Father Venn

Jeffrey Thomas

Der Wandler Verlag hat in einem handlich, optisch schön gestalteten Hardcover mit Illustrationen von Sven Zinecker die überarbeitete und erweiterte  Geschichte um Father Venn aus der Feder Jeffrey Thomas vorgelegt. Es lohnt sich, trotz leichter Spoiler,  mit dem Interview im Anhang anzufangen, das der Herausgeber der Reihe Michael Schmitt mit dem Autoren geführt hat.  Jeffrey Thomas spricht über den Einfluss, den zuerst Thomas Hardy basierend auf der Roman Polanski Adaption „Tess“ auf Jeffrey Thomas gehabt hat. Nicht umsonst ist der Originaltitel „Godhead dying downwards“ eine Anspielung auf Hardy. Nicht zuletzt spielt die Geschichte nicht nur in Dorset, bei Thomas Hardy Wessex. Nicht zuletzt siedelte Jeffrey Thomas seine Novelle in der Zeit an, in der Thomas Hardys Geschichten spielen. Und abschließend tragen alle Charaktere dieser Novelle Namen aus Thomas Hardys Werk. Die zweite Inspiration ist H.P.  Lovecraft gewesen. Jeffrey Thomas hat den Amerikaner ein wenig später entdeckt, die Idee des komischen Horrors, der Bedrohung von jenseits der realistischen Welt, nicht nur für diese Geschichte übernommen.

In den USA ist die Novelle ebenfalls in einer limitierten, signierten und illustrierten Auflage erschienen. Michael Schmitt hat die Originalzeichnungen nicht übernommen, obwohl sie sehr gut die Stimmung dieser Geschichte ausdrücken.

Bei der Lektüre  erkennt der Leser vom ersten Augenblick an, wie viel Mühe sich Jeffrey Thomas bei der Recherche dieser ungewöhnlichen Geschichten gegeben hat. Die einzigartige Atmosphäre der Thomas Hardy Romane ist genauso vorhanden wie die Allgegenwart einer Bedrohung durch das  Übernatürliche, wobei dieser Begriff fast schon in Anführungsstriche gesetzt werden muss. Manches erinnert in der Konzeption auch an Neil Gaiman, der vor allem religiöse Mythen/ Ideale mit einer klassisch stringenten Geschichte verbunden und durch seine wunderbar exzentrischen Charaktere belebt hat.   

Father Venn war Priester in einer Kathedrale in Candleton. Dieser brannte eines Nachts nieder. Venn glaubte, eine teuflische Erscheinung durch die Bleiglasfenster gesehen zu haben.  Sein Körper wurde unter den Mauern begraben und er ist gestorben. Allerdings hat ihn Gott nicht zu sich geholt. Als lebender Toter wandelt er über die Erde. Aus dem roten Fensterglas seiner zerstörten Kirche hat er sich eine Brille machen lassen, mit welcher er übernatürliche Wesen erkennen kann.  

Father Venn wird zu einer Art fliegenden Holländer. Auch wenn er verstorben ist, benimmt er sich wie ein normaler, sehr attraktiver Mann. Er erweckt die Aufmerksamkeit der Frauen, auch wenn er im Zölibat lebt. Er kann, muss aber keine Nahrung zu sich nehmen. Gott hat ihm keine Mission gegeben, so traf er beim Herumstreifen im Jahr 1883 auf ein Kuriositätenkabinett. Beim Besuch in dem heruntergekommenen Zelt findet er einen Schafskopf, in einem Einweckglas konserviert. Dank seiner Brille kann er die rot lodernden Augen direkt aus der Hölle sehen. Er stiehlt den Kopf, weil er mit ihm an einen Ort zurückkehren muss, den er innerlich schon lange „abgeschrieben“ hat: Candleton. 

Father Venn ist eine charismatische Figur in einer klassisch ausgeprägten Geistergeschichte. Allerdings lässt Jeffrey Thomas von Beginn an keinen Zweifel, dass es eine andere übernatürliche Welt gibt. Das Überraschende an dieser Geschichte ist, dass diese Zwischenwelt auch von einigen Menschen akzeptiert wird. Hier nähert sich Jeffrey Thomas zum erneuten Male Neil Gaiman an, der spätestens mit „American Gods“ die beiden Welten miteinander verbunden hat. Venn ist nicht überrascht, als ihm eine attraktive Frau mit Flügeln erscheint.  Natürlich kann er die Flügel nur durch die Rotlichtbrille sehen. Sie ist aber kein Engel, sondern scheint eher aus der Hölle entstiegen zu sein. Nicht, um Venn zu bestrafen oder gar zu töten, sondern ihm einen von zwei möglichen Wegen zu beschreiben. Venn ist der Ansicht, dass sie seine Kirche in Brand gesteckt hat. Ein fast klassischer Irrtum, der natürlich im letzten Kapitel aufgelöst wird. Hier präsentiert Jeffrey Thomas ein erstaunlich bodenständiges, aber Thomas Hardys melancholisch sozial kritischen Geschichten entsprechendes Ende.

Auch wenn Gott Father Venn herausgefordert hat,  ist er in seinem Glauben an das Gute unerschütterlich. Er hilft den Menschen, denen er begegnet. Er ist sich nicht zu schade, mit seinem Ende zu arbeiten, wobei er sich nur vordergründig für Speisen und Getränke verdingt. Ein Schlafplatz ist wichtiger, die Nähe zu den einfachen Menschen wie eine innere Sucht.  Aber die stetige Herausforderung seines Glaubens an Gott angesichts des Elends auf Erden erscheint nur als eine Art Mittel zum Zweck, um den Charakter des Father Venns dreidimensionaler, zugänglicher, aber auch vielschichtiger zu machen. Father Venn hat sich trotz seines Schicksals nicht von Gott abgewendet, er sucht es nur zu verstehen. Göttliche Wege reichen ihm nicht.  Er scheint als lebendiger Toter  über sich hinauszuwachsen und wird zu einem „Helden", allerdings in eigener Sache. Im übertragenen Sinne könnte der Leser in diesen Pyrrhussieg auch hineininterpretieren, dass Venns Schicksal eine Art Opfergang für die ganze Menschheit ist. Aber ob diese Menschen Venns Leiden verdient haben, steht auf einem anderen, noch unbeschriebenen Blatt.  

 Natürlich ist „Father Venn“ auch eine Geistergeschichte. Mit einem Geist im Mittelpunkt der Geschehens. Aber es ist ein Geist, der sich seines Zustands sehr wohl bewusst ist. Venn agiert über weite Teile der Geschichte menschlich. Bis auf das Sehen (dank der roten Brillengläser) hat er auch keine übernatürlichen Fähigkeiten. Die Spannung bezieht die Geschichte aus der stimmigen Atmosphäre und natürlich dem Geheimnis um den Kirchenbrand.  Jeffrey Thomas geht sehr strukturiert vor.  Hintergrundinformationen fließen fast beiläufig in den fokussierten, aber mit einer erstaunlichen Ruhe und Eleganz erzählten Text. Venn selbst ist immer wieder am Zweifeln. Bestätigt wird seine eigene, allerdings rückblickend falsche Einschätzung der Brandnacht durch die angesprochene sehr attraktive Frau mit ihren Flügeln, die erstaunlich mondän und vor allem intelligent fast aus einer überlegenen Position mit Venn spricht, der insbesondere zu Beginn der Geschichte auch noch ein wenig desorientiert wirkt.  Als wenn er sich in seinem neuen „Leben“ noch zurechtfinden muss, obwohl er schon eine längere Zeit wie der fliegende Holländer verdammt über die Erde im Allgemeinen, aber vor allem durch Dorset alias Wessex wandert.   

 Der Übersetzer Fabian Dellemann hat sich Mühe gegeben,  die richtige Balance zwischen Thomas Hardys aus heutiger Sicht antiquierter literarischer Stimme und der Gegenwart zu finden.     

„Father Venn“ ist eine ungewöhnliche Geistergeschichte. Selbst für Anhänger Jeffrey Thomas zeigen sich beim Autoren neue, aber - die Aussagen im Interview betrachtend -  auch alte Seiten. Als Hommage an Thomas Hardy, aber auch als ungewöhnliche Geistergeschichte in der noch jungen Tradition des New Weird ist „Vather Fenn“ uneingeschränkt empfehlenswert. Wer nicht auf die inzwischen ausverkaufte und antiquarisch schwer zu erhaltende amerikanische Ausgabe zurückgreifen möchte, wird bei diesem handlichen, mit viel  Liebe zum Details gestalteten Hardcover aus dem Wandler Verlag mehr als entschädigt.

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  • Herausgeber ‏ : ‎ Wandler Verlag (9. Februar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 110 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3948825084
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3948825089
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 16 Jahren
  • Originaltitel ‏ : ‎ Godhead dying downwards
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