Veniss Underground

Jeff VanderMeer

Der Wandler Verlag legt mit „Veniss Underground“ ein Frühwerk des mehrfach mit den wichtigsten Science Fiction und Fantasy Preisen ausgezeichneten Jeff VanderMeer in einer sehr gelungenen Übersetzung von Eva Bauche- Eppers vor. Das Buch erschien in den USA im Jahre 2003 und war Jeff vander Meers dritte Veröffentlichung, aber sein erster  Roman. Der Klett Cotta Verlag in seiner Hobbit Presse begann mit dem darauf folgenden Roman „Shriek“, den als eines der wichtigsten Mitglieder der New Weird Bewegung bezeichneten Autoren auf deutsch zu verlegen.

Der Knaur Verlag publizierte seine „Southern Reach“ Trilogie, deren erster Band von Alex Garland verfilmt wurde. „Borne“ – erschienen in einem Kleinverlag – stellt die bislang chronologisch in der Reihenfolge ihrer Entstehung neueste Veröffentlichung dar.

„Veniss Underground“ ist das Hauptwerk der phantastischen Reise durch bzw. besser unter der Stadt Veniss. Vier Kurzgeschichten „The Sea, Mendeho. And Moonlight“, „Detectives and the Cadavers”, “A Heart for Lucretia” und die Novelle “Balzac´s War” runden diesen Zyklus ab. In den USA sind alle Geschichten zusammen in einer empfehlenswerten Ausgabe erschienen. Da Jeff vander Meer aber vor allem im englischen Original auch für geübte Leser eine stilistische Herausforderung darstellt, ist es empfehlenswert, mit den jeweilig sehr gut übersetzten deutschen Ausgaben zu beginnen. Hinsichtlich der „Veniss“ Serie ist es nicht notwendig, die einzelnen Kurzgeschichten zu kennen. Aber ein Blick auf die Titel zeigt schon die Richtung an, welche Jeff VanderMeer mit seinen Geschichten eingeschlagen hat. Der Autor behandelt klassische, vielleicht teilweise auch absichtlich ein wenig klischeehaft gestaltete Themen vor einem verstörenden, faszinierenden und süchtig machenden Hintergrund. Nicht selten ist es eher die Form, die sich stetig verändernde Erscheinung von „Veniss“, welche mehr im Gedächtnis bleibt als die teilweise ein wenig eindimensionalen gezeichneten, vom Leben aber brutal behandelnden Protagonisten. In dieser Hinsicht folgt Jeff vander Meer vor allem auch China Mievielle, der in seinen ersten ebenfalls auf deutsch veröffentlichten Büchern bewiesen hat, was die Weird Fiction zu leisten Imstande ist.

Veniss ist eine Perfektion der Dekadenz. Keine Stadt, sondern ein lebendiger Moloch; der seine entweder exzentrisch reichen oder armen Bewohner zeichnet. Fürs Leben. Veniss besteht aus vielen  unterirdischen Etagen, wobei die zehnte Etage legendär ist. Wenig ist über sie bekannt. Für viele Menschen ist sie ein Mythos. Aber sie existiert, wie einer der Protagonisten  auf seinem Rachefeldzug im vorliegenden Roman feststellen muss.  Früher war Veniss mal unter dem Namen Dayton Central bekannt.  Dayton selbst ist eine eher beschauliche Stadt in Ohio, so dass die Namensgebung entweder absichtlich gewählt worden ist, um eine Botschaft zu senden oder die vergangenen Jahre den Ursprung des Namens verwischt haben.   

Der Roman ist in drei sehr  unterschiedlich lange Kapitel eingeteilt. Jedes Kapitel charakterisiert das Schicksal eines Protagonisten.  

Nicholas ist ein Künstler in einer Lebenskrise. Er  hat kein Geld, niemand will seine Kunst. Er ist einsam, verlassen, voller Selbstmitleid. Er beschließt, beim Unterweltboss Quinn ein Erdhörnchen zu kaufen. Auf dem Weg dahin verschwindet er spurlos.

Seine Schwester Nichola beginnt sich Sorgen zu machen. Sie folgt Nicholas vagen Spuren in die Unterwelt Veniss und verschwindet ebenfalls.

Shadrach ist Nicholas Freund, wobei er eine gewisse Distanz zu dem aus seiner Sicht eher narzisstischen Nicholas hält. Nicola war einige Jahre seine Freunde. Sie ist immer noch die Liebe seines Lebens. Also macht sich Shadrach mit den vagen Informationen ebenfalls in die Unterwelt Veniss auf, um Nichola möglichst zu retten und Nicholas für seinen Leichtsinn zu bestrafen. Außerdem will er sich am Herr der Unterwelt Quin rächen.

Jeff VanderMeer geht sehr geschickt vor. Das erste Kapitel mit Nichola wird ausschließlich aus der intimen Ich- Perspektive erzählt. Der Leser  erhält einen vagen, subjektiven Eindruck von Veniss aus der Perspektive eines unsympathischen „Künstlers“, der nicht verstehen will, warum die Welt seine Arbeiten ablehnt. Der Autor bewegt sich hier ein wenig am Rande des Klischees und etabliert den Weltschmerz, der viele „Künstler“ vor allem in klassischen Horrorfilmen zu Gräueltaten  bewegt hat. Aber Nicholas ist kein Täter, er ist ein klassisches Opfer.  

Das zweite und dritte Kapitel werden aus der neutralen dritten Person erzählt. Jeff vander Meer beginnt einzelne Aspekte der vorangegangenen Kapitel nicht nur zu wiederholen, sondern verschiebt vorsichtig die Perspektive. Auch wenn Shadrachs Reise in die wirklich bizarre Unterwelt Orpheus erinnert, ist „Veniss Underground“ viel viel mehr.

Nicholas und Nichola sind nicht nur eineiige Zwillinge, Quin könnte sie aus erschaffen haben. Damit kehren die beiden jungen Menschen zu ihrem Schöpfer, zu ihrem Vater zurück. Jeff VanderMeer impliziert an einer Stelle, dass die beiden nicht nur immer eins gewesen sind und ihre Gedächtnisse, ihre Persönlichkeiten und damit auch ihre Emotionen/ Liebschaften untrennbar miteinander verbunden sind. Quin holt seine Kinder einmal freiwillig und einmal gezwungen Heim. Dabei wird Nicholas auch zu Quins Diener, zu seinem willigen Werkzeug und immer abhängiger von den Drogen, die Quin spärlich austeilt. 

Shadrach liebt zwar Nicola, aber im Grunde hatte er immer die beiden Zwillinge zusammen. Daher konzentriert sich sein Hass nicht nur auf Quin, sondern auch auf Nicolas, den er für die Suche und damit auch das Verschwinden seiner ehemaligen Freundin verantwortlich macht. Aus dieser Liebe ist schon lange eine Obsession geworden, die weit über den Tod der eigentlichen Frau hinaus anhalten kann.  Sie wird für diesen futuristischen Orpheus zwar zu seiner Eurydike, aber er will sie nicht mehr unbedingt der Unterwelt entreißen.

Quin ist Gott, aber Jeff VanderMeer zeichnet ihn eher als herausfordernden Schöpfer, aber nicht Zerstörer. Er ist für die ganzen biogenetischen Kreaturen verantwortlich. In dieser Hinsicht erinnert er ein wenig an Dr. Moreau, der sich weniger auf einer Insel als im Untergrund eine perfekte Welt erschaffen hat, in welcher er regiert und Gott spielt. Quins Welt ist größer. Er macht die Regeln, es gibt kein ordnendes Element, das von außen eindringt. In dieser Hinsicht ist auch Shadrach – der Name ist wahrscheinlich auch eine Anspielung auf Schadrach im Feuerofen – zu schwach und zu selbstverliebt, in seiner eigenen Mission gefangen.  Zusätzlich  hat sich Jeff vander Meer auch von Joseph Conrad und seiner Novelle „Hearts of Darkness“  inspirieren lassen. Veniss ist der moderne Dschungel der Weird Fiction. Verstörend faszinierend.

Die Beziehungen zwischen den wichtigsten Protagonisten sind klar und direkt gezeichnet. Jeff vander Meer liefert aber keine Antworten, er zeigt die selbstzerstörerischen „Beziehungen“ ausschließlich auf. Nichola ist in diesem Konstrukt der schwächste Charakter, obwohl sie als erste und uneigennützig den Mut hat, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal ihren charakterlich schwächeren Bruder zu suchen und vor allem vor sich selbst zu retten. Shadrach vergeht in seiner Rettungs- und Rache Mission. Da er den größten Teil der Geschichte einnimmt und vor allem auch Nicholas sowie Quin begegnet, wird er mehr und mehr zu einer dominanten, aber auch distanzierten Figur in diesem schicksalsträchtigen  Schachspiel.  

Auch wenn sich Jeff VanderMeer vor allem an einer Reihe von klassischen Vorlagen orientiert, überzeugt weniger die kaum komplexe und zu schematisch aufgebaute Handlung, sondern vor allem der biogenetische Hintergrund der Stadt Veniss mit seinen immer bizarrer werdenden Kreaturen.  Manches erinnert an die tragischen Figuren, welche die Japaner in Filmen wie „Tetsuo“ auf  die Leinwand gezaubert haben. Sowohl „Veniss Underground“ als auch „Tetsuo“  leiden unter der visuell kreativen  Vielfalt ihrer Schöpfung, die zu Lasten eines roten Handlungsfaden geht. Irgendwann droht der Overkill. In Filmen mit einem akzeptablen Budget lässt sich der Zuschauer leichter provozieren und animieren, weiterzuschauen als in einem Buch. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Jeff vander Meer auch im direkten Vergleich zu anderen New Weird Fiction Autoren bewegt. Der Autor hat sich in seine Schöpfung – „Veniss – verliebt und spielt die Karte aus. Er fordert Geduld von seinen Lesern und malt diese bizarre Welt in grellen Farben aus.  Alle Elemente sind vorhanden. Blut, Kotze, brutale Selbstmorde, Folter und damit auch Verwandlung, medizinische Experimente und von Drogen zerfressene Menschen, deren Lebensuhren ablaufen. Jeff vander Meer bewegt sich immer wieder sehr nahe an den Splatter Punks, wobei er seiner Geschichte einen emotionalen Kern gibt und den Wahnsinn bis an die Grenze ausreizt, aber noch keinen Schritt weiter geht. Die Symbiose zwischen bizarren Bildern und einer spannenden, geheimnisvollen Handlung wird der Autor erst in der „Southern Reach“ Trilogie mit einigen Anspielungen auf Fernsehserien wie „Lost“ perfektionieren. Vieles wirkt in „Veniss Underground“ noch provokativ um der Provokation willen, noch experimentell, um literarische Grenzen auszutesten und dann wieder unentschlossen, den finalen und vor allem auch originellen Schritt von den Inspirationen weg auf eine neue Ebene zu gehen.

Chronologisch ist die Veröffentlichung dieses ersten Romans Jeff VanderMeers wichtig. Und der Wandler Verlag geht diesen mutigen Schritt, eine Lücke in einer Zeit zu schließen, in welcher die letzten Arbeiten Jeff vander Meers keine deutschen Verlage  mehr  gefunden haben. „Veniss Underground“ ist strange, New Weird in Perfektion, verstörend, abstoßend, faszinierend und fordernd. Aber das macht den Reiz dieses literarisch quer denkenden Autoren auch aus.       

  • Herausgeber ‏ : ‎ Wandler Verlag (3. August 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 230 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 394882505X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3948825058
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 16 Jahren
  • Originaltitel ‏ : ‎ Veniss Underground