Wir, Seezigeuner

Robert Kraft

Dieter von Reeken legt mit Robert Krafts Kolportageroman „Wir, Seezigeuner“ sein vielleicht über viele Jahre bekanntestes Werk in vier Hardcover inklusive aller Illustrationen neu auf. Neben einer stark gekürzten Fassung seiner Nibelungen ist „Wir, Seezigeuner“ der einzige Robert Kraft Roman, der zwischen 1964 und 1968 in vier Teilbänden im Rahmen der roten Abenteuerromanreihe des Karl May Verlags neu aufgelegt worden ist.

 

Mit vollständigen Namen „Wir Seezigeuner. Erlebnisse des Steuermanns Richard Jansen aus Danzig“ ist dieser aus zweiundfünfzig Lieferungen bestehende Roman 1907 das erste Mal im Münchmeyer Verlag erschienen. Aus heutiger Sicht ist „Wir Seezigeuner“ in mehrfacher Hinsicht neben seiner Popularität bemerkenswert. Auf der einen Seite enthält die Geschichte eine Vielzahl von autobiographischen Passagen, die Robert Kraft aber auf mehrere Personen verteilt. So hat Richard Jansen während der Liegezeiten im Hafen neben den Steuermannspatent auch sehr viel klassische Literatur goutiert. Wie Robert Kraft während seine Marinezeit in Wilhelmshaven. Der Zigeunerjunge mit seinem Pudel ist noch als Heranwachsender von zu Hause abgehauen, hat dabei ein wenig Geld vom Vater aktiv geliehen und sich die nautischen Kenntnisse selbst beigebracht. Fünf Jahre vor „Wir, Seezigeuner“ hat Robert Kraft mit „Erlebnisse eines dreizehnjährigen Knaben bis zum Jünglingsalter auf seinen Seereisen“ einen ersten autobiographisch gefärbten Roman veröffnet. Viel interessanter ist der Bogenschlag zu dem fünf Jahre später publizierten, ebenfalls im Verlag Dieter von Reeken neu aufgelegten Kolportagewerk „Das Gauklerschiff“.

 Beide Romane sind überwiegend auch der Ich- Perspektive eines deutlich älteren Erzählers niedergeschrieben worden. In „Wir, Seezigeuner“ macht Robert Kraft im offenen Rahmen deutlich, dass Richard Jansen ein vom Leben gezeichneter, im Grunde sich in die Isolation des eigens für ihn gebauten Leuchtturms zurückgezogen hat, um seine auch von Schuldgefühlen geprägten Erinnerungen niederzuschreiben. Damit greift Robert Kraft wie in vielen seiner anderen Werke auf der einen Seite nicht nur während des Rahmens voraus – immer wieder gibt es Andeutungen, dass dunkle Schicksalsschläge, Herausforderungen und schließlich auch „Verbrechen“ Richard Jansens Weg begleiten werden -, sondern distanziert den Leser von der 1859 beginnenden Handlung.

 Im letzten Abschnitt von „Das Gauklerschiff“ wechselt die Perspektive und ein neues Besatzungsmitglied beginnt die Ereignisse zusammenzufassen. In „Wir, Seezigeuner“ macht Robert Kraft durch die direkte Ansprache seiner Leser klar, das auch andere Berichte in Richard Jansens Erinnerungen eingeflossen sind, es aber zu keinen Doppelungen kommt. 

 Während in „Das Gauklerschiff“ der Ich- Erzähler aus Seenot gerettet wird und mit staunenden Augen das bunte Leben an Bord des von einer reichen Witwe gekauften ehemaligen Kriegsschiffs verfolgt, ist es ein wilder Ochse, der Richard Jansen während eines Hafenstreiks in die Arme der reichen, aber durch ihre Erbschaftsverträge auch geknebelten Witwe Lady Blodwen von Leytenstone treibt. Diese sieht in dem ein wenig arroganten und selbst verliebten Mann zwar nicht die Lösung ihrer Probleme, aber zumindest einen vertrauenswürdigen Gefährten und später Geliebten. Dann aufgrund der Knebelungen des Testaments, das ihr den Zugriff auf das eigene, von der Familie erwirtschaftete Vermögen verweigert, darf sie nicht mehr heiraten. Und für einen echten Seemann, Steuermann und späteren Kapitän gibt es sowieso nur eine Braut – das Meer. Eine ideale, für die damalige Zeit freizügige Kombination von Geld und ehrlichen, wie deutschen Pioniergeist. Das Verhältnis zwischen dem auf das Gauklerschiff geretteten Seemann und seiner Patronin ist deutlich platonischer, die Frau auch älter und nicht vertraglich geknebelt, aber Robert Kraft entwickelt die in „Wir, Seezigeuner“ angedeuteten Strukturen in einer interessante Richtung in „Das Gauklerschiff“ weiter.

 Eine Lücke gibt es im Vertragswerk. Lady Blodwen muss alle 4 Monate auf englischem Monat ihre Auszahlung der Zinsen entgegennehmen. Und was ist englischer, als ein Schiff unter der britischen Flagge?  Überall auf der Welt öffnen sich durch diese Kombination mannigfaltige Möglichkeit und Richard Jansen bekommt sein eigenes Schiff, nachdem er eine Reihe von Prüfungen wie Ehrlichkeit, Standfestigkeit und schließlich auch noch Mut vor dem Übernatürlich positiv überstanden hat. Diese Lücke im Vertragswerk hat auch ihre Klippen, wie Lady Blodwen aufgrund einer Anklage in Großbritannien wegen Körperverletzung erkennen muss. Es gibt in London Kräfte, welche sie im eigenen Land sehen und Richard Jansens Ruf vernichtet sehen wollen.  

 Während in „Das Gauklerschiff“ ist stetig wachsende Zahl von akrobatischen oder schauspielerisch begabten deutschen Matrosen die Welt bereist und für den guten Zweck Aufführungen initiiert, wollen die Seezigeuner sich anfänglich ohne Ziel treiben lassen. Das Meer soll ihre Schatzkammer werden, ein Teil des von der englischen Bank abgehobenen Angesparten an gekennzeichneten Stellen versenkt werden. Ein Ziel erhalten sie erst, als sie den angesprochenen Zigeunerjungen mit seinem dressierten Pudel aus Seenot retten. Mit dem kleinen intelligenten deutschen Zigeuner beginnt sich auch die Handlung aufzuspalten. Während dieser Junge buchstäblich von einem Erfolg zum Nächsten eilt, wird die Welt Lady Blodwens und Richard Jansens buchstäblich zerstört.

 Ausgangspunkt ist das Kapern eines alten Segelschiffs zeitgleich mit einem Amerikaner. Richard Jansen verschafft sich die Prise nicht nur mit einem alten Mann, dem Klabautermann, an Bord, sondern im Schiffsinneren befindet sich ein wertvolles Pergament. Ein Sklave, der sich wegen eines Gelübdes unbedingt selbst verkaufen will, führt auf die Spur eines geheimnisvollen Mannes, der sich sein Schiff in einer nächtlichen Aktion wiederholt. In den folgenden Wochen hat die Mannschaft inklusive ihres Kapitäns und Lady Blodwen nur Pech. Der Feind sitzt in ihrem innersten Kreis und immer einen Schritt schneller. Er stiehlt Geld und das Pergament, er plündert die Verstecke unter Wasser und denunziert Richard Jansen, so dass dieser keine Fracht übernehmen kann. Das ihre unversicherte, aber gerade im Bezahlen begriffene Fracht ein Raub der Flammen wird, ist der Gipfel ihrer Pechsträhne.

 Der Zigeunerjunge tauscht nicht nur geschickt altes mechanisches Blechspielzeug gegen Schmuckstücke im afrikanischen Liberia. Er heuert aus Berliner Lausbuben eine jugendliche Mannschaft an und kauft schließlich sogar eine Insel mit einem Leuchtturm. Robert Kraft geht in seiner Geschichte allerdings nicht chronologisch vor. In der einen Szene etabliert der Zigeunerjunge auf seiner Leuchtturminsel im Grunde eine neue Kolonie mit Jahressklaven, die ihm ein gigantisches Haus bauen. Dann schlägt der Autor den Bogen zurück zu einem frühen Husarenstück in einem Waisenhaus, wo die zukünftige Crew der Berliner Lausbuben quasi unter den Augen des mit Opium betäubten Lehrers entführt wird.   

 Der Tonfall dieser beiden parallel laufenden Handlungsstränge ist unterschiedlich. Zwar verweist Robert Kraft immer wieder auf die fehlende Geschäftstüchtigkeit des Jungen, aber das scheint mit den richtigen „Paten“ niemanden zu stören. Kurz bevor Lady Blodwen willens ist, nach England zurückzukehren und sich der Anklage zu stellen, laufen die beiden Handlungsstränge wieder durch einen Zufall zusammen.

 Technisch scheint Robert Kraft eher zu experimentieren. Auf der einen Seite baut er zumindest in der Theorie Richard Jansens und Lady Blodwens perfekte, wie auf der Meer freie Welt minutiös, detailliert und in sich logisch auf, um sie dann durch einen jüdischen Arzt innerhalb weniger Seiten wieder zu zerstören. Getrieben von langen, fast gestelzten Dialogen sind es nicht die ersten Figuren, die Robert Kraft in seinen Kolportageromanen in die Enge getrieben hat. Auch bei „Das Gauklerschiff“ litt die reiche Patronin zur See stellenweise aufgrund falscher Meldungen unter monetären Engpässen oder der verzweifelte Vater in „Das zweite Gesicht“ wurde von einem Erdteil zum Nächsten getrieben, um seine Tochter zu suchen. Auch er litt unter beschränkten finanziellen Mitteln. Robert Krafts „Vestallinen“ mussten sich in seinem ersten großen Lieferungsroman nicht nur den Vorurteilen der Männer stellen, immer wieder sah man in den Frauen an Bord eines Segelschiffs willige Opfer umfangreicher Betrügereien. Daher wirkt die Demontage Richard Jansens und Lady Blodwens wenig überrascht. Alleine der Zeitpunkt ist relativ früh in dem umfangreichen Roman gesetzt und einige „überraschende“ Sequenzen wirken so konstruiert, das der altkluge Jansen viel früher auf einen möglichen Gegenspieler in den eigenen Reihen hätten kommen können.   

 Die Idee des „Gauklerschiffs“ hat Robert Kraft aber schon einige Jahre vor diesem Kolportageromane nicht losgelassen. So ist eines der ersten Aufträge, welche die „Sturmbraut“ für ihren neuen Charterkapitän übernehmen soll, die Akquisition einer Reihe von Artisten und Freaks, welche auf die Leuchtturminsel auswandern und dort ein neues, freies Leben beginnen sollen. Vorstellungen finden zwar nicht an Bord der „Sturmbraut“ statt, aber der Leser kann schon erkennen, dass Robert Kraft das Thema Freude gemacht hat.

 Neben dieser einzigartigen Mission beginnt der Autor in der zweiten Hälfte der Lieferungen mit einem langen Handlungsabschnitt, in welchen neben der weiteren Faszination für Indien und deren Herrscher eine klassische Robinsonade einfliesst. Auch wenn Robert Kraft immer wieder als sprunghafter Autor mit einem Hang zur Improvisation und dem Vergessen von roten Fäden beschrieben wird, zeigt sich auf der anderen Seite, dass er sehr gut komplexe Plots mit Dutzenden von Protagonisten, aber auch den verschiedenen Handlungsebenen zusammenhalten und immer wieder zusammenführen konnte. Wenn er die Zeit und die Geduld und vor allem auch die Muße hatte.

 So soll die Sturmbraut einen neuen Erdteil entdecken. In der Fucusbank – eine gigantische grüne Wüste mitten im Meer – der Sargassosee soll es Land geben. Der Zigeunerjunge hat vor Jahren ein Gespräch heimlich mit angehört. Das Dokument, das Richard Jansen vom Klabautermannschiff bergen konnte und das ihm gestohlen worden ist, deutet aus einer anderen Perspektive ebenfalls diese Möglichkeit an. Fünfmal größer als Deutschland könnte dieses schwer zu erreichende Land sein. Und Reichtümer abseits von Edelsteinen und Gold soll es besitzen. So gewinnt Richard Jansen in aussichtsloser Situation einen Partner und macht sich mit seinem Schiff auf, dieses geheimnisvolle Land zu suchen. Dabei begegnen sie nicht nur einem weiteren Wrack, sondern verlieren ihr Schiff und Richard Jansen gewinnt ein Kind. Das hört sich teilweise ein wenig kitschig an und das Sinken eines Schiffes ist bei Robert Kraft niemals ein endgültiger Verlust – solche Szenen finden sich in allen seinen Seeromanen nicht nur einmal, sondern mehrmals - , aber der Spannungsbogen inklusive der Hommage an den schon an anderer Stelle zitierten „Robinson Crusoe“ wie auch in einer anderen Passage an Schillers „Taucher“ wird solide und effektiv entwickelt. Die Rettung kommt zwar aus dem Nichts heraus, aber auch hier hat der Autor die Wurzeln schon weit im voraus ausgelegt. Eine selbstverständliche wie menschliche Rettung in einem Hafen vor einiger Zeit öffnet den Weg nicht zurück, sondern in ein neues, technisches „Wunderland“.

 Im Fucusmeer – aus dem getrockneten Seetang wird ja schließlich Humus – leben Menschen. Auch die Gestrandeten der Sturmbraut können sich einige Zeit selbst versorgen, bevor die geplante Rettung erscheint. Geplant, weil Robert Kraft in den letzten Lieferungen des ersten Bandes gleich mehrere neue Ideen einführt. Neben einem Alchimisten und damit dem Hinweis auf das Okkulte oder dem besonderen Drink, der nach dem Rezept der Großmutter das Wachstum verhindert, ist es vor allem der angesprochene schwimmende Palast – dessen Geschichte mischt wie später ausgeführt munter Fakten und Fiktion zusammen -, der mit seinem indischen Herrscher fasziniert. Eine gigantische schwimmende Stadt, jederzeit auslauffähig, aber ohne ausgebildete Besatzung und auf der Suche nach dem Kapitän, welcher das Schiff nicht nur aus dem Fucusmeer befreit, sondern nach Indien steuert. In einem seiner ersten Lieferungsroman „Um die indische Kaiserkrone“ hat sich Robert Kraft mit Indien, seiner magisch chaotischen Lebensweise und dieser Mischung aus Reichtum und Dekadenz ausführlich beschäftigt. An Bord des gigantischen Schiffes wird dieser Schmelztiegel zu einer kontinuierlichen Versuchung, welche insbesondere auch europäische Seemänner wie ein erotisch exotischer Moloch verschlingt. Der Ich – Erzähler ist noch am Zweifeln, ob er wirklich nach seinen kauf- und seemännischen Fehleinschätzungen der richtige Mann für diese Mission ist, zumal er ja beim Zigeunerjungen auch in Lohn und Brot steht. Aber diese Bedenken werden von Robert Kraft erst einmal zur Seite geschoben. Nach den bisherigen bodenständig nautischen Abenteuern beginnt sich nicht nur auf der Leuchtturminsel mit der neuen aus Freaks bestehenden Bevölkerung, sondern auf der „Stern von Indien“ – wie das Schiff übersetzt heißt – im Fahrwasser der mittels „Magie“ geborenen Sturmbraut zwei interessante neue Handlungsschwerpunkte auszubilden.  

 Robert Kraft sieht sich immer als ein literarischer Autor, der seine Leser mit seinen spannenden Geschichten fesseln möchte, aber auch Hintergrundinformationen liefert. Dabei reicht das Spektrum von Hinweisen auf „Robinson Crusoe“ über Schillers „Taucher“ bis zur „Great Eastern“, dem lange Zeit größten Schiff der Welt. Hier zeigt sich aber auch, das Robert Kraft nicht seine Geschichten der Realität, sondern die Realität seinen Geschichten anpasst. Es gab keinen ersten „Versuch“ bei der „Great Eastern“, welche die ersten Jahre noch als Unglücksrabe „Leviathan“ über die Meere gekrochen ist. Aber für seine Geschichte braucht Robert Kraft einen ersten Schiffsruf, der ausgeschlachtet und jetzt für einen indischen Prinzen recycelt worden ist. Also baut der Autor die Fakten so um, dass sie zu seiner Geschichte passen. Vielleicht macht es sich Robert Kraft nicht nur an dieser Stelle zu einfach, aber angesichts der Komplexität seiner Kolportagearbeiten und vor allem der Vielzahl technischer Ideen sind diese Geschichtsbiegungen zu verschmerzen.         

 „Wir Seezigeuner“  beginnt stringenter als eine Reihe anderer Kolportageromane aus Robert Krafts Feder. Das Spektrum ist weiterhin extrem breit, die Welt das Zuhause des allgegenwärtigen, aber bei weitem nicht so überlegen wirkenden Ich- Erzählers im Hause Kraft. Während „Das Gauklerschiff“ gleich zwei Missionen an den Beginn der Geschichte stellen wird – einmal das Schiff per se, dann aber auch die Suche nach dem Schatz – treibt die Handlung von „Wir, Seezigeuner“ wie auch von den Protagonisten dargestellt mehr mit dem Wind und den Wellen daher. Eine Reihe von exotischen Protagonisten werden eingeführt und Robert Kraft legt einige zukünftige Herausforderungen und Gefahren vor allem über seine Antagonisten wie den jüdischen Schiffsarzt, den indischen Herrscher und als ambivalente Figur auch den Zigeunerjungen mit seinen übertriebenen wirkenden Handlungen; seinem sprichwörtlichen Glück und vor allem auch seiner Kaltschnäuzigkeit an. Auch wenn Robert Kraft immer wieder betont, das Seefahrt ein hartes Brot ist und immer Gefahren lauern, wirken die ersten hier zusammengefassten Lieferungen eher wie eine verklärte, aber auch verträumte Seefahrerromantik vor allem für ein jugendlicheres Publikum als bei einigen anderen von Robert Krafts Kolportageromanen.   

Wir Seezigeuner
Die Erlebnisse des Steuermanns Richard Jansen aus Danzig. Nach seinen Aufzeichnungen bearbeitet.
Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung (Hardcover) des erstmals 1907 in 52 Lieferungen zu je 62–72 Seiten (= 3.342 Seiten) erschienenen mit 164 Graustufenbildern von Adolf Wald illustrierten Lieferungsromans in 4 Bänden.
Je Band ca. 540 Seiten, je 37–48 Abb., je Band 35,00 €
Band 1 (Kapitel 1–43), 540 S., 48 Illustrationen

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