Die Meerjungfrau

H.G. Wells

1902 unmittelbar nach „Die ersten Menschen auf dem Mond“ und vor „Die Riesen kommen!“ publizierte H.G. Wells mit „The Sea Lady“ – der Titel ist eine ironische Anspielung auf die vielen sozialen Verhältnisse, welche der unangekündigte Besucher durcheinander bringt – eine humorvolle, im Vergleich zu seinen sonstigen utopischen Geschichten a typische  Fantasy. In den folgenden Jahren sollte H.G. Wells mehr von den schweren utopischen Stoffen abwenden und eine Reihe von ironischen Romanen schreiben.  Die Fabel erschien zwischen Juli und  Dezember 1901 im „Pearson´s Magazine“, bevor im folgenden Jahr die Buchausgabe erfolgte. H.G. Wells hatte der Magazin Veröffentlichung noch den Untertitel „A Tissue of Moonshine“ hinzugefügt.

Joachim Körber hat die Geschichte übersetzt und in seiner Edition Phantasia Fantasy Paperback Reihe veröffentlicht. Horst Illmer hat  ein Nachwort beigesteuert. In seinem kurzen Nachwort geht Horst Illmer auf mögliche literarische Inspirationen Wells ein. Er findet den größten Konsens bei Fouque “Udine”.   

Angeblich inspirierte Mary Nisbet, die Tochter des Dramakritikers der TIMES, H.G. Wells zu dieser Geschichte. Er sah sie während ihres Besuches in Sandgate in einem Badeanzug.  Wells hatte vorher schon die Schulgebühren übernommen, als Nisbets Vater früh starb.

Von Beginn an spielt H.G. Wells im Gegensatz zu  Hans Christian Andersens Märchen mit den Parametern der Fantasy. Der Ich- Erzähler tritt erst später in der Handlung auf. Zu Beginn werden ihm und dem Leser die Ereignisse am Strand von der erzähltechnisch dritten Person berichtet.  Dazu nutzt der Erzähler geschichtliche wie journalistische Recherche. H.G. Wells vermittelt dem Leser den Eindruck, als wenn es sich um keine Fantasy handelt, sondern einen von der Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommenen Tatsachenbericht. 

Während seine Tochter im Wasser baden, fällt zwei Männern eine Lady auf, die anscheinend am Ertrinken ist. Wagemutig retten sie die junge Frau. Es handelt sich um eine Meerjungfrau, was die beiden Männer während der Rettung  nicht feststellen konnten. Sie ist ausgesprochen attraktiv und im Gegensatz zu verliebten Meerjungfrauen auch ausgesprochen schlau. H.G. Wells stellt klar, dass die Meerjungfrauen gebildet sind. Aus unzähligen Büchern können sie auf dem Meeresgrund aussuchen, auch wenn Wells technisch nicht erklärt, wie die aufgequollenen Bücher unter Wasser gelesen werden können.

Die Intelligenz und die wahrscheinlich eher auf der Literatur denn auf Fakten basierende Vertrautheit mit der britischen Gesellschaft zeigt sich, als während des langen Besuches der Plan der sich inzwischen Miss Doris Thalassia Waters nennenden Meerjungfrau offenbart wird. Sie will nur bedingt in die britische Gesellschaft „einsteigen“.  Vielmehr hat sie ihre Augen auf den inzwischen verliebten und verlobten Harry Chatteris   geworfen. Seine Verlobte ist eines der beiden Mädchen gewesen, die vor der Rettung im Wasser gebadet hat. Die Meerjungfrau hat Chatteris angeblich vor einigen Jahren in der Südsee, in der Nähe der Tonga Inseln gesehen und ist ihm quasi an die britische Küste gefolgt.

Auch wenn die Meerjungfrau bestimmte Vorstellungen hat, ist sie nicht der „Schurke“ in dieser Geschichte. H.G. Wells nimmt sie mittels seines Erzählers in Schutz. Sie kennt das menschliche Zusammenleben bislang nur aus der ihr zur Verfügung stehenden Literatur und Tageszeitungen anscheinend achtlos über Bord geworfen oder von untergegangenen Schiffen stammend. Diese verzerrte Perspektive spiegelt sich in ihren teilweise naiven Handlungen wider. Wobei der Begriff Naivität eingeschränkt werden muss, denn sie folgt den Handlungsmustern der leichten Unterhaltungsliteratur, die H.G. Wells in der vorliegenden Geschichte auch so gerne parodiert.

Die Perspektive der Fremden auf die eigene, in diesem Fall immer noch starre viktorianische Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs und damit einer sozialen Revolution von unten ist das klassische Mittel der Satire. Die   Meerjungfrau findet die Risse in dieser angeblich so geordneten und unzerstörbaren britischen Welt. Durch ihr beharrliches Ziehen und Zerren auf der kleinsten – familiären – Ebene beginnt der Leser sie auch mit anderen Augen zu betrachten. H. G. Wells will diese Welt, in welcher er sich trotz aller persönlicher Widersprüche auch wohlfühlt, nicht demontieren. Im Grunde will er sie nicht einmal grundlegend ändern. Er kritisiert die Welt, die gehobene und sich selbst feiernde Gesellschaft, ohne das Wells wirklich eine Alternative zu präsentieren sucht. Erst in seinem Spätwerk wird Wells deutlich radikaler und argumentativ vielschichtiger vorgehen. Im vorliegenden romantischen Buch reicht es ihm, wenn eine sehr attraktive Frau die Finger nicht in die Wunden, sondern höchstens in Form eines zur Wiederwahl stehenden Lokalpolitikers auf die Wunden legt.    

Wells spielt bei dieser kurzen Phantasie auf vielen Hochzeiten. Immer wieder hat sich der Brite in einem noch konservativen Rahmen weniger mit Sex, sondern eher erotischer Austrahlung damit Anziehung auseinandergesetzt. Das Objekt der Begierde zweier Frauen ist der Lokalpolitiker Harry Chatteris, der angesichts seiner Äußerungen eher aus dem politischen Labor Lager stammt. In einem Moment wilder Entschlossenheit fasst er seine zukünftigen Aufgaben als Lokalpolitiker noch einmal zusammen. Harry Chatteris steht zwischen zwei Frauen. Adeline Glendower ist eine reiche Erbin aus bestem Hause und mit Chatteris verlobt. Sie ist nicht unattraktiv, sie ist sehr gut erzogen und vor allem sieht sie ihre Rolle als ständige Begleiterin, als ordnende Hand in Chatteris Leben, aber weniger als eigenständig ihre Interessen verfolgende Frau. Die Frau aus dem Wasser ist das genaue Gegenteil. Wie bei den literarischen Vorlagen hat sie sich vor Jahren in Chatteris verguckt und will ihn buchstäblich haben. Auch wenn ihr das Leben an Land gefällt, ist sie keine Arielle, die ihr bisheriges Leben für einen neuen Mann aufgibt. In ihren Handlungen ist sie berechnend und aus deutscher Sicht erinnert sie eher an die Lorelei, die Seeleute anlockt und schließlich ins Verderben führt. Nicht  umsonst ist ihr verführerisches Motto “Es gibt bessere Träume”, mit denen die Meerjungfrau ganze Welten zusammenbrechen lässt. Aber sie bleibt den Beweis schuldig. Das ist die ironische Note, auf welcher H.G. Wells das minutiös wie distanziert erzählte Finale aufbaut.    

H.G. Wells lässt das Ende offen. Sein Erzähler ist wie zu Beginn der Geschichte nicht dabei. Vorher spekulierte er  allerdings mit einem Freund, wie ein Mann mit einer Meerjungfrau  leben kann. Von Wasserbehältern als Aufenthaltsort zwischen den Exkursionen an Land bis zu einer Ignoranz der Schwanzflosse. Da der Erzähler die Meerjungfrau niemals gesehen hat, gibt es in seinen Äußerungen eine zusätzliche Skepsis. Es fällt allerdings auf, dass vor allem die Presse sich zumindest in den hier vorliegenden Passagen nur bedingt auf die Sentation stürzt und niemand versucht, Fotos zu machen. Auch wenn die Briten ein zurückhaltendes Volk sind, ihre Presse ist sensationslüstern und die Frau aus dem Meer wäre das gefundene Fressen für sie.  

Es gibt Spekulationen, aber nur eine mögliche Erklärung. H.G. Wells Meerjungfrau ist weit von den unschuldigen Wesen aus den zahlreichen Märchen beginnend mit Hans Christian Andersen entfernt. Sie verführt Männer und hält sie bis zum  “Ende”  in ihrem Bann. Im Grunde ist sie eine Egoistin, die sich erstaunlich schnell auch in der gehobenen britischen Gesellschaft zu Recht findet. Sie mietet sich in ein sehr teures Hotel ein. Sie bewegt sich wegen ihrer Schwanzfloss in  einem Rollstuhl oder wird getragen. Das Finale ist auch wie eine Ehe.  Über die Schwelle in ein neues, anderes Leben getragen hat sie endlich einen Mann an ihrer Seite. 

Da die Geschichte fast ausschließlich in der gehobenen britischen Klasse spielt, hält sich H.G. Wells mit seiner Kritik zurück. Der regional auftretende Lokalpolitiker ist der einzige Mensch mit einer wirklichen Beschäftigung. Ansonsten bringt die Meerjungfrau bedingt Aufregung in die Familie und wird von der Mutter des Hauses schließlich ausgewiesen, als ihre wahren Absichten offenbar werden. Mehr  haben insbesondere die pragmatisch gezeichneten britischen Frauenfiguren nicht zu tun. 

“Die Meerjungfrau” ist ein früher Roman, fast noch eine Novelle aus H.G. Wells Feder, der sich schlechter verkaufte als seine utopisch-technischen Bücher dieser Zeit. Aber “Die Meerjungfrau” deutet schon die Richtung hin, welche Wells mit seinen späteren sozialkritischen Werken nehmen sollte. Begleitet von einem Schuss Humor. Die deutsche Ausgabe mit einem verführerischen Titelbild the Mermaid von John William Waterhouse und einer guten Übersetzung von Joachim Körber ist überfällig und sollte die Aufmerksamkeit der Leser über die bekannten und immer wieder neu aufgelegten Bücher hinaus auf das immer noch interessante, umfangreiche Werk des Briten H.G. Wells lenken. 

Die Meerjungfrau: Ein Gespinst Mondenschein

  • Herausgeber ‏ : ‎ Edition Phantasia; 1. Edition (12. Oktober 2018)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 174 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3937897577
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3937897578
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