Clarkesworld 202

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke fürchtet immer noch den Herbst, wenn Amazon die Zeitschriftenabos aus ihrem Kindle  Programm streicht.  Bislang haben nur die Hälfte der Kindle Leser ein neues Abonnement über andere Plattformen abgeschlossen.

Carrie Sessarego greift mit ihrem Essay „Margaret the First and the Blazing World” weit in die Geschichte der utopischen Literatur zurück und präsentiert einen utopischen Roman aus der Feder einer selbstbewussten Frau, der im achtzehnten Jahrhundert entstanden ist.

 Arley Sorg interviewt mit Aimee Ogden und Yukimi Ogama zwei sehr unterschiedliche Frauen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen bzw. leben.  Aimee Ogden lebt inzwischen in den Niederlanden. Beide Frauen gehen auf ihre erste Kurzgeschichtenveröffentlichungen ein. Die schwierige Situation, im Grunde für außergewöhnliche Texte auch einen Markt zu finden. In dieser Hinsicht ist „Clarkesworld“ weiterhin eine der wichtigsten Plattformen, um Kurzgeschichten publizieren zu können. Vor allem auch aus dem außerangloamerikanischen Raum. Wie alle Interviews achtet Arley Sorg immer auf die Antworten der Gesprächspartner und baut seine folgenden Fragen entsprechend auf. Dadurch entstehen Dialoge, die für  Leser wie auch  die Interviewten befruchtend sind.

Insgesamt acht Geschichten finden sich in der Juli 2023 „Clarkesworld“ Ausgabe.  Marie Vibbert eröffnet die Ausgabe mit einer simplen, emotional aber sehr ansprechenden  Geschichte. „Cheaper to Replace“ zeigt das Dilemma der Gegenwart, wenn eine junge Frau versucht, für ihren Roboterassistentin eine längere  Laufzeit durch Reparaturen zu erzielen. Es ist billiger, ihn komplett zu ersetzen. Für Hahn ist ihr James aber inzwischen mehr zu einem Freund geworden und natürlich widersetzt sie sich einfallsreich dem Wegwerf Trend der zukünftigen Zeit. Eine gute Charakterisierung der handelnden Personen sowie gegen Ende der Geschichte auch eine  emotionale, wenn auch kitschig unterlegte Wendung helfen dem eher rudimentär entwickelten Plot.

„Death and Redemption , Somewhere Near Tuba City” (Lou J. Berger) ist deutlich actionorientierter. Elizabeth Mauldin ist eine Kopfgeldjägerin, die flüchtige von A.I. betriebene Trucks aufspürt. Zu den wenigen marodierenden Trucks gehört Big Bertha, eine Art mystische Übertruckfigur. Beide Persönlichkeiten sind sehr gut gezeichnet worden. Wie bei „Cheaper to Replace“ gibt es ausreichend Argumente, den bestehenden Trend zu brechen. Die Actionszenen sind gut und das Ende überzeugend.

Bo Balders „Estivation Troubles“ ist eine der längsten Geschichten dieser „Clarkesworld“ Ausgabe., Stevie und Ammo sind seit vielen Jahren verheiratet. Sie arbeiten an Bord eines Raumfrachters auf dem Heimflug. Ihr Heimatplanet ist eine faszinierende Schöpfung. Es gibt Schläfer im Sommer oder Winter.  Natürlich stammen Stevie und Ammo aus unterschiedlichen Familien. Winter- und Sommer Schläfer, so dass nur Stevie seine Familie sehen kann. Bis auf das mechanische Ende setzt sich Bo Balder sehr geschickt nicht nur mit den Schwierigkeiten innerhalb einer Ehe- Arbeitsgemeinschaft auseinander, sondern auf dem allerdings eher oberflächlich gezeichneten Planeten auch mit den Klischees der jeweils anderen Gruppe gegenüber.  

Brenda W. Clough ist ein Urgestein der Science Fiction. Ihre erste Geschichte veröffentlichte sie in den achtziger Jahren. Ihre Romane sind vor allem in Australien erschienen. Ihre phantasievolle Geschichte „Clio´s Scroll“ spielt in einem fiktiven, aber historisch realistisch gezeichneten Italien des 14. Jahrhunderts, in dem ein Unsterblicher auf der Erde lebender Außerirdischer Asmidiske den Dichter Dante bittet, ihm bei der Befreiung seiner ebenfalls auf der Erde lebenden und seit Jahrhunderten von einer Familie gefangen gehaltenen Freundin zu retten. Asmidiske kommt zwar aus der Zukunft, musste aber aus einer nicht näher erläuterten taktischen Vorgehensweise jahrhundertelang zwischen den Menschen der Vergangenheit leben, um sich besser anzupassen und nichts in der Historie zu ändern. Dabei sind die Risiken deutlich höher als bei einem kurzen Einsatz. Die Geschichte lebt von den dreidimensional gezeichneten Protagonisten, deren Handlungen für den Leser jederzeit nachvollziehbar sind und die Einbeziehung in die bekannte menschliche Geschichte mit dem Autoren Dante als Identifikationsfigur. Eine sehr gut strukturierte Handlung mit einem zufriedenstellenden Ende rundet dieses Lesevergnügen einer zu Unrecht in Vergessenheit geratenen, routinierten Autoren ab.

Risa Wolfs “Tigers for Sale” ist eine der humorigen Geschichten, die nur in der Theorie funktionieren.  Die von einer K.I. gesteuerte Raumstation dreht durch. Normal dient die Station als Tor zu anderen Dimensionen und als ausgerechnet ein Raumschiff mit dem Namen “Tigers for Sale” andocken möchte, beginnt die K.I. alles wörtlich zu nehmen. Es gibt nur wenige Hintergrundinformationen und die Handlung der Miniatur wirkt ein wenig zu stark bemüht, aber der Versuch, ein wenig Humor in diese sehr grimmige “Clarkesworld” Ausgabe zu bringen, muss akzeptiert werden. 

Kompliziert, aber nicht komplex ist “Timelock” von Davian Aw. Die Zeit kann in einem begrenzten Umfang und einem kleinen Raum quasi angehalten werden. Das geschieht individuell.  Die Nachbarn des Erzählers nutzen diese Timelocks aus seiner Sicht nicht nur zu progressiv, es beeinträchtigt das eigene Wohnen. Als er seine Nachbarn zur Rede stellen will, gerät er in eine Falle. Während die Ausgangsbasis in der Theorie funktionieren könnte, verfängt sich der Autor in der stringenten Miniaturstory zu sehr in den eigenen Gedanken und kann den Plot nicht zufriedenstellend auflösen. 

Alexandra Seidels “What Remains, the Echos of a Flute Song” wirkt von Beginn an gekünstelt und erfordert eine Menge Geduld von den Lesern. Der namenlose Flötist erreicht eine fast gänzlich verlassene, ebenfalls namenlose Stadt. Er begegnet einem Mann, der beinahe durch das Trinken von örtlichem Wasser stirbt. Der nicht nur namenlose, sondern auch stumme Flötenspieler versucht in der Stadt sich zu etablieren.  Der Plot ist rudimentär.  Die Szenerie ist interessant, die Zeichnung der wenigen Protagonisten eher pragmatisch. 

Die einzige Übersetzung ist Kelsea Yus “The Orchard of Tomorrow”.  Nach acht Jahren in der Hauptstadt kehrt Andrea nach Hause zurück. Der Familiengarten ist inzwischen verwahrlost. Ihre Freundin Lane wirft Andrea vor, dass sie nach einem Feuer die Familie zurückgelassen hat und für die Reichen in der Stadt arbeitete. Andrea versucht sich mit einer alten Geschichte herauszureden, aber die Geschichte funktioniert insbesondere gegen Ende nicht. Der Autor konzentriert sich auf Stimmungen und weniger auf eine flüssige Handlung. Die charakterliche Zeichnung der Figuren und die einzelnen Beziehungen untereinander, basierend auf einer gemeinsamen Vergangenheit, aber nicht unbedingt einer gemeinsamen Zukunft sind gut gelungen. Ein solider Abschluss dieser Ausgabe.

“Clarkesworld” 202 ist beginnend mit dem schönen Titelbild eine gelungene Ausgabe. Die klassischen Science Fiction Themen sind mit emotionalen Elementen gut vermischt. Neil Clarke hat dieses Mal ein wenig mehr Wert auf klassische Strukturen und weniger nicht ganz ausgereifte Experimente zurückgegriffen.