Exodus 40

Moreau, Wipperfuerth und Kugler

« Exodus 40 » ist der erste Band einer einzigartigen „Trilogie“ von Magazinen, die im ersten Corona Jahr im Schatten der abgesagten Marsexpeditionen erschienen ist. Ursprünglich planten die Herausgeber einen erweiterten Umfang, doch es erreichten sie so viele Mars Geschichten von überdurchschnittlicher Qualität, dass aus einem erweiterten Exodus eine zweigeteilte Ausgabe geworden ist. Beide Teile erschienen zeitgleich. Parallel haben die Herausgeber des auf sekundärliterarische Themen konzentrierten Magazine „!Time Machine“ an einer besonderen „Mars“ Ausgabe gearbeitet, die sich mit zahlreichen Kurzgeschichten und Science Fiction Romanen auf und um den roten Planeten beschäftigten.

 Neben einigen „Mars“ Zitaten unter anderem von Ray Bradbury finden sich insgesamt dreizehn Kurzgeschichten, aufgeteilt in fünf Themenblöcken in dieser Ausgabe.

 Den Auftakt macht natürlich „Die Reise zum Mars“. Uwe Hermann, Andreas Eschbach und Roman Schleifer verzichten in ihren drei Geschichten auf die umständlichen Reisevorbereitungen, auf die endlosen Tagen im All. Ihre jeweiligen Protagonisten sind auf dem roten Planeten angekommen und werden mit unterschiedlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Bei Uwe Hermanns „Der letzte der Ersten“ werden keine Menschen ins All geschickt, sondern teilweise mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter. Sie sollen die Landung der Menschen vorbereiten. Zumindest glauben sie es. Das Raumschiff stürzt ab, ein großer Teil der Ausrüstung ist beschädigt, die Mission im Grunde gescheitert. 04-1 beginnt über sich hinaus zu wachsen und gegen alle mathematischen Berechnungen die Initiative zu ergreifen. Teilweise gegen auch den körperlichen Widerstand der anderen Roboter. 04-1 gelingt die Etablierung der Infrastruktur, der entsprechende Aufbau der Produktionsanlagen und die Erschaffung neuer Maschinengenerationen. Allerdings hofft der immer leistungsschwächer werdende 04-1 noch auf die Erfüllung seines Traums, die Ankunft der Menschen. Mit einer Kombination aus Rückblenden, Monologen und schließlich einem Perspektivwechsel erzählt Uwe Hermann diese simple, im Grunde so zutiefst menschliche Geschichte von Maschinen, die stoisch nicht aufgeben wollen und sich gegen alle Wahrscheinlichkeit durchsetzen. Das Ende ist konsequent, ein wenig am Rande des kitschigen Pathos, aber unterstreicht, wie gut die künstlichen Intelligenzen sich auch im positiven Sinne an den Menschen orientierend entwickeln können.

 Andreas Eschbachs „Mars one Way“ ist eine Mediensatire. Sieben Menschen leben auf in einer Art „Big Brother“ auf dem Mars. Sie filmen ihr Leben, lassen die zahlreichen Zuschauer in ihre emotionalen Abgründe schauen. Sponsor sind die großen globalen Technikunternehmen. Nur wird so etwas irgendwann langweilig. Kurz vor Erreichen des Jahrestags droht die Absetzung des Programms und damit auch die Einstellung der Versorgung. Die Reise zum Mars war anscheinend von Beginn an als Einbahnstraße geplant.  Die Insassen im Container sehen nur eine Möglichkeit, das Interesse nicht nur der Öffentlichkeit zu entwickeln. Pointierte Dialoge, einige durch geknallte Szenen und die auf der Sensationsgier der Massen basierende Gier nach einem neuen ultimativen Kick sind die Stärken dieser kurzweilig zu lesenden, im Hier und Jetzt mit beiden Satirebeinen spielenden Geschichte. Ob Container oder Mars... wo ist der Unterschied? Bis auf die paar Milliarden Transport und Versorgungskosten.

 „Der letzte Tag“ von Roman Schleifer ist die längste Geschichte dieses Abschnitts. Es ist fast eine Novelle. Die Geschichte verfügt über einen Rahmen, dessen Ausgang sich dem Leser erst am Ende erschließt. Der Titel der Geschichte ist in mehrere Richtungen interpretierbar. Die Kommandantin der Marsmission muss ihrer Crew mitteilen, das der Erde die Zerstörung durch einen eben erst entdeckten Asteroiden droht. Die Chancen auf einen erfolgreichen Abschuss mittels Atomraketen sind gering. Auch die sich auf dem Mond befindliche Station ist bedroht. Somit sind die sechs Menschen auf dem Mars – drei Männer und drei Frauen – die wahrscheinlich einzigen Menschen, die in einer technisch hoch stehenden Umgebung den Einschlag überleben werden. Ein Besatzungsmitglied Yannik plant schon die Fortpflanzung der Menschheit, bevor die Erde untergegangen ist. Notfalls mittels Gewalt. Für die Kommandantin bricht ein altes Trauma auf.

Die Zeichnung der Protagonisten ist bis zum zynischen, aber kritisch gesprochen auch ein wenig konstruierten Ende überzeugend. Nur am Ende setzt Roman Schleifer noch zu einer passenden Pointe an und impliziert, das die Informationen zu „spät“ kommen. Es bleibt offen, ob es dadurch zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre und der zweite letzte Tage nicht stattgefunden hätte. Vielleicht hätte Roman Schleifer die Pointe ein wenig aufteilen sollen. Hinter dem Point of no Return wäre der Effekt deutlich drastischer gewesen. Bis dahin konzentriert sich der Autor teilweise auf das klischeehafte Szenario der geilen Männer, die in der Nötigung und Vergewaltigung der Astronautinnen die Basis für einen neuen Genpool suchen. Das wirkt alles ein wenig drastisch, ein wenig zu stark auf den Punkt gebracht, aber angesichts der Komplexität des ganzen Plots – die Schilderung einzelner gefahrvoller Situationen auf dem Mars; die Bedrohung durch den Asteroiden; Berechnung von Überlebensszenarien und schließlich Yanniks krankhafte Obsessionen – wäre eine Novelle von der Länge hin sinnvoller gewesen. Positiv gesehen hat Roman Schleifer wirklich viele Aspekte in eine spannende, durch den dunklen Rahmen teilweise in ihrer Entwicklung vorgezeichnete Geschichte gepackt und mit Protagonisten belebt, die sich immer wieder ihren Ängsten stellen müssen und diese der Not gehorchend überwinden. 

 Die Überschrift für das zweite Kapitel „Menschen auf dem Mars“ ist irritierend. In Hans Jürgen Kuglers Story „Im Untergrund“ leben die beiden Wissenschaftler in einem der umgebauten und mit Atmosphäre versorgten Tunnel unter der Marsoberfläche seit 69 Tagen. Bei Andreas Eschbach feiern die Big Brother in Space Kandidaten ihr einjähriges Jubiläum. Kuglers Geschichte hätte ohne Probleme im ersten Block platziert werden können. Ein Erdbeben bringt den Tunnel zum Einsturz, einer der beiden Wissenschaftler versucht verzweifelt seinen Kollegen frei zu graben, der eine Vision von der Ursache des Unglücks hat. Gut geschrieben mit einem feinen Gespür für die Schwierigkeiten einer derartigen Rettungsaktion in einer inzwischen wieder sauerstofflosen Umgebung, der niedrigeren Schwerkraft und vor allem dem zeitlichen Druck driftet die Story gegen Ende mit der möglichen Begegnung zwischen Mensch und anderem Höhlenbewohner ein wenig ab.

 Die zweite unter der Überschrift „Menschen auf dem Mars“ aufgeführte Geschichte stammt aus der Feder des inzwischen früh verstorbenen Rico Gehrke: „Kleopatras Perlen“ ist eine der schönsten Geschichten dieser Ausgabe. Eine widerborstige, aber hoch intelligente Ägyptologin wird auf den Mars versetzt, wo sie beobachtet, wie den Marskrebsen wertvolle Perlen entnommen werden. Ohne die Perlen leben sie runde vierhundert Jahre kürzer. Angelockt mit Wasser machen einige der militärischen Stützpunktangehörigen heimlich Jagd auf die Tiere. Die Ich- Erzählerin Miss Parker versucht eine solche Tötung zu verhindern. Da sie gegen die strengen Hierarchien nicht ankommt, entschließt sie sich zu einem unorthodoxen Weg, der sie karrieretechnisch auch ins Abseits befördert.

Zu Beginn ist „Kleopatras Tränen“  eine fast klassische Abenteuerpulpgeschichten mit Anspielungen auf die harten Männer aus dem Golden Age der Science Fiction, begleitet von sozial ökologisch kritischen Tönen vor allem aus Miss Parkers Richtung. Am Ende der Geschichte schlägt Rico Gehrke einen phantastischen und in sich schlüssig entwickelten Bogen zum alten Ägypten und zu den Göttern aus dem All. Mit Miss Parker verfügt die Story zusätzlich über einen ausreichend sperrigen Charakter, die mit Entschlossenheit und gegen alle aus ihrer Sicht stupiden ungeschriebenen Gesetze an agiert. Natürlich hat sie auch ein wenig Glück, das sie aus dieser im Grunde nicht gewinnbaren Situation als Sieger hervortritt. Aber das Glück ist immer mit den Tüchtigen.

 Drei der vier Geschichten im dritten Abschnitt „Terraforming Mars“ haben mit Touristen zu tun. Nur Axel Kruses bittersüße,  leider im positiven Sinne gemeint alltägliche Tragödie „Artefakte“hat mittelbar mit dem Leben auf dem Mars, den Unbilden der ersten Generation von Siedlern und dem Erinnern/ Vergessen zu tun. Am Ende der Geschichte spricht der Autor einen gewichtigen Satz gelassen aus und die Leser hoffen (mit ihm), dass er sich hinsichtlich seiner Vorhersage irrt.

 Norbert Stöbes „Hier auf dem Mars“ konzentriert sich auf die Gefahren des Terraforming bzw. der Besiedelung vom Mars in Kombination mit einem stetigen Fluss an Touristen.  Durch den Verlust der Pflanzen und damit auch einem wichtigen Teil der Nahrung ist man auf dem Mars gezwungen, bis zum Eintreffen des Ersatzes entweder die Nahrung so streng zu rationieren, das alle leiden oder einen Teil der in der Kolonie befindlichen Menschen in den Tiefschlaf zu versetzen. Mit potentiellen gesundheitlichen Folgen. Während die Stammbesatzung/ Kolonisten genau wissen, wer für den Erhalt der Station wertvoller ist, sehen das die reichen Touristen ganz anders. Wie Roman Schleifer entwickelt Norbert Stöbe den Plot interessant und stellt die beiden Positionen konträr gegenüber. Am Ende findet der Autor allerdings eher eine „Deus Ex Machina“ Lösung, die irgendwie „funktioniert“, aber Projekttechnisch wahrscheinlich nicht im Sinne der Betreiber der Station ist. Positiv ist, das der Autor das Entweder- Oder Szenario bis zum Ende durchzieht und auf keine „Deus Ex Machina“ Lösungen zurückzugreifen sucht.

 Lustig wird es in einer der kürzesten Storys dieser „Exodus“ Ausgabe. Maike Brauns „Ozoapft is!“ beschreibt die Abenteuer eines Abkömmlings einer türkischen Bierbrauerfamilie, die perfekten Gesternsaft auf dem Mars verkaufen wollen. Auf dem Flug trifft er eine Strömungstechnikerin. Humorvolle Dialoge und eine originelle Lösung zeichnen diese kurzweilige Story aus.

 Während bei Norbert Stöbe der Tourismus noch Abenteuer ist und die Vermarktungsmaschinerie mit verschiedenen Themenkuppeln in Maike Brauns Miniatur schon deutlich an Fahrt aufgekommen ist, herrscht bei Helmut Ehls „Das illustrierte Hotel“ erotischer Hochbetrieb. Der Mars ist inzwischen zu einer perfekten Singlebörse geworden. Kreuzfahrt ins rote Glück. Der Protagonist sucht nach seiner Trennung von der langjährigen Ehefrau und einem Burnout eine neue Beziehung. Dabei trifft er immer wieder auf Spuren seiner ehemaligen Frau und kann sich die Zusammenhänge nicht erklären. Helmut Ehls präsentiert ein interessantes, wie der Titel nur andeutet, nicht nur illustriertes Hotel, sondern eine lesenswerte Hommage sowohl an den unter dem Titel erwähnten Manfred Borchard, sondern auch an Philip K. Dick. 

 Die letzten beiden Kapitel bestehen jeweils nur aus zwei Kurzgeschichten. „Der „historische“ Mars“ wird von Arnold Sprees „1897- Die Reise nach dem Mars“ eröffnet. Der Wunderstoff Brexit, der Steinkohl 12.500 mal überlegener, ermöglicht es, mit dem aus Jules Vernes Roman bekannten Zug nicht nur zum Mond, sondern zum Mars zu fahren. Jules Verne lädt den deutschen Philosophen und Autoren Kurd Lasswitz ein. Als Dritter im Bunde organisiert der Brite H.G. Wells das Brexit. Gemeinsam fahren sie zum Mars und treffen dort auf eine riesige Pyramide, welche das besondere Erbe der Marsianer enthält. Stilistisch an die drei Autoren angelehnt versorgt Arnold Spree die Leser mit einer Reihe von kleinen Details während der langen Reise. Die Pointe per se ist zumindest der Theorie nach belustigend, auch wenn der Autor den Bogen mit den einleitenden Worten theatralisch überspannt.   

 Horst Pukallus Humoreske „Das Ende der Marsianer“ eine dieser für den Autoren – vielleicht auch noch Ronald M. Hahn – sprachgewaltigen Grotesken, in denen der Stil den stringenten Plot gerade zu erdrückt. Die Marsianer planen die Eroberung der Erde. Die Botschaft erricht aber ausgereicht die k.u.k Monarchie im Jahre 1914. Am Ende alleine gelassen stellen sich die Österreicher mit einer simplen, aber auch perfiden Taktik den Marsianern entgegen. Wenn alle Konflikte nur so einfach gelöst werden könnten. Laut vorgelesen ein Zungenbrecher streut der Autor während der Pointe noch eine weitere Idee aus, die für mindestens eine weitere Kurzgeschichte gut ist.

 Der letzte Abschnitt „Märchenhafter Mars“ besteht aus zwei Miniaturen. Christian Endres „Der Champion des Mars“ schlägt den Bogen an den Anfang dieser „Exodus“ Ausgabe zurück. Zwischen Träumen und dem Entwickeln von Eigeninitiative besteht nur ein schmaler Unterschied. In Uwe Hermanns Story entsteht Großes daraus, in Christian Endres Miniatur vertreibt sich die Sonde nur mit pulpigen Träumen die Zeit zwischen den von der Erde ausgestrahlten Aufträgen. Henrik Wylers „Nebra oder die Marsprinzession reist zur Erde“ wird in einem märchenhaften Ton erzählt. Es ist die einzige Geschichte, die ausschließlich dem Bereich der Fantasy bzw. des Märchenhaften zuzuordnen ist. Der Titel ist im Grunde Programm. Alleine der Bogenschlag zur Himmelsscheibe von Nebra lässt den Reiseverlauf zumindest bei sehr freier Interpretation weniger phantastisch erscheinen. Allerdings wirkt die Vorbereitung auf die Rückreise ein wenig bemüht und ist im Grunde unnötig. 

 Der Galerist dieser Ausgabe ist Dirk Berger. Auch Andreas Eschbachs Geschichte wurde von ihm illustriert. Der in London lebende Literaturagent John Berlyne schreibt in seinen mit „Bilder von Licht und Schatten“ übertitelten Anmerkungen über die erste Begegnung mit Dirk Berger, ihre gemeinsame Bewunderung von Tim Powers sowie die Ausdruckskraft seiner Titelbilder. Dirk Berger ist einer der deutschen Künstler, die vor allem auch im englischen und amerikanischen Buchmarkt eine Reihe von namhaften Autoren „bebildert“ haben. Die Galerie konzentriert sich im Gegensatz zu dieser Themenausgabe nicht auf den roten Planeten, sondern zeigt das ganze Spektrum seiner Kunst. Allerdings werden Stammlesern vor allem Dirk van den Booms bzw. des Atlantisverlages oder von phantastisch viele Titelbilder bekannt vorkommen. Es ist schade, das vor allem die im Kleinformat abgebildeten Titelbilder der Originalausgaben von Ian R. Macleod oder Joe Landsdale nicht größer wiedergegeben worden sind, sie hätten eine bessere Präsentation verdient.   

 Die Geschichte des „Exodus“ Magazins ist lang. Die Geschichte der Themenausgaben innerhalb der „Exodus“ Magazin Reihe noch deutlich kürzer. Aber schon in der Vergangenheit haben vorgegebene Themen die Phantasie der Autoren nicht eingeengt, sondern beflügelt. Die Themenausgaben gehörten zu den literarischen Höhepunkten der Reihe und der ersten „Mars“ Band setzt diese Tradition mit überzeugenden, teilweise herausragenden, aber durch die Bank von der Idee her originellen Storys fort.

 Neben der Dirk Berger Galaerie reicht über die verschiedenen lyrischen Beischmückungen das Spektrum der Graphiken von Computerkunst über Collagen bis zu klassischen Künstlern wie Thomas Franke – nur der Horst Pukallus kam für seine besonderen Zeichnungen in Frage – oder Hubert Schweizer. Chris Schlicht, Gabriele Behrend, Uli Bendick,  Mario Franke, Oliver Engelhard und Sabine Neuhold finden in den jeweiligen Geschichten ausreichende Ansätze, um mit ihren Graphiken zu überzeugen.

 Teil 1 des Mars Themenbandes ist eine ausgesprochen rote, äh... runde Ausgabe geworden.  

EXODUS 40

Erschienen: 31. August 2020

108 Seiten

Preis: 15,90 € 
Ausland: (zuzüglich Versand)

Lieferbar!

ISSN 1860-675X