt von der Grabungsstelle. Der Bogen spannt sich von einer klassischen  Horrorgeschichte in der Tradition der Mumie mit mystischen wie gefährlichen Kreaturen über lebende Tote bis zu einem möglichen First Contact Szenario. Die Protagonisten sind ausgesprochen gut beschrieben worden. Vielleicht erscheint der Alkoholkranke Expeditionsleiter ein wenig zu wehleidig, aber die verschiedenen Ereignisse werden von Brian Trent ausgesprochen gut und vor allem sehr nuanciert vorbereitet. Das Ende ist pragmatisch, aber zumindest konsequent.

Charlie Hughes präsentiert mit „The Collection” eine klassische Horrorgeschichte. Layla und Geoff vermieten ihr Gästehaus. Die natürlich ersten Gäste sind die Sheldons mit ihrem sich seltsam verhaltenden Sohn Joshua. Anscheinend hört Joshua Geschichten, wobei nicht klar ist, ob er die quasi im Off hört oder sie ihm über seine zahllosen Kopfhörer und damit möglicherweise Aufzeichnungsgeräte ins Ohr gesäuselt werden. Die Geschichten werden nur im Zusammenhang mit Laylas Vergangenheit zu Prophezeiungen, wobei Charlie Hughes nicht klar macht, ob es sich um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung handelt oder die Ausgangsbasis eher zufällig ist. Das Ende einer solchen Story kann nur tragisch sein, wobei insbesondere Layla über sich hinauswachsen muss. Sie muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Das verschiebt den Fokus der Geschichte deutlich. Alle Protagonisten sind überzeugend gezeichnet. Die Atmosphäre ist sehr gut entwickelt. Charlie Hughes hat ein gutes Gefühl, für die jeweils richtigen Stimmungen und der Leser verfolgt das Geschehen ausschließlich auf Augenhöhe. Layla hat zwar Vorahnungen, aber sie stimmen nicht mit ihrer eigenen Erinnerung und vor allem ihrem Weltbild überein, so dass das Finale eine zusätzlich tragische, aber auch durch die Selbstüberwindung positive Note beinhaltet.   

Nick Wolvens „The Garbage Girls“ ist eine faszinierende Geschichte mit Science Fiction Elementen. Vier Mädchen melden sich freiwillig zur Arbeit in einem Flüchtlingscamp am Rande der Stadt. Nicht aus Überzeugung, aber es könnte beiden Collegebewerbungen gut aussehen. Da sie nur einfache Jobs bekommen, nennen sie sich bald die „Garbage“ Mädchen. Noomie mit ihrem Implantat erhält dagegen wichtige Aufgaben, die sie auch mit Enthusiamus erledigt. Die Gruppe der Mädchen sieht neidisch auf die Außenseiterin. Die Konfrontation endet weniger in Klischees, sondern im gegenseitigen Verstehen. Die Implantate als einzige futuristisch technische Idee sind weniger ein  Segen als ein Fluch. Die Zeichnung der jugendlichen Figuren ist ausgesprochen gut. Der Begriff/ Name Noomie wird ambivalent angewandt. Es kann sich um einzelne Mitglieder der Implantatfamilien handeln, aber auch eine höhere Bedeutung haben. Auf die Begriffsfindung geht Nick Wolven leider nicht weiter ein.

Alexandra Mucks „We are flying“ konzentriert sich auf eine Art metaphysische Zeitreise. Der Reisende kann mit Menschen früherer Epochen zwar Kontakt aufnehmen, aber die Wechselwirkungen erscheinen in der hier beschriebenen Form seltsam und traumatisch. Es gibt keinen technischen Hintergrund und der Plot reicht nicht aus, um die Idee wirklich überzeugend zu präsentieren.

Klassische Fantasy ist „The Wild Son“ von Rajeev Prasad, eine der ersten Weird Fiction Geschichten dieser Ausgabe, welche die Herausgeberin in den letzten Monaten in den Vordergrund gestellt hat. In einem Dorf in der Nähe eines Sees sind die Eltern mit besonderen Kindern gesegnet. Deren Gabe ist ein wichtiger Aspekt der Pointe. Eines der Kinder, aus dem Kopf des Vaters entstanden, stellt die kleine Dorfgemeinschaft vor Probleme. Auch wenn die Prämisse seltsam und zu wenig extrapoliert ist, leidet die Geschichte vor allem unter den eindimensionalen Protagonisten. Das Ende ist pragmatisch.

Auch Robert Levys „Ceremonials“ gehört in den Bereich der Wird Fiction.E s geht um eine kleine Gruppe von Mädchen in einem Sommerlager, die einen seltsamen Baum in den Wäldern entdecken. Die Jungen ärgern die Mädchen und eines Nachts schlägt eines der Mädchen mit Hilfge des Baums brutal zurück. Stimmungsvoll mit zufriedenstellend gezeichneten Protagonisten, aber leider einem viel zu schwachen und stereotypen Plot.

James L. Sutters „The Dark at the Edge of the Stage” ist eine klassische gruselige Pointengeschichte, deren Plot leider abgenutzt ist. Ein inzwischen heruntergekommener Musiker findet in einem noch mehr heruntergekommenen Gitarrenladen ein besonderes Schmuckstück. Er kann es nicht kaufen, aber die Besitzer des Laden bitten ihn, darauf zu spielen. Das könnte die Welt verändern. Zu vieles bleibt in dieser Vignette zu vage, als das sie wirklich überzeugen kann.

Ebenfalls im Bereich des Horrors ist „The Monster I Found in Third Grade“ angesiedelt. Paul Tobin beschreibt einen Jungen, der Einfluss über seine Mitschüler und die Lehrerin hat. Anscheinend wird er von einem Schneemonster beeinflusst, dem er die Klassenkameraden und die Lehrerin opfern soll. Die Pointe relativiert allerdings die Prämisse. Gut geschrieben, geradliniger Horror, aber auch ein wenig vorhersehbar. Spätestens für Stephen King Fans.

Zum Abschluss finden sich zwei inhaltlich miteinanderverbundene und doch konträre Geschichten. In „Trapping Fairies“ von Nina Kiriki Hoffmann geht es um das Fangen von Fairies in einem bestimmten Abschnitt ihres Evolutionszyklus, während Nick DiChario seine Serie von neu erzählten italienischen Märchen und Fabeln fortsetzt: „Ciccio and the Wood Sprite“ berichtet von einem naiven Jungen im 16. Oder 17.  Jahrhundert, der einen Wood Sprite befreit und dadurch von dieser mystischen Kreatur einen Wunsch erhält. Allerdings muss er einen besonderen Spruch aufsagen und die ihm geschenkte Bienenkönigin freilassen. Es gibt nur zwei Probleme. Der Junge ist eigentlich wunschlos glücklich und er vergisst immer wieder den Spruch. Das ändert sich natürlich, als die schwarze Pest über das Land zieht.  Beide Geschichten stellen gute Unterhaltung da. Stilistisch extrovertiert, mit einem Augenzwinkern erzählt nehmen sie sich Zeit, die kindlich naiven Protagonisten weiterzuentwickeln und ihren unfreiwilligen Reifeprozess ausführlich zu beschreiben. Die beiden Geschichten bilden einen guten Abschluss dieser märchenhaften Nummer.

Auch wenn der Sommer in den USA immer die Kinozeit ist, gibt es dieses Mal keine Filmkolumne. Neben dem Spiel mit den Zahlen - eine Kolumne, welche die Herausgerberin vor einigen Ausgaben eingeführt hat, finden sich am Ende die Kuriositäten, aber dazwischen jetzt drei Sparten mit Buchrezensionen. Neben dem Dinosaurier Charles de Lint und dieses Mal Michelle West präsentiert Alex Jennings mit “Chapter and Verse” eine Ergänzung zu den klassischen Buchrezensionen. Neben Blicken zur Lyrik sollen unter anderem auch besondere Comics vorgestellt werden. Charles de Lint hat zwar der Graphic Novel immer einen besonderen Platz in seiner Kolumne eingeräumt, der Kanadier ist aber selten in die Tiefe gegangen.   

Im Vergleich zu den letzten, vielleicht zu experimentellen Ausgaben von „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ überzeugt der Juli/ August 2022 deutlich mehr. Der rote Faden ist klar zu erkennen und auch wenn nicht alle Geschichten überdurchschnittlich gut sind, fällt keine in den Bereich der unverständlichen Weird Fiction mit schriftstellerischen Überpathos zurück. Wer gerne die neue Herausgeberin des Magazins testen möchte, macht mit dieser Nummer keinen Fehler.

The Magazine of Fantasy and Science Fiction, July/August 2022 cover - click to view full size

www.sfsite.com

Taschenbuch, 256 Seiten