Clarkesworld 203

Neil Clarke (Hrsg.)

Dunkle Schatten scheinen über dem „Clarkesworld“ Magazin aufzuziehen. Die Nummer 203 ist die letzte Ausgabe, die über Kindle im Abonnement vertrieben wird. Zwar darf Neil Clark sein Magazin über Kindle Unlimited weiter anbieten, aber er bezieht nur noch die Hälfte des bisherigen Einkommens. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich das Magazin entwickeln kann. Neben dem düsteren Vorwort geht Julie Novakona in ihrem wieder lesenswerten Essay „Beyond the Godzilla Trope: Radiation Biology“ auf die wissenschaftlichen Fakten in einem direkten Vergleich zur Science Fiction hinsichtlich der Zellveränderung aufgrund radioaktiver Verseuchung ein.

Arley Sorg interviewt mit Jared Shurin und S.L. Huang einen Herausgeberin und eine junge Autorin. Beide Gesprächspartner gehen ausführlich auf die Hintergründe ihrer Projekte, den gegenwärtigen Markt, aber auch den fehlenden Willen, sich der Masse anzupassen ein. Wir alle Arley Sorg Interview ist der Fragensteller flexibel genug, um die Antworten aufzugreifen und notfalls auch entsprechend zu vertiefen.

Insgesamt sieben teilweise längere Geschichten  bilden den September.  Nnedi Okorafors „Stones“ ist ein sehr gelungener Auftakt. Ungefähr einhundert Jahre in der Zukunft spielt sich die Geschichte zwischen der Sonne und dem Saturn ab. Es handelt sich um eine First Contact Geschichte, wobei die Autorin sich sehr viel Mühe gibt, eine wirklich fremdartige Lebensform zu entwickeln. Auch wenn der wissenschaftliche Hintergrund wie bei einigen Geschichten Nnedi Okoafors immer ein wenig ambivalent ist, verfügt sie über das Talent, dreidimensionale und vor allem auch überzeugende Lebewesen zu erschaffen, deren Handlungen immer einem überzeugenden Reifeprozess unterliegen. Dabei legt die aus Afrika stammende Autorin auch wert, dass sich die tragische menschliche Geschichte in ihren Storys wiederspiegelt. Ohne zu belehren, ohne gängeln beschreibt sie die Fehler der Vergangenheit, die sich in der Zukunft nicht wiederholen sollten.

Nika Murphys „A Guide to Matchmaking on Station 9“ ist eine lustige Geschichte um einen Matchmaker, die es aufgrund ihres doppelten Hintergrunds – bisexuell und jüdisch – nicht immer leicht hat. Kurzweilig zu lesen und vor allem auch mit pointierten Dialogen. Auf dieser Basis zeigt Nika Murphys aber auch auf, das nicht alles nur eine belustigende Farce ist und das vor allem auch die Technik erdrückend sein kann.

Djunas „The People from the Dead Whale“ ist aus dem Koreanischen zufriedenstellend übersetzt worden.  Die Ausgansbasis der Geschichte ist eher klassisch. Eine lange verloren geglaubte menschliche Kolonie in einem ökologisch extremen Umfeld wird mit den „Walen“ im übertragenen Sinne konfrontiert, die sich in den extremen Wetterzonen bilden. Eine neue Krankheit bedroht die Wale und die Menschen wissen, dass wenn die Wale sterben, auch ihr Leben extrem gefährdet wird.  Djuna weigert sich aber, den Lesern eine Lösung zu präsentieren. Das wirkt auf den ersten Blick unbefriedigend und frustrierend. Aber mit diesem sehr offenen Ende unterstreicht der Autor auch, dass Eigeninitiative und vor allem auch Einfühlungsvermögen wichtiger ist als eine dominierende Technik. Djuna greift zufällig einige Gedanken aus Nika Murphys Geschichte auf und diskutiert sie aus dem Blickwinkel einer für westliche Leser immer noch eher unbekannten Kultur.

„Upgrade Day“ von RJ Taylor ist eine der kürzesten Geschichten dieser Sammlung. Sie spielt einige Jahre in der Zukunft, der Kapitalismus hat sich vor allem in den USA durchgesetzt und die Menschen verkaufen ihre Gehirne im Vorwege an die großen Konglomerate. Mit dem „Tod“ werden die Gehirne geborgen und in Roboterkörper verpflanzt. Die Details bleiben eher vage, aber RJ Taylor geht es auch eher um den sozialkritischen Effekt. Technische Details interessieren den Autor nicht, so dass eine provokante These auf eine eher stringente, aber nicht wirklich originelle Ausführung trifft.

D.A. Xiaolin Spires „The Queen of Calligraphic Susurrations“ ist eine Cyberpunk Geschichte. Nur haben sich die Insekten in das globale Netz eingeloggt. Erzähler ist eine Art Bienenwächter, der auf seinen inzwischen global agierenden Schwarm aufpassen muss. In ihrer Freizeit versucht sie sich als Hobbyautoren, aber mit bescheidenem Erfolg. Erst als die Bienen eine Verbindung zu künstlicher Intelligenz herstellen, werden sie erfolgreicher. Dabei hinterfragt der Autor die Grenze von technischen Fähigkeit im Vergleich zu den früheren Autoren, die stellenweise jedes Wort aus dem Kreuz geleiert haben und bis zu welchem Punkt noch von einer eigenständigen Arbeit gesprochen werden kann. Ein aktuelles, ein interessantes Thema, das nicht unbedingt bis zum Ende, aber inhaltlich sehr weit durchdiskutiert wird.   

„Axiom of Dreams“ von Arula Ratnakar ist die längste Geschichte dieser Sammlung. Sie spielt an zwei ausgesprochen unterschiedlichen Orten.  Auf der einen Seite in Boston, nur wenige Jahre in der Zukunft gelegen und auf der anderen Seite in einer exotischen Welt, deren Ort und weniger Zeit erst in der zweiten Hälfte der Geschichte offenbart wird. In Boston steht eine junge akademische Elite an einer entsprechend privilegierten Universität im Mittelpunkt der Handlung. Die Hochbegabten versuchen dem Druck, mittels exotischer Drogen zu entkommen.  Arula Ratnakar überfordert bei der Entwicklung dieses Teils der Geschichte förmlich ihre Leser, indem sie auf mathematische Begriffe und Formeln zurückgreift, die offen angesprochen und auch unnötig sind. Die Bewohner der zweiten Welt sind weniger exzentrisch oder überdreht, sie haben der Welt quasi entsagt. Wie die beiden Welten zusammenhängen, ist ein wichtiger Teil der Geschichte.

Über den längsten Titel verfügt R.L. Mezas „The Five Remembrances , According to STE- 319“.  Der Erzähler ist ein militärischer Android, der als Killerbot in einer nicht näher bezeichneten Zukunft einem Diktator dient. Der Hintergrund der Geschichte ist zeitlos, das Vorgehen von Diktatoren gegen die eigene Bevölkerung im Grunde immer gleich. Während der letzten Auseinandersetzung wird STE- 319 schwer beschädigt und beginnt durch Veränderungen in seiner Programmierung seine Mission und vor allem die Rechtmäßigkeit der ihm übermittelten Befehle zu hinterfragen. Auch wenn die moralischen Fragen wichtig sind und R.L. Meza deutlich macht, dass der Science Fiction Hintergrund der Geschichte keine Rolle spielt, ist dieses SF Szenario zu oft angewandt  worden, um in der hier präsentierten Konstellation wirklich originell und überzeugend zu erscheinen. Es fehlt der nächste Schritt, mit welchem der Autor neue originelle Ideen in diese besondere Konstellation einbringt, so dass seine Geschichte gut geschrieben, aber abschließend eher belehrend als wirklich inspirierend erscheint.

Für die letzte Kindle Ausgabe hat Herausgeber neben den angesprochenen starken Geschichten auch ein auffälliges, schönes Titelbild ausgewählt. Angesichts der thematischen Bandbreite und vor allem auch dem wirklich umfangreichen Autoren Stamm wäre es wichtig, wenn „Clarkesworld“ auch ohne die Abhängigkeit von Amazon weiter existiert und seinen Clarke Weg geht.