Clarkesworld 201

Neil Clarke (Hrsg.)

Der Herbst rückt unerbittlich näher und die Veränderungen bei Amazon und ihrer Zeitschriftenplattform werfen lange Schatten. Niemand weiß, wie sich anschließend die monetären Ströme entwickeln. Neil Clarke macht das in seinem Vorwort deutlich, während Julie Novakova mit ihrem Artikel über Wasser, die Beziehung zwischen Leben und Wasser und den möglichen Fundstellen im All ein sehr aktuelles Thema anspricht.

 Die beiden Interviews von Arley Sorg konzentrieren sich auf zwei junge Autoren, deren erste Romane gerade veröffentlicht sind oder in den Startlöchern stehen.  Sowohl Vajra Chandrasekara als auch Kemi Ashing- Giwa kommen aus Ländern außerhalb der USA. Sie berichten, wie stark ihre Kultur und ihr bisheriges Leben ihr Schreiben beeinflusst hat. Die Interviews mit wirklich jungen, ambitionierten Autoren geben dem „Clarkesworld“ Magazin eine erfreulich Frische, die sich nicht immer in den Geschichten widerspiegelt.

 Insgesamt acht in erster Linie kürzere Texte finden sich in der „Juni“ 2023 Ausgabe. 

 Dominica Phetteplaces „The Officiant“ eröffnet die Ausgabe. Es ist eine geradlinige Science Fiction Geschichte mit einer fast klassisch zu nennenden Basis. Der Protagonist ist ein Kind menschlicher Eltern, das allerdings auf einem Planeten aufwächst, den es mit einer außerirdischen Rasse teilt. Die Autorin geht nicht sonderlich auf den Hintergrund ein. Der Officiant  ist eine Art Bote, der Hochzeiten arrangieren soll. Bizarr wird der Plot, als er diese Aufgabe einer anderen Welt für Roboter übernehmen soll. In Wirklichkeit will er nach dem Ursprung der menschlichen Rasse suchen, deren Spuren sich im Staub der Sterne verloren haben. Dort liegt auch der Ursprung seiner ihn in den Träumen quälenden Visionen. Begleitet wird er von einem Botschafter der Außerirdischen, welche ihm nicht unbedingt über den Weg traut. Eine Liebesgeschichte verbindet sie zusätzlich.

Auch wenn die Zusammenfassung nur einen ganz kleinen Teil der Geschichte wiedergibt, liegt der Schwerpunkt des Plots auf den sehr unterschiedlichen Beziehungen der Figuren zueinander. Sie sind durch ihre jeweiligen Vergangenheiten geprägt worden. Als Science Fiction funktioniert die Story nicht, da zu viele Fragen offen bleiben und die technischen Hintergründe allerhöchstens pragmatisch eingesetzt, aber nicht in die sich langsam, aber intensiv entwickelnde Handlung integriert worden sind. Themen wie Herkunft, Rituale, Hintergründe und vor allem auch die Ehe egal ob zwischen Menschen, Außerirdischen oder Robotern sind Themen, die eher in einer Novelle als einer zu kompakt geratenen Kurzgeschichte abgehandelt werden sollten.

 „Vast and Trunkless Legs of Stone“ (Carrie Vaugh) beschreibt der Ich- Erzähler seine Begegnung mit Außerirdischen, die aus dem Nichts kommend auf der Erde gelandet sind. Die Außerirdischen wollen nicht mit den politischen Anführern, sondern einem klassischen Durchschnittsmenschen sprechen.  Während der Gespräche stellen die Außerirdischen seltsame Fragen, machen aber auch impliziert klar, das die Antworten gravierende Folgen für die Menschheit haben könnten. Das altbekannte Thema des Ersten Kontakts wird aus einer ungewöhnlichen Perspektive beschrieben. Die Fragen erscheinen auf den ersten Blick oberflächlich, sind allerdings tiefgründig angelegt. Das Ende ist offen, aber der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wären die Aliens nur eine Allegorie auf das grundsätzlich hinterfragenswerte Verhalten der Menschen einander gegenüber.

 „Day Ten Thousand“ von Isabel J. Kim erscheint als postmoderne, genderneutrale Geschichte, deren Vordergrund ein Mann auf einer Raumstation ist, der erfährt, das er in Wirklichkeit nur der Klon eines Mannes ist, dessen Körper in der Kühlkammer liegt. Durch die Erkenntnis erfährt er Details über den Tod des Originals und  kann ohne weitere Erklärungen sogar in Parallelwelten schauen. Beginnend mit der Erzählstruktur und einem nicht unbedingt zuverlässigen Erzähler versuchen Isabel J. Kim dem Plot mehr Tiefe abzugewinnen als es die wenigen Seiten wirklich überzeugend hergeben. Isabel J. Kim spielt mit den Lesern und macht den gleichen Fehler wie Hitchock oder Andreas Eschbach. Sie geben zu, dass ihre Figuren unehrlich sind. Nicht gegenüber anderen fiktiven Protagonisten, sondern den Lesern.

 „The Moon Rabbi“ von David Ebenbach ist ebenfalls eine sehr kuriose Geschichte. Der Protagonist arbeitete einige Zeit als Rabbi auf dem Mond. Inzwischen hat er zumindest für sich das Amt niedergelegt. Eine Freundin reißt ihn aus seinem lethargischen Zustand. Wie „Day Ten Thousand“ handelt es sich eher um eine Charakterstudie. Allerdings sind die Figuren deutlich dreidimensionaler und interessanter gezeichnet. Hinzu kommt, dass die Dialoge pointierter, teilweise lustig sind und David Ebenbach sich in dieser allerdings inhaltlich sehr ruhigen Geschichte auf das Wesentliche konzentriert.

 Die einzige übersetzte Geschichte ist „To Helen“ von Bella Han. In der Zukunft können sich reiche mittels Spitzen und Operation relativ unsterblich machen. Der Erzähler als einfacher Mensch trifft auf eine ehemalige Freundin. Sie haben sich 25 Jahre nicht gesehen. Auch wenn sie den „Tod“ besiegt haben, sind sie nicht glücklich. Eine Bettlerin konfrontiert sie mit der Wahrheit. Der Hintergrund der Geschichte ist sehr gut herausgearbeitet und die grau gezeichneten Protagonisten überzeugen. Ihre Gedankengänge sind nachvollziehbar und es wird deutlich, dass die Unsterblichkeit auch Opfer verlangt. Wie David Ebenbach und Isabel J. Kim setzt Bella Han eher auf Ideen als Handlungen. Viele Ansätze könnten in einem längeren Texte weiter extrapoliert werden, wobei zu den gut gezeichneten Protagonisten in diesem Fall auch ein Plot kommen müsste.    

 Die längste Geschichte ist Angela Lius „Imagine: Purple- Haired Girl Shooting Down the Moon“. Der Erzähler arbeitet als freischaffender Künstler, der mittels Farbe in einem unerklärten Vorgang illegale „Kreaturen“ entwickelt, die mit einem besonderen Prozess in die Gehirne seiner Kunden und nicht Patienten herunter geladen werden können. Gleichzeitig werden unerwünschte Erinnerungen gelöscht. Zusätzlich arbeitet sie in einem Bordell und beide Karrieren kommen natürlich bei einem besonderen Kunden zusammen, der nicht nur Sex, sondern auch einen entsprechenden Download haben möchte.

 Der Plot ist sehr dunkel. Angelia Liu orientiert sich am Cyberpunk, fügt aber viele Elemente der Gegenwart hinzu. Auch wenn der Prozess des Downloaden auf den ersten Blick absurd erscheint, gelingt es der Autorin, diesen überzeugend zu beschreiben. Am Ende geht es in der stimmungsvollen Geschichte voller bizarrer Randelemente nur um das reine Überleben.

 Jana Bianchis „... Your Little Light“ beschreibt das Schicksal des einzigen Überlebenden auf einem im All treibenden Generationenraumschiffs. Sie versteckt sich in einem Teil des Raumschiffs, wo auch ein fremdes an Bord genommenes Wesen lebt. Außerdem ist sie schwanger und die Geburt steht unmittelbar bevor. Die Rettung besteht aus einer kleinen Chance an Bord eines der Beiboote. Allerdings erkennt sie, dass das außerirdische Wesen anscheinend intelligent ist.

 Eine sentimentale, immer nahe an den Kitsch gebaute Geschichte mit einem eher pragmatisch oberflächlich entwickelten Hintergrund und einer dreidimensionalen außerirdischen Figur, die sympathischer als die menschliche Protagonistin erscheint. Das Ende wirkt leider sehr stark konstruiert und unglaubwürdig.

 „Mirror View“ von Rajeev Prasad ist eher eine Miniatur. Eine außerirdische Superintelligenz bestehend aus Metall und Mineralien erreicht die Erde und beginnt mit einer körperlichen Veränderung. Sie wirkt schließlich über Chicago stehend wie ein gigantischer Spiegel. Ein Anziehungspunkt für neugierige Menschen. Der Spiegel wirft aber keine direkte Reflektionen zurück, sondern verändert die Menschen, wie eine junge schwangere Frau, den Verlust ihrer Mutter betrauend, erkennen muss. Die Geschichte wird überwiegend aus der Perspektive des Aliens erzählt, was in mehrfacher Hinsicht überzeugend ist. Vor allem die Geburt, welche das Alien durch die Reflektion im Spiegel, jetzt emotional live mitbekommt, beginnt ihre Perspektive auf die Menschen zu verändern.

Der Autor benutzt die Klischees des Genres, entwickelt aber daraus eine eigenständige und vor allem auch sehr spannende Geschichte, deren Kürze nicht im Widerspruch zur der Qualität steht.

 „Clarkesworld“ 201 ist eine gute Ausgabe mit einigen herausragenden Geschichten, deren bodenständige Ideen verfremdet werden. Das Titelbild ist wieder eine Augenweide und die Themen der Storys – die Begegnung mit dem Fremden, das Überwinden von Hindernissen – verbinden sich zu einer sehr interessanten Lektüre. Eine der bislang besseren Ausgabe des Jahres 2022.