Wir, Seezigeuner 3

Robert Kraft

Der dritte und vorletzte Sammelband von „Wir Seezigeuner“ umfasst die Lieferungen bzw. besser Kapitel 86-  128. Gleich zu Beginn schließt Robert Kraft eher rückblickend die Abfahrt der Sturmvogel aus Charleston am Vorabend des Ausbruchs des Amerikanischen Bürgerkriegs ab. Es empfiehlt sich aber, die Serie chronologisch zu lesen, denn wie in seinen anderen umfangreichen Kolportageromanen hat der Leipziger die Angewohnheit, immer wieder auf Protagonisten und teilweise Schauplätze zurückzugreifen, die er  vor allem in den ersten vierzig bis fünfzig Kapiteln etabliert hat. Hinzu kommt, dass Robert Kraft immer wieder kurzzeitig andere Erzähler auftreten lässt. Der Sachse macht deutlich, dass die Abenteuer der Sturmvogel und ihrer Crew vor allem auf Aufzeichnungen basieren, die in einem Leuchtturm gefunden worden sind. Aus der “Kiste” holt Robert Kraft die Aufzeichnungen eines anderen deutschen Seemanns - Martin -, der an Bord der inzwischen als Desperados der Meere agierenden Sturmvogel nach der Kaperung seines Schiffs schnell zum Stellvertreter Jansens wird. Aus den Aufzeichnungen lässt sich wie während des Prologs entnehmen, dass dunkle Zeiten auf Jansen zukommen und die Geschichte erst erzählt wird, als die Besatzung der Sturmvogel tot oder teilweise hingerichtet worden ist. Die dunklen, schon zu Beginn beschworenen Zeiten lassen sich aber in weiten Teilen der hier präsentierten Lieferungen noch nicht erkennen. Die Andeutungen scheinen bislang  spannungstechnischer Natur zu sein.  Lange Zeit sieht sich Jansen als ehrenvoller Desperado/ Robin Hood und nicht als Pirat. Er nimmt nur das Notwendigste.   

So kehrt die „Sturmbrautl“ unter Kapitän Jansen zur Leuchtturminsel des Zigeunerjungen Arlots zurück. Jansen muss feststellen, dass nur noch die minderjährigen Knaben auf der Insel leben, deren Wachstum durch  eine ihnen gegebene grüne Substanz nicht nur von Kapitän Arlots gehemmt worden ist, sie hat auch schwere gesundheitliche Folgen. Die afrikanischen Häuptlinge fühlen sich von den spektakulären Tauschgeschäften des Seezigeunerjungen aufs Kreuz gelegt und wollen diese mittels der britischen Krone rückgängig machen. Der  Leuchtturm soll auch an das britische Imperium fallen, das gleich drei Kriegsschiffe aussendet.  Da Janson in Großbritannien per Haftbefehl gesucht wird, droht ihm die Auslieferung. Während der Auseinandersetzung versenkt Jansen mit einem einzigen Schuss den Stolz der Flotte, bei der Flucht als Blockadebrecher überfährt er ohne eigenen Schaden wie durch ein Wunder ein zweites Schiff. Die besonderen Schießkünste werden auch an einer anderen Stelle der hier zusammengefassten Kapitel eine wichtige Rolle spielen.  Damit er es offiziell zum Piraten und Blockadebrecher geworden und könnte sich der Konförderation trotz Abneigung gegen die Sklaverei anschließen und für den Süden auf Kaperfahrt gehen. Der geheimnisvolle Klabautermann zieht seine Fäden im Hintergrund. 

Mit dem im Fucus versteckten Schwesterschiff der “Great Eastern”  wird ein weiterer Schauplatz reaktiviert. Das Schiff wird Jansen von dem reichen indischen Besitzer geschenkt. Bis auf den diebischen Schiffsarzt aus den ersten Lieferungen menschenleer. Derartige Gesten helfen in doppelter Hinsicht. Der jetzt heimatlose Jansen hat eine mächtige Basis und die von der  Leuchtturminsel mitgebrachten Jugendlichen eine neue vorläufige Heimat, da die Rahmenhandlung impliziert, dass Jansen später seinen Lebensabend auf der Leuchtturminsel verbringen und die Geschichte der Seezigeuner niederschreiben wird.  Später dient die Fucusinsel als Versteck zwischen den Kaperfahrten und den Jungen sowie ein Teil der Sturmbraut Besatzung wird sogar zeitweise als Bauern auf dem fruchtbaren, schwimmenden Grün heimisch. Auch Karlemann wird seinen Weg inzwischen bankrott und gestrandet zurück zu den Fucusinseln finden. Die Fucusinsel wird noch ein drittes Mal in diesem Romanteil angefahren. Inzwischen ist die ganze schwimmende Welt eine feste Basis für die Seezigeuner, gegen Ende sogar die einzige Basis. 

Ein weiterer bekannter Schauplatz sind die Osterinseln,  die inzwischen Lady Blodwen gehören. Jansen sucht die Inseln auf, wird mit einem gigantischen Theater konfrontiert, dass aus dem Stein geschlagen worden ist und mehr als zwanzigtausend Plätze umfasst. Dort finden grausame Gladiatorenspiele und Wagenrennen in römischer Manier unter der Ägide von Lady Blodwen statt, die sich immer noch an ihren vier verwandtschaftlichen Konkurrenten hinsichtlich ihres Erbes rächen will. Der grausame Charakter der sadistischen Frau zeigt sich noch an einer anderen Stelle. Jansen wird von seinem Kommodore zu einer weiteren unterirdischen Anlage geführt, wo er seinen flüchtigen diebischen Schiffsarzt wiedertrifft. 

Lady Blodwen als Mutter von Jansens Kind ist eine ambivalente Figur. Auch wenn Robert Kraft in “Das Gauklerschiff” eine britische reiche Lady als Gegenentwurf zum deutschen treuen Seemann entwirft, ist die teilweise grausame, dann wieder herrische oder unterwürfige Lady Blodwen ein deutlich mehr vielschichtig angelegter Charakter, der Jansen irgendwie zwischen Himmel und Hölle zurücklässt.   Das gipfelt schließlich in der fast überstürzten Hochzeit unter den Augen von drei Dutzend Nonnen, welche aus Seetnot gerettet worden sind.   

Beim zweiten Besuch auf den Osterinseln wird Jansen zusammen mit dem ehemaligen Leichtmatrosen Hans der “Sturmbraut” mit einer bizarren Welt  konfrontiert.  Der britische Milliardär Lord Seymour - er wird von seinen Landsleuten gesucht - hat nicht nur den innen hohlen Vogelfelsen Jansen vermacht, auf den Osterinseln fährt er in einem Käfigwagen herum, macht Jagd auf die ausgesetzten wilden Tieren und lässt sich kühles Bier aus einem eingebauten Zapfhahn servieren- der Gerstensaft kommt natürlich aus Bayern. In einer der letzten in diesem Band zusammengefassten Lieferungen wird Jansen Gefangener in diesem kaputten Käfigwagen werden, während Hans und Jansen über die inzwischen von den Bewohnern verlassene Insel in dem Wagen fahren müssen, die gigantischen dekadenten Gebäude zerfallen sehen und sich vor den inzwischen freigelassenen Raubtieren in acht nehmen müssen. 

Der dritte stetig wiederkehrende Bezugspunkt ist der Vogelberg gewesen. Vor wenigen Monaten konnte Jansen mit einem einzigen Schuss den dortigen Stolz der britischen Flotte versenken, inzwischen hat ein Vulkanausbruch das kleine Eiland zerschmettert. Es ist die einzige “Basis”, die Robert Kraft in “Wir, Seezigeuner” zerstört. In seinen späteren Kolportagebüchern wie “Das Gauklerschiff” werden derartige exotische und schwer bewaffnete Basen höchstens verlassen. Auch in “Atalanta” zieht sich eine technisch noch höher ausgestattete Anleihe unter einem See entlang.  Sie bleibt ebenfalls intakt. 

Neben der Wiedervereinigung der Charaktere finden sich eine Reihe von kleineren bizarren Ideen, welche Robert Kraft aber zu Lasten des Handlungstempos ausführlich beschreibt. So gibt es mechanische Puppen, die bei einer Feier auf den Osterinseln tanzen. Der groteske Tanz erinnert den Leser ein wenig an das Schicksal Jansens, das nur aus seiner Perspektive selbst bestimmt ist.  Jansen nimmt einen exzentrischen Maler an Bord, der nur gegen Quadratzoll als Maler arbeitet und sich seine Kunst kaum bezahlen lässt. Lady Blodwen lässt sich auf einem lebendigen Tiger malen. Robert Kraft lässt seine ausführlich über die vielen Scharlatane in der Kunst referieren, wobei der Autor bzw. sein Charakter Zeichner/ Maler von Beginn an als  Künstler ausschließt. Und schließlich trainiert Karlemann Möwen, um eine Art Postdienst aufzubauen, nachdem er sein bisheriges Vermögen verloren hat. Die erste Botschaft ist ohne Absender an Jansen. Die Sturmbraut soll nach Tasmanien aufbrechen. 

Robert Kraft beginnt mit seinen einzelnen Handlungsrahmen zu spielen.  Ohne dass der zugrundeliegende Plot wirklich vorankommt, wechseln sich bizarre Szenen und klassische Abenteuer-Sequenzen ab.  

Auf der Felseninsel  wollen die Briten Lord Seymour verhaften - es ist nicht der erste und auch nicht der letzte Charakter, der mit Verhaftung und Verschiffung nach Großbritannien in diesem Roman bedroht wird - und die Felseninsel annektieren. Lord  Seymour hatte diese inzwischen an den Kapitän der Sturmbraut verschenkt. Auf der Felseninsel gaben sich die Bewohner bizarren Ritterspielen hin, die eher billiger Klamauk als wirklich spannende Unterhaltung waren. Diese Szenen stehen in einem deutlichen Kontrast zu den schon erwähnten Gladiatorenspielen, aber auch der Konfrontation mit den Indianern. Hier wirken Fakir-Tricks - glühende Kohlen im Mund haben - oder Zauberkunststücke wie Schwertschlucken Wunder. Robert Kraft greift gerne auf solche Situationen zurück. Nicht immer regiert der Colt oder die Faust. Intellektuelle Spielereien sind selten, aber Siege basierend auf der körperlichen Ertüchtigung seiner vor allem deutschen Protagonisten oder wie in diesem Fall “fremdländischen” Künsten finden sich in einer Reihe von Romanen. 

Zu den dynamischeren Sequenzen gehört schließlich nach der Rückkehr aus Tasmanien und der Belagerung der Felseninsel durch die Briten die Entführung von Lady Blodwen, ihrem Sohn und dem sie begleitenden Mister Fairfax in den USA. Es zeigt sich, dass die Indianer ihre Opfer gezielt ausgesucht haben und Richard Jansen ebenfalls zur Zielscheibe werden sollte. Robert Krafts Ausflüge in den Wilden Westen unterscheiden sich nur wenig von Karl May. Die beiden erfolgreichen Schriftsteller entwickeln den realen Western aufgrund ihrer ureigenen Vorstellungen weiter. Während Karl May die Indianer meistens als edle Menschen, verführt von den Weißen sieht, erscheinen sie bei Robert Kraft schon deutlich wilder.  Sie können sich aber auch aus eigener Kraft in den weißen Hierarchien nach “oben” arbeiten, auch wenn sie in der Jugend noch den Tomahawk gegen die Eroberer geschwungen haben. Neben den üblichen Kämpfen und den schon angesprochenen Duellen zwischen rot und weiß,  fügt Robert Kraft noch weitere exzentrische Ideen dem geradlinigen Plot hinzu. Durch die angesprochene Möwenpost benachrichtigt, reist Richard Jansen mit Karlemann und dem Kommodore in den Wilden Westen und will seine jetzige Frau befreien. Es handelt sich um einen größer angelegten Plot, aber dazwischen hilft ihm sein Doppelgänger - ein schweigsamer, in den Wäldern lebender Mann -, der ihm später sehr viel Ärger bereiten wird. Dieses Durchbrechen der Chronologie sowohl in Form der eher fiktiven Tagebuchaufzeichnungen wie auch den deutlich seltenen Andeutungen Jansens sind klassische Spannungsmomente, die effektiv eingesetzt dem Roman die Dynamik zurückgeben, welche in den umfangreicher angelegten Beschreibungen fehlt. Auf der anderen Seite werden einige der später veröffentlichten Kolportageromane auch beweisen, dass Robert Kraft diesen Andeutungen keine Taten folgen lässt. 

Der Doppelgänger ist nicht nur ein Deserteur, sondern vor allem Mormone. Inklusive eines Muttermals wird Jansen für den Mormonen gehalten, der insgesamt 28 Frauen und 72 Kinder in der Siedlung am Salzsee zurückgelassen hat. Jeder Versuch, seine eigene wahre Identität aufzudecken, scheitert, so dass nur die Flucht bleibt. Die ganze Sequenz inklusive der langen Vorstellung des mormonischen Glaubens wirkt wie aus einem anderen, deutlich heiteren Roman übertragen. Robert Kraft geht in sittlicher Hinsicht schon sehr weit. Alle Frauen lieben ihren Mann abgöttisch und jede Frau darf im Monat eine Nacht bei ihrem Herren und ihrem Gebieter liegen. Die restlichen Tage eines Monats ist er entweder nicht da oder ruht sich aus. Robert Kraft doppelt die Verwechselung anschließend noch einmal, bevor die Geschichte ins literarisch später entstandene Jack  London Reich abdriftet. Auf seiner Flucht durchquert Jansen die USA nach San Francisco als Tramp und lernt das harte Leben am Schienenstrang kennen. Jack  London sollte wenige Jahre später einige sehr erfolgreiche Bücher darüber schreiben. 

Erst mit den letzten hier zusammengefassten Lieferungen kehrt Jasen zur Sturmbraut und Robert Kraft zu einem kontinuierlichen roten Faden zurück. Die Flucht als blinder Passagier Richtung Tahiti endet schließlich mit einer neu zusammengestellten Expedition in Richtung Borneo. Vier Jahre nach James Brukes Tod (1858) will der Kommodore den einheimischen Mitgliedern einer religiösen Sekte - die Dajaks - ihren Reichtum  entreißen, der sich am Ende eines langen Flusses befindet. 1895 hat Emilio Salgari mit seiner Reihe um den malaysischen Piratenkönig Sandokan und dessen anfänglichen Kampf gegen James Burke und damit auch die Briten begonnen. Robert Kraft fügt seiner Geschichte die historischen Fakten wieder hinzu, während es Salgari um den Aufstieg und schließlich Fall eines charismatischen wie exotischen Überhelden ging. 

“Wir Seezigeuner” ist weiterhin ein guter Einstiegsroman in die Welt Robert Krafts. Die technischen Ideen spielen keine Rolle. Robert Kraft setzt sich zwar immer wieder mit Aberglauben und Mythen auseinander, aber es ist vor allem die Geschichte eines Mannes, der weniger aus sich selbst heraus, sondern von den Ereignissen getrieben wird. Das macht trotz einiger Doppelungen und mindestens zwei hier vertretenen “Deus Ex Machina” Rettungen den Reiz dieses zugänglichen Kolportageromans aus. Die liebevolle zusammengestellte Ausgabe aus dem Verlag Dieter von Reeken verfügt über alle Illustrationen der Originalausgabe und ist dank des ungekürzten Textes die einzige empfehlenswerte Ausgabe dieses mehrfach nachgedruckten und antiquarisch noch relativ leicht zugänglichen Buches.   

Robert Kraft
Wir Seezigeuner
Die Erlebnisse des Steuermanns Richard Jansen aus Danzig. Nach seinen Aufzeichnungen bearbeitet.
Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung (Hardcover) des erstmals 1907 in 52 Lieferungen zu je 62–72 Seiten (= 3.342 Seiten) erschienenen mit 164 Graustufenbildern von Adolf Wald illustrierten Lieferungsromans in 4 Bänden.
Je Band ca. 540 Seiten, je 37–48 Abb., je Band 35,00 €
Band 1 (Kapitel 1–43), 540 S., 48 Illustrationen
Band 2 (Kapitel 44–85), 531 S., 38 Illustrationen
Band 3 (Kapitel 86–128), 528 S., 37 Illustrationen
 
Band 4 (Kapitel 129–158), 537 S., 41 Illustrationen -

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